Basels wildeste Strasse

Mit der Verbannung der Autos in den frühen 1990er-Jahren begann sich die Steinenvorstadt radikal zu verändern. Nicht alle sind glücklich über die Entwicklungen auf Basels lebhaftester Shopping- und Ausgehmeile.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Mit der Verbannung der Autos in den frühen 1990er-Jahren begann sich die Steinenvorstadt radikal zu verändern. Nicht alle sind glücklich über die Entwicklungen auf Basels lebhaftester Shopping- und Ausgehmeile.

Hans-Peter Wessels bezeichnete die Steinenvorstadt in seinem Interview mit der TagesWoche als Modell für die Entwicklung einer Strasse, nachdem sie autofrei wurde. Das zeige das grosse Potenzial, das eine Verkehrsberuhigung in der Innenstadt haben kann.

Der Basler Baudirektor kennt die Steinenvorstadt aus den 1980er-­Jahren. Damals war die «Kinostrasse» noch nicht verkehrsfrei. Um 23 Uhr, nach dem Ende der letzten Film­vorführungen, wurden in der Steinen die Trottoirs hochgeklappt. Wer noch nicht nach Hause wollte, verirrte sich allenfalls noch in die «Alte Bayrische Bierhalle» an der Steinenvorstadt 1 – dort, wo bis vor Kurzem Mister Wong sein Domizil hatte. Sonst herrschte in der Strasse mitten in der Stadt tote Hose. Das ist heute anders. Doch die ­Entwicklung von Basels belebtester Shopping- und Ausgehmeile hat nicht alle zu Gewinnern gemacht, wie ein samstäglicher Besuch zeigt.

Ergün Incesu kennt die Steinen wie seinen Hosensack. Zehn Jahre lang arbeitete er als Türsteher an dieser Strasse. Doch er mag das Wort nicht. Es klinge arrogant. «Das sagt einer, der keine Erfahrung hat.» Incesu verbrachte hier lange Nächte im Sicherheitsdienst an den Türen der Clubs – und tagsüber als Operateur im Kino. «Das war meine Welt», sagt er und deutet aus einem vegetarischen Restaurant am Birsig-Parkplatz in Richtung Kinostrasse.

Ging um 8 Uhr zur Arbeit in der «Steinen» und verliess sie morgens um 4 Uhr: Ergün Incesu. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Incesu ging um acht Uhr morgens hier zur Arbeit und kam erst um vier Uhr nachts wieder heim. Auch seine Freizeit verbrachte er meistens in den Cafés der Strasse. Man spürt, dass er lange nicht mehr über diese Zeit ­gesprochen hat. Ständig fallen ihm neue Geschichten aus der Steinen ein.

Die Strasse habe sich über die Jahre hinweg immer wieder verändert. Früher kannte er die meisten Besitzer von Läden und Restaurants persönlich, doch nun hielten immer mehr grosse Firmenketten hier Einzug. «Die Kleinen konnten sich die hohen Mieten nicht leisten und gleichzeitig die Qualität aufrechterhalten.» Folglich schoben die Besitzer Überstunden und wälzten die Mietkosten auf die Angestellten ab, deren Löhne sanken. Ein internationaler Konzern dagegen könne 2000 Franken mehr Miete für 60 Quadratmeter Ladenfläche verkraften.

Während des Gesprächs kommen immer wieder Freunde zu Incesu und schütteln ihm die Hand. Viele arbeiten heute noch hier. «Früher war die Steinen lebendiger», sagt er und zählt die verschwundenen Clubs auf: «Fifty Fifty», «La Luna» und «Prinz». «All diese Orte liefen Anfang des Jahrtausends noch gut, dann verschwanden sie.» ­Incesus Blick fällt auf den Birsig-Parkplatz. In einem hiesigen Lokal hat er mit 17 Jahren angefangen, an der Türe zu arbeiten.

Unter dem Parkplatz plätschert währenddessen ein Stück Basler Geschichte. Der Birsig floss einst von der Heuwaage her quer durch die ganze Innenstadt und diente der Bevölkerung im Mittelalter als Entsorgungsbecken. Neben Fäkalien wurden hier auch Tierkadaver entsorgt und machten den Fluss zur stinkenden Kloake voller Krankheitserreger. Die Steine am Ufer des Baches gaben dem Quartier seinen Namen und führten schliesslich auch zur Redewendung «in der Steinen».

In verschiedenen Etappen seit dem 13. Jahrhundert wurde der Birsig überdohlt, ausgehend von seiner Mündung in den Rhein an der Schifflände in Richtung Heuwaage. Der letzte Teil folgte Ende der 1940er-Jahre auf dem Birsigparkplatz.




Früher eine Kloake, heute hippe Ausgeh- und Shoppingmeile. (Bild: Alexander Preobrajenski)

An die Kloake und die Hochwasser von damals erinnert jetzt nichts mehr. Am nördlichen Ende des Parkplatzes landen an den Wochenenden die letzten Gestrandeten des Nachtlebens. Ab drei Uhr morgens kann im «Saxofönli» bis weit nach Sonnenaufgang getanzt werden. Das endet nicht immer friedlich: Im vergangenen Jahr gab es hier eine üble Schlägerei – ein Gast, der Türsteher und ein Polizist mussten ins Spital gebracht werden.

In der Tieflohnzone

An diesem Samstagnachmittag im ­Februar scheint die Steinenvorstadt eine heile Welt zu sein. Ein junges Paar schiebt einen Kinderwagen Richtung Barfi, eine Gruppe von Teenie-Mädchen diskutiert kichernd im Vorbei­gehen, und in den Strassencafés genies­sen zwei herausgeputzte junge Männer die letzten Sonnenstrahlen.

Doch der Schein trügt. Hinter der gemütlichen Fassade tobt der Arbeitskampf, erzählen Franziska Stier und Eva Südbeck-Baur von der Gewerkschaft Unia Nordwestschweiz. Auf einem Spaziergang durch die Steinenvorstadt zählen sie die Löhne der Angestellten in den Kleiderläden auf: Kaum einer liegt über 4000 Franken. Doch die tiefen Löhne seien nur eine der Belastungen im Detailhandel. «Die Angestellten leiden unter unzusammenhängenden und unregelmässigen Arbeitszeiten», sagt Südbeck-Baur. Menschen, die zu Stundenlöhnen ­angestellt sind, würden als Puffer für Ausfälle und Flauten eingesetzt.

Die Unia-Aktivistin Franziska Stier kämpft gegen Tieflöhne und überlange Arbeitszeiten. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Die Leidtragenden sind zu zwei Dritteln Frauen. «Das klappt nur, wenn man in einer Beziehung lebt und auch der Partner Geld nach Hause bringt.» Zudem seien die Ladenöffnungszeiten in den letzten Jahren immer mehr ausgeweitet worden. Im Burger King in der Steinen etwa kann sich das Partyvolk an Donnerstagen bis ein Uhr nachts mit Fastfood eindecken. Am Wochenende bis drei Uhr. Viele Arbeitgeber ­würden Leute bei Bedarf einstellen und sie wieder entlassen, wenn sie nicht mehr ­gebraucht würden. Das habe auch ­damit zu tun, dass der Detailhandel fast ausnahmslos eine gewerkschaftsfreie Zone sei.

Auf unserem Spaziergang kommen wir am ehemaligen Cindy’s Diner vorbei. Jetzt ist dort ein Café und Restaurant mit italienischem Essen einquartiert. Franziska Stier bleibt stehen und will nicht mehr aufhören zu erzählen: «Vor drei Jahren haben wir hier gestreikt.» Die Angestellten hätten aus der Zeitung erfahren, dass der Mutterkonzern Mövenpick die Filiale in der Steinen schliessen wolle. Plötzlich standen sie vor dem Nichts. «Statt zur Arbeit gingen fast alle Angestellten auf die Strasse.» Sie standen vor den Türen des Restaurants und machten die Kunden auf die fristlosen Kündigungen aufmerksam. Danach wollte keiner mehr hinein. Nach zwei Stunden kam die Polizei mit der Staatsanwaltschaft im Rücken, es kam zu Verhandlungen mit den Arbeit­gebern. Ein Sozialplan wurde ausge­arbeitet und der Nachfolger Sam’s Pizza übernahm schliesslich die Mehrheit der Angestellten.

Klamotten soweit das Auge reicht. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Ein paar Häuser weiter in einem hässlichen Bürogebäude mit einer rostbraunen Fassade ist eine Spar-Filiale. Hier standen die beiden Gewerkschafterinnen im letzten Jahr immer wieder vor der Tür und forderten Unterstützung für die Streikenden in ­einer Filiale im aargauischen Dättwil. Ausserdem machten sie die Kundschaft auf die Löhne zwischen 3600 und 3700 Franken aufmerksam. Heute noch seien diese unverändert tief.

Das soll sich mit der Mindestlohninitiative der Gewerkschaften ändern. Im Mai stimmen die Schweizer über einen branchenübergreifenden Mindestlohn von 4000 Franken ab. Eva Südbeck-Baur fasst das Dilemma der ­Verkäuferinnen und Verkäufer so ­zusammen: «Die meisten Angestellten in den Läden in der Steinen verkaufen gerne und setzen sich intensiv für ihre Läden ein, doch oft haben sie kaum Einfluss auf den Geschäftserfolg.» Trotzdem seien sie die Ersten, die es treffe, wenn es schlecht laufe.

Kokain vom Fenstersims

In der oberen Hälfte der Steinen verebbt kurz nach 16 Uhr der Strom der Fussgängerinnen und Fussgänger. Mit Blick auf das Heuwaage-Viadukt endet hier die Einkaufsmeile. Vor einem Monat räumte die Metro Boutique ihre Filiale im Kino Eldorado, übrig blieben nur die Restaurants. Das bemängelt auch Mathias F. Böhm, der Geschäftsführer von Pro Innerstadt Basel: «Ein paar Geschäfte würden der Steinen hier guttun.» Trotzdem hält er den Angebots-Mix in der Steinen für den besten der Stadt: «In den 1980er-Jahren gab es in der Steinen fast nur Läden, dann wurde sie zur Ausgangsmeile, und in den letzten zehn Jahren hat sich die Strasse zwischen den beiden Nutzungen eingependelt.»

Kinos, Strassenbeizen, Läden aller Art – und auch spät abends flanierende Menschen, soweit das Auge reicht: An der Steinenvorstadt scheint der Mix zu stimmen, seit die Strasse autofrei ist. Für die Polizei ist die Steinen andererseits zum «Brennpunkt» geworden. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Böhm widerspricht der Behauptung, in der Steinen gebe es zu viele Wechsel. Das sei ein natürlicher Prozess mit sehr unterschiedlichen Gründen – nicht nur den ­hohen Mieten. Ausserdem erhofft er sich mit dem neuen Verkehrskonzept, das gewerbefreundlich umgesetzt werden soll, neuen Schub für die Steinenvorstadt. Bereits jetzt liegt der grosse Vorteil der «Kinostrasse» in den Strassencafés. Denn: «Wenn man sich wohlfühlen will, muss man sitzen können.» Möglich ist das seit Anfang der 1990er-Jahre, damals wurde die Steinen autofrei.

Wohl scheint sich auch ein Pärchen zu fühlen, das gerade aus einem Wohnhaus im zur Steinen parallelen Steinenbachgässlein kommt. Für drei Zimmer und 80 Quadratmeter Fläche bezahlen sie 1500 Franken. Laut sei es vor allem an der Fasnacht in der Steinen, erzählen sie. Am Sonntag könne man die «Kotzeflecken» im Hinter-gäs­s­­lein zählen, und das Kokain würden sich die Leute manchmal vom Fenstersims in die Nase ziehen. Doch Probleme, hier zu wohnen, hätten sie nicht. «Unser Schlafzimmer geht sowieso nicht auf die Steinen hinaus.»

Kurz darauf kommt uns eine Polizeistreife entgegen. Heute bleibe es ­ruhig. Im Sommer gebe es mehr Grund für eine Reportage, meinen sie. Die beiden Polizistinnen und der Polizist gehören zur zweiten Gruppe des «Einsatzelements Brennpunkt», das die Kantonspolizei im Mai letzten Jahres ins Leben rief. Damit will man die Sicherheitslage an den «Brennpunkten» vor allem am Abend und in der Nacht mit mehr sichtbaren Polizisten verbessern. Dazu gehören neben der Steinen auch die parallel verlaufende Steinentorstrasse, die Heuwaage, der Theaterplatz und der Barfi. Im vergangenen Sommer nahm die Polizei fast 60 Menschen fest und leistete über 1200 Stunden Fuss­patrouillen-Dienst. Im Durchschnitt war damit fast die Hälfte der Zeit eine Fusspatrouille der Polizei in diesem Gebiet unterwegs. Die teilweise parallel verlaufenden Fahrzeugpatrouillen von über 1000 Stunden sind dabei noch nicht mitgerechnet.

Totaler «Brennpunkt»

Doch das war erst der Anfang: Bereits im Dezember des letzten Jahres nahm eine weitere 14-köpfige Gruppe ihre Arbeit auf. Damit haben sich die ­geleisteten Stundenzahlen verdoppelt. Im Frühling 2015 folgt eine dritte. Die Stundenzahl erhöht sich wiederum. Die Steinenvorstadt erscheint dann wie eine innerstädtische Hochsicherheitszone. Die Polizei habe mit dem Vorgehen durchwegs positive Erfahrungen gesammelt, heisst es von der Medienstelle. Während andere Schweizer Städte wie etwa Genf oder St. Gallen ganze Quartiere rund um die Uhr per Video überwachen lassen, setzt man in Basel auf Polizeiarbeit zur Kriminalprävention. Eine entsprechende Vorlage zur Videoüber­wachung fiel vor drei Jahren im ­Grossen Rat durch.

Sehen und gesehen werden: Die Steinen ist auch ein Laufsteg.

Die Temperatur an diesem Februar­abend in der Steinenvorstadt ist fast frühlingshaft. Auch wenn ­eigentlich tiefster Winter sein sollte, sitzen noch immer Leute auf den Gartenstühlen und rauchen Zigaretten. Drinnen füllen sich einige Restaurants mit hungrigen Gästen und sind bald bis auf den letzten Platz besetzt.Andere bleiben fast völlig leer. Die Steinenvorstadt ist für Beizer offenkundig ein hartes Pflaster. Das weiss auch Maurus Ebneter vom Wirteverband Basel-Stadt.

Auch Lokale an ­Toplagen hätten in der Steinen nicht automatisch Erfolg. Am meisten zu schaffen machen den Beizern die ­hohen Mieten: «Diese orientieren sich an der Blütezeit ums Millennium.» Damals seien die hohen Mieten durch die Laufkundschaft gerechtfertigt ­gewesen. Die Frequenzen seien heute nicht mehr so hoch wie damals.

Bald spült es die ersten Partygänger vom Barfi in die Steinen. Man erkennt sie an den gestylten Gel-Frisuren und dem reichlich aufgetragenen Make-up um die Augen. Sie werden die nächsten Stunden das Gesicht der Steinenvorstadt prägen. Dieser Strasse, die ihr Gesicht zweimal am Tag wechselt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 21.02.14

Nächster Artikel