Wer es heute zu etwas bringen will, muss Leistung bringen. Opfer dieser Wettbewerbslogik sind auch die körperlich oder geistig Handicapierten, die sich an Sportevents wie den Paralympics messen. Wenn sich die Schwachen nur noch durch Wettbewerb «sichtbar» machen können, läuft einiges dramatisch falsch in unserer Gesellschaft.
Die Geschichte von Muhammad Ali ist eine Chronik der Selbstzerstörung. Aus einem Minderwertigkeitskomplex wählte der als Cassius Clay geborene Ali die brutalste Art und Weise, sich aus Armut und Demütigung zu retten: Er machte er sich zum «Grössten» der Boxgeschichte.
Wenn Ali heute an Eröffnungen, Promotionen oder ähnliche Anlässe geführt wird, ist es grotesk, den ehemaligen Champion mit erstarrtem Blick und verkrampften Muskeln zu sehen. Der «Grösste» kann sich kaum auf den Beinen halten. Es ist an Zynismus kaum zu überbieten, dass jemand für etwas Werbung betreibt, das aus ihm einen Invaliden gemacht hat. Dass er Aufmerksamkeit generiert und damit die Legitimation schafft für eine Ordnung der Dinge in der Gesellschaft, die ihn auf den Weg führte, der ihn zerstörte. Den einzigen, den er angesichts seiner Herkunft hatte.
Trauer verengt unsere Einstellung gegenüber Behinderungen
Nicht weniger bizarr ist es, Stephan Hawking an den Paralympischen Spielen zu sehen. Eine Ikone der populären Wissenschaft, die ebenso missbraucht wird, den Wettbewerb als einzige authentische Form des Ausdrucks der Menschheit zu bestätigen. Hawking ist dabei nur das Pendant zu anderen berühmten Briten und Bürgern des Commonwealth, die sich an der beispiellosen Werbekampagne für die Olympischen Spiele 2012 in London beteiligt hatten.
Weitere Texte von Ivan Ergić finden Sie in seinem Dossier.
Der Beitrag ergänzt einen Themenkomplex in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 5. Juli 2013 zum Behindertensport («Passion kennt kein Handicap»). Ausserdem werden drei Sportler aus der Region portraitiert:
- «Das Angebot erfunden» – der Rollstuhl-Tenisspieler Nico Keller.
- «Stark genug, um anders zu sein» – Paul Voegtlin, das Down-Syndrom und die Liebe zum klassischen Ballett.
- «Einfach Fussball» – Silvio Fumagalli und das Dream Team der Old Boys.
Aber warum ist das schlimm? Die Trauer über den Anblick eines Ali oder Hawking verengt unsere Einstellung gegenüber Behinderung und verhindert, dass wir uns rational an die Realität annähern.
In unserer Gesellschaft ist das Selbstwertgefühl direkt an die Parameter des Erfolgs gebunden. Wobei der Erfolg beherrscht und bestimmt wird von Leistungen, Ergebnissen und dem daraus resultierenden Aufstieg – sei dieser hierarchisch im Job oder sozial in der Gesellschaft. Für viele Behinderte bedeutet ein Platz auf dem Podest daher womöglich, dass sie sich zum ersten Mal überhaupt als ein würdiges Mitglied der Gesellschaft fühlen.
Ein Platz auf dem Podest bedeutet aber nicht nur für Behinderte die Anerkennung durch die Gesellschaft, sondern auch für jene, die sozial deklassiert sind – und darin gleichen sie sich. Es gibt keinen Unterschied zwischen denen, die körperlich oder geistig behindert sind und jenen, die alleine schon durch ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse oder durch ihre Herkunft behindert sind – Kraft ihrer Geburt.
Die Essenz dieser Erkenntnis zeigt sich auch in einer interessanten Analogie. In Umfragen zu ihren Motiven für den Eintritt in die Armee schreibt die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Soldaten regelmässig: «Ich will etwas tun, worauf ich stolz sein kann.» Es ist ein banales Beispiel, aber nützlich für die Diagnose, woran unsere moderne Gesellschaft krankt: an der fehlenden Menge «Würde pro Kopf».
Das Beispiel ist dabei universell, weil es für alle Gesellschaften mit Ungleichheiten gilt, in der körperliche Anstrengungen und Leistungen dominieren und Diskriminierte nur durch Militär, Sport oder andere Institutionen und Aktivitäten ein gewisses Mass an Würde und Respekt erreichen können. Positionen, in denen Wissen, Intellekt und komplexe Fähigkeiten gefragt sind, bleiben für viele – unabhängig ob behindert oder nicht – schon aufgrund der ungleichen Verteilung von Bildung, Möglichkeiten und geringerem kulturellen Kapital unerreichbar.
Bestätigung für die sozialen Verhältnisse
Ein ebenso interessantes Beispiel waren die Auftritte von Tammy Duckworth an den Versammlungen der Demokraten während der Präsidentenschaftswahlen in den USA. Die Politikerin aus Illinios verlor im Irak-Krieg beide Beine und gilt als die grösste weibliche Ikone der US-Armee. In ihren Auftritten sprach sie regelmässig von der Solidarität der Amerikaner, die sie im Krieg gesehen habe. Sie forderte während ihrer Reden auf den stärkeren Einbezug der Frauen in der Armee, denn sie seien – wie sie sagte – genau so fähig wie Männer.
Duckworth liess dabei jegliche Kritik am Krieg vermissen und nicht nur das: Sie schaffte es, den Krieg zu verherrlichen und rhetorisch Menschen mit Behinderungen und Frauen an die gleiche ideologische Front zu führen. Es ist ein weiteres Beispiel für die herrschenden sozialen Verhältnisse, die durch Leute wie Ali, Hawking und auch Duckworth bestätigt, legitimiert und diktiert werden.
Man könnte meinen, dass die Paralympischen Spiele als Plattform dienen müssten für eine ehrliche Betrachtung der Situation von Menschen mit Behinderungen. In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass wie bei den «echten» Olympischen Spielen der Fokus auf Medaillen und Rekorden liegt. Die Befürworter der Paralympischen Spiele argumentieren, dass sie wichtig seien für die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen, die möglicherweise sonst ausgegrenzt und diskriminiert würden. Sie würden Menschen mit Behinderung als Teil unserer Gesellschaft zeigen. Die Spiele haben aber den gegenteiligen Effekt.
Ihre Bedürfnisse sind allerdings nicht Ergebnisse, sondern Liebe, menschliche Nähe, Kreativität und Arbeit.
Die Geschichte der Aufnahme in die Gesellschaft wird eine Geschichte über die Aufnahme von Behinderten in die herrschende Ordnung und deren Bewertung auf der Grundlage der erzielten Ergebnisse. Ihre spezifischen Bedürfnisse – wie auch die Bedürfnisse von körperlich und geistig Gesunden – sind allerdings nicht Ergebnisse, sondern Liebe, menschliche Nähe, Kreativität und Arbeit. Bedürfnisse, die ihre Individualität und Menschlichkeit bestätigen, und sie zu vollständigen menschlichen Wesen machen – unabhängig davon, ob sie keine Arme, Beine oder einen anderen körperlichen Defekt haben, und dessen, wie schnell sie trotzdem laufen, hoch springen oder sonst etwas tun können. Körperlichkeit und die Entwicklung körperlicher Fähigkeiten erhält andernfalls etwas Militantes.
Ein Körper soll kultiviert werden, aber der Gesundheit wegen. Alles was darüber hinaus geht, ist Missbrauch und Ausbeutung, die momentanen Bedürfnissen dient: des Kapitals, des Marktes oder der Politik. Wenn es also etwas Bizarreres gibt als die Manipulation des Körpers für den Wettbewerb und den Kampf um Ergebnisse bei so genannten «gesunden» und trainierten Athleten, dann ist es die Unterwerfung eines behinderten Körpers unter das Regime von Disziplin und die Vorbereitung für den Kampf. Menschen mit körperlichen Behinderungen einem Wettkampf auszusetzen, der geprägt ist von Körperlichkeit, ist eine Art Perversion. Den Ansprüchen des modernen Wettkampfs zu genügen, bedeutet heute, den Körper allmählich zu zerstören. Der Wettkampf schafft nur mehr Behinderte oder behindert Betroffene noch mehr.
Ändern muss sich die Gesellschaft
Die Situation von Behinderten sollte nicht romantisiert werden, wie es der Philosoph Michel Foucault oder die Anti-Psychiatrie-Bewegung machten, noch sollten wir sie bedauern. Wir sollten sie schlicht in unsere Gesellschaft integrieren – ihren Fähigkeiten entsprechend, die aus ihnen individuelle Persönlichkeiten machen. Wir müssen Behinderte nicht zu Konkurrenten machen, sie antreiben, aus sich etwas zu machen, das sie nicht sind. Wir sollten sie auf keine Art und Weise ändern. Wir sollten die Gesellschaft ändern.
Eine Gesellschaft, die Menschen wegen eines Handicaps ausgrenzt und abstösst oder als Last sieht, ist viel behinderter als die Betroffenen selbst. Es braucht nicht viel, um sich dessen gewahr zu werden, ein Fussgängerstreifen reicht: Die Ungeduld und Intoleranz unserer Gesellschaft ist bereits sichtbar, wenn eine alte Frau, ein Rollstuhlfahrer oder eine Blinde die Strasse überqueren. Folglich ist eine Gemeinschaft, in der Alte, Behinderte oder auch Schwache – seien dies nun Kinder oder sozial Schwache – isoliert oder so unsichtbar sind, dass sie nur durch einen Wettkampf sichtbar gemacht werden können, im Grunde per Definition faschistisch. In unserer produktiven, wettbewerbsorientierten und darwinistischen Gesellschaft von heute werden sie zu nutzlosem Überschuss – ihr Leben zu einem «lebensunwerten Leben», wie dies die Nazis nannten.
Behinderte sind etikettiert als Last und werden vernachlässigt – in der Gesellschaft und in der Wirtschaft.
Erschwerend kommt hinzu, dass heute eine so sichtbare finanzielle Klassifizierung und eine Art Budget-Faschismus herrscht, wie eigentlich immer wenn im globalen Wettbewerb Länder systematisch verarmen. Betroffen sind gerade kleinere Staaten, die sonst schon an Verschuldung und Armut ertrinken. Gestrichen wird dann das Geld für die Schwächsten und am meisten Gefährdeten, welche sowieso fast nicht unterstützt werden.
Behinderte kosten ja sowieso schon, weil nur wenige von ihnen «nützlich» sind und Gewinn abwerfen, aber sie brauchen eine besondere medizinische Betreuung, spezielle Rampen, Parkplätze und das alles kostet, ist eine Belastung für Staat, Sozialwesen und Gesundheitsystem. Sie sind etikettiert als Last und werden vernachlässigt – auf der Ebene des gesellschaftlichen Lebens genauso wie in der wirtschaftlichen Logik des Staates und des Kapitalismus.
Am Ende bleibt eine grundlegende Frage
Die laufende Totalisierung unserer Gesellschaft ist wiederum am besten im Sport als sozialem Phänomen sichtbar. Behinderte integrieren sich mit dem Sport und durch den Sport in die alles durchdringende Logik der kapitalistischen Reproduktion und der fundamentalen Idee, dass ein Mensch nur etwas wert ist, wenn er in der Logik des Marktes erfolgreich ist und Leistung erbringt. Dies hat sich auch an den Olympischen Spielen in London gezeigt.
Zum ersten Mal nahmen 2012 auch Frauen aus arabischen Ländern teil. Obwohl sie mit bedecktem Körper und Kopftuch mit den anderen um die Wette rannten, einen grundlegend anderen kulturellen Code haben und andernorts gerade deshalb diskriminiert werden, waren sie in London ein Teil des Ganzen, aufgenommen ins herrschende Wertesystem. Letztlich gilt also nur eines: Egal wie gross die kulturellen oder sonstigen Unterschiede an der Oberfläche sein mögen, bringe Leistung und du gehörst dazu.
Paradoxerweise nehmen Menschen mit Behinderung den Sozialdarwinisimus durch den Sport an.
Paradoxerweise nehmen Menschen mit Behinderung den Sozialdarwinisimus durch den Sport an. Sie bestätigen das System, das sie zu isolierten und aussätzigen Individuen macht. Etwas anderes bleibt ihnen aber auch nicht übrig. Die Kräfte des herrschenden Systems sind einfach zu gross. Hinzu kommt, dass ihre bereits übergrosse ideologische Macht selbst durch – wie wir bei Ali gesehen haben – Opfer dieser Logik unterstützt wird.
Am Ende bleibt deshalb die grundlegende Frage: Ist unsere Gesellschaft behindert oder sind es die Menschen mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen, die nicht ohne herausragende Leistungen – welcher Art auch immer – würdige Mitglieder der gleichen Gesellschaft sein können.
(Übersetzt aus dem Serbischen von Amir Mustedanagić.)