Hohe Politiker bemühten sich in den guten alten Zeiten eher um Diskretion, was ihr Privatleben betraf. Und wenn einer seine Türe doch öffnete, konnte es durchaus etwas steif wirken.
Die Wände sind trotz des anstehenden Fototermins leer geblieben, aber ein frisches Tischtuch oder überhaupt ein Tischtuch und ein leicht mickeriges Sträusschen mussten her. Es muss zu Beginn des Jahres 1960 gewesen sein, also vor einem ganzen halben Jahrhundert. Der Fotograf produzierte so etwas wie die erste Homestory der Welt oder mindestens der helvetischen Welt. Man ist beim Basler Bundesrat Hans Peter Tschudi zu Hause. Dieser ist wenige Wochen zuvor bei der erstmaligen Zusammensetzung des Gremiums der Landesväter nach der sogenannten «Zauberformel» als zweiter Sozialdemokrat in die Landesregierung gewählt worden.
Das souveräne Parlament hat den im Auftreten etwas blassen und biederen Basler Musterschüler dem etwas aufdringlichen und schillernden Schaffhauser Bringolf vorgezogen. Die dem ordentlichen Tschudi geltende Präferenz der Bundesversammlung sei darum erwähnt, weil der spröde Charme des neuen Landesvaters wiederum im spröden Interieur der Bundesratswohnung in eindrücklicher Weise zum Ausdruck kommt.
Das ist ein beinahe rührend gestelltes Bild und trotzdem ein wahres und echtes Bild. Das leise Lächeln der beiden zeigt: Die Abgebildeten sind sich bewusst, dass eine dritte Person im Raum ist – der beobachtende Fotograf.
Beinahe gleichwertig
Das Paar sitzt beinahe gleichwertig am gedeckten Tisch. Die dennoch offensichtliche Asymmetrie besteht darin, dass sie unter dem mächtigen Lampenschirm die Suppe schöpft und dafür sorgt, dass der «Ernährer» sich ernähren kann. Wer die Suppe gekocht hat, wissen wir nicht – sicher aber nicht er. Die Homestory hat eigentlich gar nicht dem frischgebackenen Magistraten gegolten, sondern dessen Frau, Irma Tschudi-Steiner, 1912–2003, Lehrerstochter aus dem Solothurnischen (was man dem Bild nicht ansieht), 1949 Promotion, 1951 Habilitation in Pharmazie, erste Frau im Lehrkörper der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, an der auch ihr Mann als Professor für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht tätig war. Als der Mann nach Bern zog, tat sie es ihm gleich und konnte fortan an der Universität Bern unterrichten. Im Moment des Fototermins verfügte Irma Tschudi (auch das sieht man ihr nicht an) noch nicht über das Stimm- und Wahlrecht.
Daten zu Irma Tschudi sind nicht leicht zu finden. Am schnellsten tauchen Angaben zu dem von ihr gestifteten Preis auf: Alle zwei Jahre kann dank ihrer Stiftung für die beste von einer Frau geschriebene pharmazeutische Dissertation ein Preis vergeben werden. Tätige Frauenförderung.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02/12/11