Weihnachten ist für viele ein Fest der Liebe und der Geselligkeit. Doch wie und wo feiern Menschen, die ohne familiäre Bindungen durchs Leben gehen? Ein Streifzug durch Weihnachtsfeiern für Menschen, die sonst niemanden haben.
Zweit Stunden dekorieren für 280 Menschen: die Festtafel an der Weihnachtsfeier im Union.
(Bild: Alexander Preobrajenski)Als ersten Gang gibt es Weihnachtsmusik vom Posaunenchor des CVJM Riehen.
(Bild: Alexander Preobrajenski)Die Besucherinnen und Besucher lauschen andächtig der Musik. Nach jedem Lied gibt es einen herzlichen Applaus.
(Bild: Alexander Preobrajenski)Helfen macht glücklich: 55 Helferinnen und Helfer sind bei der Kundenweihnacht aktiv – Anfragen zum Mitarbeiten gibt es etwa drei Mal so viele.
(Bild: Alexander Preobrajenski)«Ich gebe gern etwas zurück.» Helfer Luca Grossjean verteilt alkoholfreies Bier.
(Bild: Alexander Preobrajenski)Hans Eberhard, Leiter der Kundenweihnacht, steht an diesem Abend keinen Augenblick still.
(Bild: Alexander Preobrajenski)Pfarrer Thawm Wang hält eine kurze Weihnachtspredigt.
(Bild: Alexander Preobrajenski)Es ist 16:30 Uhr, am ersten Weihnachtsfeiertag. Noch sind die Türen des Quartierzentrums Union in Basel geschlossen. Draussen bildet sich eine dicke Menschentraube. Drinnen herrscht emsiges Treiben, seit zwei Stunden richten 55 freiwillige Helfer alles für die Kundenweihnacht her: Der grosse Weihnachtsbaum ist mit Lametta, die langen Tischreihen sind mit Weihnachtssternen und Mandarinen geschmückt.
Seit 120 Jahren bietet der CVJM Kleinbasel dieses kostenlose Fest an; für Einsame und Heimatlose, für Leute ohne Geld, für Menschen ohne soziale Bezüge. Und derer gibt es viele. Doch spontane Besuche sind hier nicht möglich; eine Anmeldung vorab ist nötig. Derweil draussen einige enttäuschte Gesichter machen, spielt drinnen der Posaunenchor des CVJM Riehen Weihnachtslieder. Die 280 Besucherinnen und Besucher beklatschen die Darbietung herzlich. Und warten geduldig auf ihren Teller mit Schinken, Salat und Brot.
«Für mich ist das die eigentliche Weihnacht!», sagt Luca Grosjean strahlend, während er gerade alkoholfreies Bier verteilt. Seit 15 Jahren ist er freiwilliger Helfer bei der Kundenweihnacht. «Es ist toll, wenn man etwas zurückgeben kann, für die Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen.»
«Wir bekommen viel mehr Anfragen von Helfern, als wir berücksichtigen können.»
Mit diesem Anliegen ist er nicht allein: «Wir bekommen jedes Jahr viel mehr Anfragen von Helfern, als wir berücksichtigen können» sagt Hans Eberhard, Leiter Kundenweihnacht. Helfen macht also glücklich? Marlies Kronenberg schon. Eigentlich ist sie nicht bedürftig. Doch sie ist als Begleitung ihrer Schwester (die nicht namentlich genannt werden möchte) dabei, die es gesundheitlich nicht mehr schafft, den Anlass allein zu besuchen. Sie erzählt, dass sie seit sechs Jahren hierher kommte «Wegen der Gemeinschaft. Das fühlt sich hier wie eine Familie an», sagt sie, singt später Weihnachtslieder, hört der Predigt von Pfarrer Thawm Mang zu, und freut sich über ihr kleines Geschenk.
Die Kundenweihnacht ist wohl die bekannteste und grösste offene Weihnachtsfeier in Basel – aber bei Weitem nicht die einzige. Es gibt viele Orte in Basel, an denen gemeinschaftlich Weihnachten gefeiert werden kann.
Zum Beispiel beim Treffpunkt Glaibasel, eine von mehreren Anlaufstellen für sozial Benachteiligte und Obdachlose in Basel. «Bei uns ist jeder Mensch willkommen», sagt Hüseyin Haskaya, Leiter des Treffpunkts. Hier beginnt alljährlich der feierliche Reigen der sozialen Institutionen in Basel. Manche suchen die warme Herzlichkeit der Weihnachtsfeierlichkeiten an verschiedenen Orten auf, starten am 22. beim Treffpunkt Glaibasel, stoppen am 24. bei der Gassenküche und enden bei der Kundenweihnacht am ersten Weihnachtsfeiertag.
«Einmal kam das Fernsehen – da war die Gassenküche ganz schnell leer!»
Für Haskaya ist das kein Problem, schliesslich seien die Menschen es im Alltag auch gewohnt, sich bei den verschiedenen Institutionen die Hilfe zu suchen, die sie benötigen. Doch Besucher von aussen sind nicht immer erwünscht. «Einmal kam das Fernsehen – da war die Gassenküche ganz schnell leer!», erzählt Brigitte Tschäppeler, Leiterin der Basler Gassenküche. Doch sie kann es nachvollziehen: Vielen sei ihre Lebenssituation unangenehm, Fragen dazu wollen sie eben nicht beantworten.
Und es habe auch Vorteile, wenn die Stammgäste der Gassenküche unter sich bleiben: Am Weihnachtsessen ist die Stimmung grandios. Und Tschäppeler selbst freut sich wie ein kleines Kind auf das Fest, das in jedem Jahr auch eine halbstündige musikalische Attraktion beinhaltet. «Black Tiger war hier schon zu Gast, im letzten Jahr Anna Aaron», erzählt sie. «Das beeindruckt mich immer wieder: dass sich diese Stars die Zeit nehmen, für eine geringe Gage an Heiligabend für Randständige und Obdachlose zu spielen.»
An die 250 Personen nehmen jedes Jahr am Fest der Gassenküche teil, auch Angehörige anderer Religionen: «Wir sind nicht christlich orientiert», so Tschäppeler. «Und zu einem Fest kommt doch jeder gern – auch muslimische Mitbürger. Sie helfen uns sogar beim Abwasch!»
Das Dankeschön kommt oft erst später. Beim Weihnachtsfest selber können viele ihre Gefühle nicht ausdrücken.
Der äusseren Einsamkeit kann man mit den Feierlichkeiten also in Basel gut entgegenwirken. Doch was ist mit der inneren? «Die meisten haben niemanden», sagt Haskaya vom Treffpunkt Glaibasel. Und können deshalb oft nicht danke sagen beim Weihnachtsfest. «Das kommt dann erst eine Woche später. Denn am Tag selbst können sie ihre Gefühle oft nicht ausdrücken.»
Das Wohnen für Männer der Heilsarmee bietet zum Weihnachtsfest für ihre Bewohner deshalb auch eine Andacht eines Seelsorgers an. Dieser Seelsorger steht bereit, wenn jemand über seine Gefühle oder seine Familiengeschichte sprechen möchte. Denn Thomas Baumgartner, Gesamtleiter Heilsarmee Wohnen Basel, bemerkt bei seinen Schützlingen jedes Jahr: «Weihnachten ist eine emotional schwierige Zeit. Es ist eine Familienzeit, und manche empfinden es als einen Makel, wenn sie in dieser Zeit ohne Familie dastehen. Da kommt es bei uns auch eher zu zwischenmenschlichen Konflikten.»
Dafür werden die Bewohner stärker bei der Weihnachtsfeier eingebunden als es bei öffentlichen Anlässen der Fall ist. In diesem Jahr haben sie in einem dreimonatigen Workshop mit der Theaterpädagogin Eva Rottmann einen Text erarbeitet, der beim Weihnachtsessen vorgetragen wird. Dabei können viele widersprüchliche Emotionen thematisiert und kanalisiert werden.
«Wir wollen weg von der Konsumzeit, von den Geschenken und dem üppigen Essen.»
Auch das Frauenwohnhaus setzt eigene Akzente: «Wir wollen weg von der Konsumzeit, von den Geschenken und dem üppigen Essen», erklärt Annemarie Drexler, Leiterin des Frauenwohnheims der Heilsarmee. «Wir rücken besonders in der Weihnachtszeit das menschliche Zusammensein in den Vordergrund. Deshalb haben wir im Advent verschiedene Anlässe zum Basteln, Singen und gemeinsam Turnen angeboten.»
So haben die Bewohnerinnen ihren eigenen Weihnachtsbaum gefilzt. Und zum Weihnachtsessen am 24. gibt es statt Geschenken einen Musiker und eine Sängerin, die ein kleines Exklusiv-Konzert geben. «Religion steht dabei für uns gar nicht im Zentrum, auch wenn wir in einer christlich geprägten Umgebung leben und die Heilsarmee ein christlicher Träger ist», so Drexler. Denn auch die Bewohnerinnen anderer Religionen sollen sich willkommen und aufgehoben fühlen in der Weihnachtszeit.
Natürlich bietet auch die evangelisch-reformierte Kirche Basel-Stadt verschiedene offene Weihnachtsfeiern an – nur sind sie für Menschen, die sonst nicht in einer Gemeinde eingebunden sind, schwer zu finden. «Das ist ein sensibler Punkt», gibt Münsterpfarrerin Caroline Schröder Field zu, «wir sind nicht die Cracks darin, unsere Sachen unters Volk zu bringen». Das sei keine Absicht, man wolle niemanden ausschliessen. Die Weihnachtsfeier der Münstergemeinde sei offen für jedermann, nicht nur für das klassische Gottesdienstpublikum.
«In uns Menschen ist eine Sehnsucht nach unkaputtbarer Gemeinschaft.»
Seit 24 Jahren gibt es diese Feier, und hier begegnen sich Randständige und Menschen aus dem Basler Daig, Alleinstehende und auch Familien. Der Ablauf ist im Gegensatz zu anderen offenen Feiern deutlich christlich geprägt. Den Anfang macht die Vesper, eine etwa halbstündige Andacht im Münster. Anschliessend geht es in die Münsterstube, wo für 60 Personen gedeckt ist. Zwischen den Gängen – das Buffet wird aus einer Mischung aus Catering und Selbstgemachtem zusammengesetzt – werden Lieder gesungen und Geschichten vorgetragen. «Da darf jeder etwas mitbringen, auch Geschichten ohne christlichen Kontext», sagt die Münsterpfarrerin. Viele Teilnehmer kommen jedes Jahr und bringen die gleichen Gedichte oder Lieder mit – und haben hier ihre persönlichen Weihnachtsrituale verankert.
Die im Privaten dominierende, bei vielen offenen Feiern ebenfalls aufgegriffene Tradition der Geschenke hat bei der offenen Weihnachtsfeier der Münstergemeinde allerdings keinen Platz. Und dennoch sagt Schröder Field: «Ich habe das Gefühl, dass alle unsere Besucher reich beschenkt nach Hause gehen. Sie haben Gemeinschaft erlebt, sie haben Heiligabend nicht allein verbracht, und sie haben durch die Lieder einen Kontakt zu ihrer Vergangenheit herstellen können», sagt sie. Und fügt lachend hinzu: «Satt sind sie natürlich auch.»
Doch weshalb ist es vielen Menschen denn eigentlich so wichtig, an Weihnachten nicht allein zu sein? «Vielleicht weil sie, und sind sie auch noch so kirchenfern, immer noch einen Hauch davon mitbekommen, dass es an Weihnachten um Gemeinschaft geht», erklärt Schröder Field. «In uns Menschen ist eine Sehnsucht nach unkaputtbarer Gemeinschaft», sagt sie, und das Weihnachtsfest gebe Anlass darüber nachzudenken. «Und dann merken wir, wie arm wir selbst dran sind, wenn uns die Liebe fehlt. Und sollten zusammenrücken.»
«Ich will Menschen einladen, die an Weihnachten niemanden haben. Davon gibt es nämlich mehr als man denkt.»
Genau das macht Sandra Varonier. Sie wohnt in Turgi im Aargau, hat sieben Kinder zwischen 5 und 21 Jahren, ist Schlummermutter für zwei Studenten, hat ein Aupair und einen Hund. Und dazu noch sieben Weihnachtsgäste, die sie noch nie zuvor gesehen hat.
«Ich bin ein sehr gastfreundlicher Typ und wollte Weihnachten irgendwann nicht mehr einfach nur unter uns feiern», erzählt sie. Erst wollte sie Obdachlose einladen, doch dann entdeckte sie das vom Schwedischen Möbelhaus Ikea initiierte Projekt «No empty chairs at christmas» – und merkte, dass sie auch hier etwas Gutes tun konnte. «Ich will Menschen einladen, die an Weihnachten niemanden haben. Davon gibt es nämlich mehr als man denkt – ganz normale Schweizer, die durch gewisse Umstände allein sind.»
Auf diesem Portal können sich schweizweit Gastgeber, die ihre Weihnachtsrunde für Fremde öffnen möchten, und Gäste, die sonst an Weihnachten allein wären, eintragen und gegenseitig kontaktieren. Bei Sandra Varonier kamen so im letzten Jahr sieben Gäste zur neunköpfigen Familie dazu.
Bei der Vorstellungsrunde hat sie die Gäste auch gefragt, warum sie hierher gekommen sind. Die Antworten waren vielfältig, aber keineswegs dramatisch. Ein 25-jähriger, dessen Eltern sich gerade getrennt hatten; ein junger Pakistani, dessen Familie in Pakistan lebt; eine italienische Bauchtänzerin. Zwei von ihnen sind in diesem Jahr wieder dabei, nebst einigen neuen, fremden Weihnachtsgästen.
Nach dem Essen wurden die Tische beiseite gerückt und die Gäste machten gemeinsam Bauchtanz.
Dass sie nun für 17 Leute ein Weihnachtsessen kochen muss, schreckt sie nicht ab: «Ich mache das auch für mich. Denn ich lerne einfach unheimlich gern neue Leute kennen.»
Über die Aussenwahrnehmung ist sie allerdings hin und wieder etwas irritiert. «Die Leute staunen, wenn sie davon erfahren; finden es toll, dass wir das machen», erzählt sie. «Aber dann sagen sie auch, dass sie selbst keinen Fremden in ihre Wohnung lassen würden, schon gar nicht an Weihnachten. Und es koste doch auch Geld, so viele einzuladen … Viele Schweizer sind lieber für sich allein, und das finde ich sehr schade. Man kann mit Gästen aus aller Welt so einfach den eigenen Horizont erweitern.»
Auch ihr Mann sei anfangs etwas skeptisch gewesen. Und fand danach, das seien seine schönsten Weihnachten gewesen. Wegen der tollen Gespräche. Und ihr schönster Weihnachtsmoment? «Nach dem Geschichtli lesen, Weihnachtsliedersingen und dem Essen haben wir die Bauchtänzerin, gebeten, uns etwas zu zeigen. Und dann haben wir die Tische beiseite gerückt und haben alle zusammen in unserer Wohnküche Bauchtanz gemacht – bis zwei Uhr morgens», lacht sie.
Auch im Basler Raum sind auf diese Weise einige offene Weihnachtstische entstanden, Freundschaften gar, die die Festtage überdauern. Und auch die sozialen Institutionen sind das ganze Jahr über für ihre Besucher da. Sie leben das, was Münsterpfarrerin Caroline Schröder Field als den Kerngedanken von Weihnachten benennt: Sie geben Hoffnung und Zuwendung. Vielleicht kann man es auch einen ganzjährlichen Advent nennen, wie ihn der Psychiatrieprofessor Wulf Rössler empfiehlt. In Basel jedenfalls muss niemand allein Weihnachten feiern. Wer sich auf die Suche begibt, der findet mehr als einen Platz.