Beflügelt vom weiblichen Klassengeist

Basel feiert 200 Jahre höhere Mädchenbildung im Leonhard. Mit dem Zugang zur Schule erhielten die Frauen auch neue berufliche Perspektiven. Drei ehemalige Gymnasiastinnen erzählen, was ihnen die Schulzeit gebracht hat und welchen Weg sie danach gegangen sind. Und eine der aktuellen Schülerinnen sagt, welchen sie vielleicht einschlagen möchte.

Die Maturklasse 1952 in Rom. (Bild: zVg)

Basel feiert 200 Jahre höhere Mädchenbildung im Leonhard. Mit dem Zugang zur Schule erhielten die Frauen auch neue berufliche Perspektiven. Drei ehemalige Gymnasiastinnen erzählen, was ihnen die Schulzeit gebracht hat und welchen Weg sie danach gegangen sind. Und eine der aktuellen Schülerinnen sagt, welchen sie vielleicht einschlagen möchte.

Marcelle Käslin, 101, Matura 1930

Sie wollte eigentlich Lehrerin werden. Die Wirtschaftskrise zwang sie, einen anderen Weg einzuschlagen: Sie wurde Sekretärin.

Marcelle Käslin, 101, wurde Sekretärin.

(Bild: Basile Bornand)

Mein Papa, er war Beamter bei den SBB und hat das Auskunftsbüro aufgebaut, sagte uns Kindern immer: ­‹Bildung kann dir niemand nehmen.› Das galt für meinen Bruder ebenso wie für mich und meine jüngere Schwester.

So habe ich nach der Primarschule im Gotthelf die Aufnahmeprüfung in die Töchterschule gemacht und bestanden. Wir waren etwa 30 Schülerinnen in der Klasse, aus allen Schichten, auch aus Arbeiterkreisen. Es war eine wunderbare Zeit, wir hatten einen ­kolossalen Klassengeist. Es galt: eine für alle, alle für eine.

Ich besuchte die Realabteilung, wegen der modernen Sprachen. Hinterher habe ich mich geärgert, dass ich nicht Latein gewählt habe. Es fuchst mich bis heute, Latein ist doch die Grundlage so vieler Sprachen. Und ich mag Sprachen sehr, ich selbst bin bilingue aufgewachsen, meine Mama war eine Welsche. Aber ich hatte Angst vor dem Verbenbüffeln.

Na ja, es ist, wie es ist. Ich wollte Lehrerin werden. Aber – es war kurz vor der Matura – da kam die akademische Berufsberaterin in die Klasse und sagte: Diejenigen, die Lehrerin werden wollen, sollten diese Idee aufgeben. Es gebe genug Lehrerinnen, die vorhandenen Stellen seien für die nächsten zehn Jahre ausgebucht.

Es war die Zeit der Depression, es gab viele Arbeitslose, auch unter den Akademikern. Ich bin dann nach England gefahren und habe dort in einer privaten Handelsschule Schreibmaschine und Stenografie gelernt. Zurück in Basel habe ich die erstbeste Stelle angenommen, die mir angeboten wurde: als Sekretärin in einem ­grossen Chemieunternehmen für 60 Franken Monatslohn. Dort bin ich viele Jahre geblieben und stetig aufgestiegen bis zur Direktionssekretärin.

Mit 48 wechselte ich ins Sekretariat der Mädchensekundarschule und arbeitete dort bis zu meiner Pensionierung. Diese Stelle – der Schulbetrieb, der Kontakt mit den Menschen – hat mir grosse Freude gemacht. Geheiratet habe ich nicht, es ist immer irgendwie bachab gegangen mit den Männern. Aber das macht nichts, ich hatte ein spannendes Leben, bin viel in der Welt herumgekommen.»

Katia Guth-Dreyfus, 87, Matura 1945

Sie studierte Kunst­geschichte und leitete 42 Jahre lang das Jüdische Museum Basel, das sie auch mitgegründet hat.

Katia Guth-Dreyfus, 87, studierte Kunstgeschichte.

(Bild: Basile Bornand)

«Ich ging ins Leonhard von 1937 bis 1945, also während des Zweiten Weltkriegs. Ich erinnere mich noch gut an den Tag der ersten Mobilmachung: Wir bekamen schulfrei, in der Turnhalle wurden Massenlager für die Soldaten eingerichtet, und viele Lehrer mussten in den Dienst einrücken. Es war zu Beginn alles ziemlich chaotisch. Bei der zweiten Mobilmachung 1940 lief es dann schon etwas geordneter ab. Insgesamt aber war der Schulbetrieb nicht so sehr vom Krieg tangiert. Auch als Jüdin erlebte ich keine Diskriminierung, die Schweiz hielt sich ja streng an die Neutralitätserklärung. Rückblickend sieht bekanntlich vieles anders aus.

Ich ging sehr gern zur Schule, schon als Kind stand für mich fest, dass ich studieren würde. In meinem Elternhaus hatte Bildung eine grosse Bedeutung, weder mein Vater – er war Banquier – noch meine Mutter unterschieden dabei zwischen Buben und Mädchen. Meine Mutter, die aus Russland stammte und selbst ein paar Jahre an der Uni war, konnte solche Vorbehalte schon gar nicht begreifen.

Nach der Matur ging ich direkt an die Uni. Ich habe Kunstgeschichte studiert. Ein paar Monate bevor ich mit meiner Dissertation abschloss, heiratete ich. Mein Professor gratulierte mir zur Hochzeit und verabschiedete mich gleichzeitig. Wie er darauf komme, fragte ich, dass ich nicht abschliesse. Ich würde doch heiraten, sagte er. Ja und erst noch nach Zürich, entgegnete ich ihm. Aber ich wolle trotzdem meinen Doktor machen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Ich kam dann mit ihm überein, dass ich einmal pro Woche das Seminar in Basel ­besuchte. Im Februar habe ich geheiratet, im Juli darauf machte ich mein Doktorexamen.

Ein Jahr nach der Hochzeit zügelten mein Mann und ich wieder nach Basel, er trat die Stelle als Kantonsarchivar an, später erhielt er eine Professur an der Uni. Ich wurde Hausfrau, und zwar gar nicht so ungern. Vom ersten Schultag bis zum Doktorexamen hatte ich immer hart gearbeitet, sodass ich es ganz schön fand, zu Hause zu bleiben und ­unsere drei Kinder aufzuziehen. Zwischendurch machte ich Führungen im Kunstmuseum. 1966, unsere Jüngste war acht Jahre alt, wurde ich angefragt, ob ich helfen würde, ein Jüdisches Museum zu gründen. Meine erste Reaktion war: Ach was, wir haben schon zwanzig Museen in Basel, da braucht es nicht noch eines. Doch ich überlegte es mir noch einmal und willigte schliesslich ein. 42 Jahre lang habe ich dann das Museum geleitet. Ehrenamtlich.»

Marianne Spring-Wahl, 68, Matura 1965

Sie liess sich zur Lehrerin und später zur Heilpädagogin ausbilden.

Marianne Spring-Wahl, 86, wurde Lehrerin.

(Bild: Basile Bornand)

«Ich war die Jüngste von vier Kindern und die Erste in unserer Familie, die ins Gym ging. 1957 bin ich ins Mädchengymnasium eingetreten, als Zwölfjährige. Meine älteren Geschwister hatten wie mein Vater eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Eigentlich war auch für mich eher dieser Bereich ­vorgesehen, aber ich wollte ins Gym, weiter zur Schule gehen. Meine Eltern waren nicht dagegen, aber weil ich nicht wie viele meiner Mitschülerinnen aus einem akademischen Umfeld kam, musste ich mir alles selber erarbeiten. Ich zählte denn auch nicht zu den besten Schülerinnen, aber es ging. In der ersten Klasse waren wir etwa

20 Schülerinnen, nach zwei Jahren wählte man ja den Typus, danach ­waren wir weniger. Ich hatte mich für Typus B mit Latein entschieden. An den Lehrerinnenstreik 1959 erinnere ich mich gut: In der Schule herrschte eine spannungsgeladene Atmosphäre. Unsere ehrwürdigen, hochgescheiten Lehrerinnen waren aktive Frauenrechtlerinnen! Diejenigen, vor denen wir einen Heidenrespekt, teilweise auch Angst hatten. Wir erhielten schulfrei.

Nach der Matur zog ich nach Zürich, ich folgte meinem Freund, den ich schon während der Schulzeit kennengelernt hatte. Eigentlich wollte ich an der Zürcher Uni Psychologie studieren, aber mein Vater fand, das sei ein gar brotloser Beruf. So besuchte ich das Lehrerseminar in Zürich und wurde Lehrerin. Mit 21 heiratete ich meinen Freund. Bevor unser erstes Kind sechs Jahre später zur Welt kam, ­zogen wir aber wieder nach Basel ­zurück. Wir haben zwei Kinder. Da ich Zusatzausbildungen gemacht hatte, konnte ich auch als Mutter weiterarbeiten. In den ersten Jahren unterrichtete ich stundenweise im Musikgrundkurs, später machte ich die Ausbildung zur Heilpädagogin. Als solche arbeitete ich bis zur Pensionierung.

Ja, auch wenn das Gymnasium für mich zuweilen ein ziemlicher Krampf war, habe ich nie bereut, es absolviert zu haben. Und ich war froh, dass es eine reine Mädchenschule war. Es gab einem einen gewissen Schutz. Wir hatten es gut miteinander, es sind auch bleibende Freundschaften entstanden. Besonders geschätzt habe ich die vielen Lager, fast jedes Jahr waren wir in einem Skilager. Das waren immer sehr schöne Erlebnisse.»

Nives Müller, 16, Gymnasiastin

Sie macht voraussichtlich in drei Jahren die Matur. Wie es danach weiter­geht, steht noch nicht fest.

Nives Müller 16, hat die Matura noch vor sich.

(Bild: Basile Bornand)

«Ich bin nun das dritte Jahr im Gym Leonhard, mit Schwerpunkt bildnerisches Gestalten. Es gefällt mir. Klar stinkt es einem manchmal, zur Schule zu gehen, und freut man sich über Ferien, das ist normal. Aber ich mach das ja freiwillig, niemand zwingt mich dazu. Meine Eltern – sie sind selber keine Akademiker – finden es einfach gut, wenn man die bestmögliche Ausbildung macht. Aber es wäre überhaupt kein Problem gewesen, wenn ich mich für eine Berufslehre entschieden hätte. Als ich ins Gym eintrat, hatte ich noch überhaupt keine Pläne für danach, ich wollte nur weiter zur Schule gehen. Jetzt könnte ich mir vorstellen, Landschaftsarchitektin zu werden. Oder auch etwas anderes im gestalterischen Bereich. Aber ich habe ja noch drei Jahre vor mir …

Früher war das Leonhard eine reine Mädchenschule. Aber wir sind mit achtzehn Mädchen und nur vier Buben in der Klasse auch fast eine Mädchenklasse, generell hat es hier mehr Mädchen. Mir war schon klar, dass die Frauen in der Bildung lange benachteiligt waren – sie mussten ja auch lange auf das Stimmrecht warten. Aber wie extrem die Unterschiede waren, ist mir erst so richtig bewusst geworden durch die Geschichte der 200 Jahre Mädchenbildung, die wir natürlich in der Schule thematisiert haben. Dass man die Mädchen einst vor allem in Haushaltdingen schulte und alles andere für sie nebensächlich fand, das war schon krass. So etwas kann man sich kaum vorstellen.»

Zum 200-Jahr-Jubiläum gibts im ­Schulhaus Leonhard eine Ausstellung. Sie läuft noch bis 20. Dezember 2013.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 06.09.13

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