Behörden rechnen Gefahren eines AKW-Unfalls klein

Nach der Katastrophe in Fukushima machte sich das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat auch in der Schweiz Sorgen – etwa wegen des Trinkwassers. Nun gibt die Behörde Entwarnung. Diese basiert allerdings auf falschen Annahmen, speziell was die Region Basel anbelangt.

Was, wenn nach einem AKW-Unfall in Beznau, Gösgen, Leibstadt oder Mühleberg Aare und Rhein verseucht würden? (Bild: Nils Fisch)

Nach der Katastrophe in Fukushima machten sich die Behörden auch in der Schweiz Sorgen – etwa wegen des Trinkwassers. Nun geben sie Entwarnung. Diese basiert allerdings auf falschen Annahmen, speziell was die Region Basel anbelangt.

Welche Folgen hat ein schweres Unglück in einem Atomkraftwerk? Was passiert mit dem Wasser, das aus einer AKW-Ruine austreten kann?

Während Jahrzehnten haben sich die Behörden dieses Horrorszenario lieber nicht vorgestellt. Dann kam der 11. März 2011, der Tag, an dem in Fukushima das Undenkbare plötzlich Realität wurde. Der GAU, Kernschmelze in Block 1 bis 3, grosse Mengen von Radioaktivität, die austreten und Luft, Boden und Wasser verseuchen.

Seither kommen die Behörden nicht mehr um die quälenden Fragen herum, bei uns in der Schweiz ebenso wenig wie in Japan. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) klärte ab, welche Folgen eine Atom-Katastrophe in der Schweiz tatsächlich haben könnte – und welche Verbesserungen im Bereich des Notfallschutzes nötig sind.

Der neuste Bericht befasst sich mit dem Thema der «Radiologischen Schadstoffausbreitung in Fliessgewässern». Sprich: mit der radioaktiven Verseuchung von Rhein und Aare.

Eine ganze Reihe von Vorwürfen

Das Fazit des Berichts klingt beruhigend: Die «bestehenden Abläufe und Massnahmen des Notfallschutzes» seien «geeignet, um die Menschen und die Umwelt zu schützen», heisst es darin. Die Bevölkerung in der Region Basel zum Beispiel könne auch ohne Nachschub aus dem Rhein während 175 Tagen mit Trinkwasser versorgt werden.

Zu ganz anderen Schlüssen kommen dagegen die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU). Die Vereinigung wirft dem Ensi vor, von falschen Annahmen ausgegangen zu sein. Der «oberflächlich erarbeitete Bericht» zeige vor allem eines, ärgert sich AefU-Präsident Peter Kälin: «Dass das Ensi den Schutz der Bevölkerung auch nach dem Unfall in Fukushima noch immer nicht Ernst nimmt.»

Konkret erheben die Ärzte folgende Vorwürfe:

  • Das Ensi habe bei der Abschätzung der möglichen Folgen in der Schweiz nur die kontaminierte Wassermenge beachtet, die in Fukushima kurz nach dem Unglück ausgeströmt war. Dabei würden dort weiterhin hunderte Tonnen verseuchtes Wasser ins Meer fliessen.
  • Das Ensi habe ignoriert, dass das Rheinwasser in der Muttenzer Hard nicht nur zur Trinkwassergewinnung versickert werde. Mit einem Teil des Wassers wird der so genannte Grundwasserberg erzeugt, der die Trinkwasserbrunnen vom Gift abschirmt, das in der Umgebung in den Chemiemülldeponien von BASF, Novartis und Syngenta liegt. Ohne diesen Schutz wäre das Trinkwasser für rund 230 000 Menschen in der Region nach den vom Ensi ausgerufenen 175 wasserreichen Tagen längst «verschmutzt und wahrscheinlich sogar zerstört», schreiben die AefU in ihrer Mitteilung.
  • Das Ensi habe mit falschen Zahlen gerechnet und damit den Wasserbedarf der Region Basel falsch eingeschätzt. Die Trinkwasserwerke würden in der Muttenzer Hard und den Basler Langen Erlen täglich 145’000 Kubikmeter Rheinwasser abpumpen – und nicht wie vom Ensi behauptet 75’000 Kubikmeter. Darüber hinaus habe die Behörden übersehen, dass neben Basel auch die Gemeinde Muttenz an den Brunnen in der Hard hängt.

In der Kurzfassung heisst das: Im Ensi-Papier ist quasi alles falsch.

Für die Ärztinnen und Ärzte ist damit bewiesen, dass es nach einem schweren AKW-Unfall auch in der Schweiz keine Lösung gibt, um die Wasserversorgung für die Anlieger von Aare und Rhein aufrecht zu erhalten», wie Kälin sagt: «Die einzige Lösung ist das sofortige Abschalten zumindest der Uralt-Reaktoren in Mühleberg und Beznau.»

Das sagt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat
Das Ensi versucht die Kritik der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz zu widerlegen oder zumindest zu relativieren. Für die Überprüfung möglicher Auswirkungen eines AKW-Unfalls sei «ein Extremszenario» genommen worden, schreibt die Behörde auf Anfrage der TagesWoche. Die genaue Menge der möglichen Freisetzungen habe dabei nur einen «geringen Einfluss» auf die Planung der Vorsichtsmassnahmen.
Des Weiteren erklärt das Ensi das Fehlen von Muttenz damit, dass die Liste der betroffenen Kommunen nicht abschliessend gemeint sei.
Die umstrittene Zahl von 75’000 Kubikmeter pro Tag entnommenem Rheinwasser will das Ensi von den Industriellen Werken Basel (IWB) erhalten haben. IWB-Sprecher Erik Rummer bezeichnet diese Aussage auf Rückfrge der TagesWoche allerdings als Irrtum. Korrekt sei die Angabe der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz von 145 000 Kubikmeter abgepumpten Rheinwassers in der Muttenzer Hard und den Langen Erlen.
Gar nichts sagt das Ensi in seiner Stellungnahme zudem zum zentralen Problem der Wasserversorgung in der Muttenzer Hard: Ohne Schutz durch den Grundwasserberg gelangen die giftigen Substanzen, die in der Umgebung im Boden liegen, in die Trinkwasserbrunnen.
Aber wie sagt doch die Behörde? Für die «Anordnung und den Vollzug der Notfallschutzmassnahmen» sei ohnehin nicht sie zuständig, das sei Sache der Kantone. Und die hätten die – offenbar lückenhaften – Informationen des Ensi in der Vernehmlassung nicht bemängelt. Auch nicht unbedingt beruhigend.

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