Lars Hering, auf Ihrem Pult sehe ich das Foto Ihres Buschis. Soll es mal ins Gymnasium, wenn es gross ist?
Mein Sohn soll das machen, was ihm entspricht. Von mir aus muss er nicht ins Gymi.
Sie waren früher in Baselland Berufs-, Studien- und Laufbahnberater, jetzt leiten Sie die Berufsberatung in der Stadt. Hier liegt die Gymnasialquote viel höher als im Baselbiet.
Das war schon immer so und hängt mit dem städtischen Umfeld zusammen. Es gibt auch innerhalb des Kantons Baselland Unterschiede, im Oberbaselbiet ist die Quote deutlich tiefer als im Unterbaselbiet oder in Liestal.
«Im Schulkreis Gelterkinden gab es Lehrer, die fanden: Kein Kind aus meiner Klasse geht ans Gymnasium.»
Je weiter auf dem Land, desto tiefer die Quote also.
Ja. Ich war zuständig für den Schulkreis Gelterkinden. Dort hatte es Sekundarlehrer im P-Zug, die quasi das Ziel hatten: Kein Kind aus meiner Klasse geht ans Gymnasium. Ich musste Werbung machen für das Gymi und manchmal Partei ergreifen für die intellektuellen Schüler, die dorthin wollten, auch gegenüber ihren Eltern.
Wieso das?
Von Gelterkinden ist es ein weiter Weg ins Gymi, das nächste ist in Liestal. Ausserdem muss man einem Gewerbler erklären, weshalb das Kind jetzt ans Gymnasium soll, statt eine Lehre zu machen und Meister zu werden. Diese Leute haben gute Erfahrungen mit ihrem eigenen Bildungsweg gemacht.
Das bedeutet: Die Gymiquote hängt tatsächlich von den Eltern und Lehrpersonen ab.
Ja. Und was Klassengschpänli sagen. Wenn alle ins Gymnasium gehen, muss man sich rechtfertigen, wenn man eine Banklehre macht. Das braucht Mut.
Können Sie verstehen, dass viele Jugendliche das Gymnasium machen wollen?
Kommt drauf an, weshalb die Jugendlichen diesen Weg wählen. Machen sie es, weil sie nicht wissen, was sie wollen? Als Brückenangebot in die Lehre? Das Gymi sollte genauso eine bewusste Entscheidung sein wie eine Lehre. Dieser Bildungsweg ist für Leute, die analytisch-intellektuelle Interessen haben und sich mit vielen Fächern vertieft auseinandersetzen wollen.
«Es wird immer Leute in der Pflege brauchen, Coiffeusen oder Sanitärinstallateure.»
Viele Basler Eltern motivieren ihre Kinder fürs Gymnasium, sie haben Angst, dass ihr Kind sonst keine sichere Zukunft hat.
Das ist normal, es ist berechtigt, sich als Eltern Sorgen zu machen. Aber ist das Gymnasium der einzige Weg?
Ist es wohl nicht.
Nein, oder zumindest nicht für alle. Es gibt viele, die unter den Anforderungen des Gymis leiden oder die nach der Matur völlig planlos sind. Sie gehen mal an die Universität, brechen wieder ab und kommen ins Hadern. Auf der anderen Seite wird es immer Leute in der Pflege brauchen, Coiffeusen oder Sanitärinstallateure. Deren Arbeiten werden keine Roboter oder Leute in China erledigen. Die stellen vielleicht WCs her, aber anschliessen muss die Schüssel ein Mensch hier in Basel.
Besserer Job dank Studium? Falsch
Viele Leute denken: Je länger die Ausbildung, desto besser Job und Lohn. Doch das ist falsch, wie der am Dienstag erschienene neue Bildungsbericht der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung zeigt. Gemäss Bericht haben nur sechs von zehn Maturandinnen und Maturanden später einen Job, für den ein Studium wirklich nötig war.
Auch finanziell zahlen sich Gymnasium und Uni nicht automatisch aus. Unter dem Strich mag man mit einem Studium mehr verdienen, aber oft stehen die Investitionen ins Studium (Kosten, Aufwand, Zeit) in keinem Verhältnis zum späteren Verdienst. So sagt Bildungsökonomin Stefanie Hof, die den Bildungsbericht mitverfasst hat: «Die Bildungsrendite ist beispielsweise für Frauen, die eine Lehre und nachher eine Berufs- oder eine höhere Fachprüfung machen, höher als mit einem Fachhochschul- oder Universitätsstudium.»
Nicht einmal punkto Jobsicherheit lohnt sich eine höhere Ausbildung. Die Erwerbslosenquote von Personen, die eine Fachhochschule oder Uni abgeschlossen haben, ist nicht merklich tiefer als jene von Leuten mit einem Lehrabschluss. Deshalb kommt Stefanie Hof zum Schluss: «Eine gymnasiale Matur und ein Uniabschluss sind nicht zwingend der beste Weg für einen erfolgreichen Markteintritt.»
Coiffeusen verdienen allerdings wenig.
Aber mit der Lehre als Coiffeuse verschenkt man sich nichts. Man kann immer noch Medizin studieren, wenn man das will. Das heutige Bildungssystem ist durchlässig. Auch mit der Lehre stehen den Schülerinnen und Schülern alle Wege offen, wenn sie die Leistung bringen.
Ist das realistisch? Dass eine Coiffeuse später Medizin studiert?
Es ist möglich. Realistischer ist es vielleicht, wenn ein Fachmann Gesundheit (früher: Krankenpfleger) Medizin studieren will.
Was muss er machen?
Besagter Jugendlicher könnte zuerst drei Jahre die Lehre als Fachmann Gesundheit mit Berufsmatur machen. Danach studiert er weitere drei Jahre an der Fachhochschule Physiotherapie. Das Studium schliesst er mit dem Bachelor ab und mit diesem kann er den Numerus Clausus für Medizin an der Uni machen.
«Gute Schülerinnen, die sich gegen das Gymi entscheiden, müssen keine Angst haben, sich etwas zu verbauen.»
Das dauert also sechs Jahre. Das Gymnasium dauert nur vier.
Ja, aber der Weg steht offen. Und falls es mit dem Numerus Clausus nicht klappt, kann er auf zwei Berufe zurückgreifen. Gute Schülerinnen und Schüler, die sich mit 15 gegen das Gymi entscheiden, müssen keine Angst haben, sich etwas zu verbauen. Und es gibt Beispiele, wo der Weg über eine Lehre der schnellere ist. Warum muss zum Beispiel eine Schülerin, die Architektin werden möchte, das Gymi machen?
Sagen Sie es mir.
Wenn sie technisch interessiert ist, macht es vielleicht mehr Sinn, eine Lehre als Zeichnerin Fachrichtung Architektur mit Berufsmatur zu machen. Dann lernt sie Pläne zu zeichnen und konkrete Probleme zu lösen.
Kommt sie dann bis zur ETH?
Nach dem Lehrabschluss kann sie in einem Jahr die Passerelle machen und dann direkt an der ETH studieren. Oder sie studiert Architektur an der Fachhochschule und wechselt nach dem Bachelor für den Master an die ETH. Das ist mit Auflagen möglich. Der Vorteil: Wenn sie an der ETH rausfliegt, weil die Noten nicht stimmen – und das ist bei der ETH ja kein seltener Fall –, hat sie immer noch den Bachelor und kann als Architektin arbeiten.
«Wenn jemand Richtung Kunst gehen will, hilft es, Schreiner oder ein anderes Handwerk zu lernen.»
Diese Schülerin hat also sogar bessere Chancen, über eine Lehre im gewünschten Beruf zu landen als über das Gymnasium?
Ja, genau. Und sie lernt früh arbeiten, verdient ihr eigenes Geld und hat mit 19 einen Beruf als Zeichnerin in der Tasche. Das gilt auch für andere Berufe: Wenn jemand Richtung Kunst gehen will, hilft es, Schreiner oder ein anderes Handwerk zu lernen. Für Landschaftsarchitekten macht es Sinn, vorher eine Landschaftsgärtner-Lehre zu machen.
Dafür sind andere Berufe heute akademisiert, zum Beispiel Kindergärtnerin, dafür braucht es eine Matur.
Ja, aber nicht zwingend eine gymnasiale Matur, die Fachmatur Pädagogik reicht.
Kriegt man die leichter als eine gymnasiale Matur?
Ja. Wer in Basel-Stadt den Leistungszug E in der Sek besucht und einen Notendurchschnitt von 4,5 und 36 Notenpunkte* hat, kann an die Fachmaturitätsschule. Zum Vergleich: Wer ans Gymnasium will, braucht im E-Zug einen Notendurchschnitt von 5 und 40 Notenpunkte.
Das Gymi hat mehr Prestige
Wieso gehen die Kinder in Basel-Stadt häufiger ins Gymnasium als die Kinder in Baselland? Darauf gibt es keine abschliessende Antwort, die Fachleute können nur spekulieren. Ein Verdacht ist, dass die Eltern die Ausbildung ihrer Kinder als Statussymbol ansehen. Der neue Bildungsbericht stützt diese Vermutung. Eine Befragung verschiedener Personen bestätigt: Viele Eltern bewerten das soziale Ansehen von Leuten mit einem Gymiabschluss höher als jenes von Menschen mit einer Berufsausbildung.
Fachleute gehen ausserdem davon aus, dass der hohe Ausländeranteil eine Rolle spielt. Sie wählen im Verhältnis zu Schweizern häufiger das Gymi als eine Lehre, wie der Bildungsbericht zeigt. Die Forscher vermuten, dass sie das Schweizer Berufsbildungssystem weniger gut kennen und nicht wissen, welch hohe Anerkennung die Berufslehre in der Wirtschaft geniesst.
Die Akademisierung ist also nicht so schlimm.
Sie macht Sinn, weil viele Berufe heute komplizierter geworden sind. Etwa auch der ehemalige Beruf des Automechanikers. Der kann heute nicht mehr schräubeln und zusammensetzen. Kommt ein Auto heute in die Garage, wird es an den Computer angeschlossen. Automobil-Mechatroniker müssen die ganze Elektronik verstehen, um etwa ein Airbag-System zu reparieren. Allerdings braucht es hier keine Matur und kein Studium. Automobil-Mechatroniker ist aber sicher ein sehr anspruchsvoller Lehrberuf.
Und die Wirtschaft, was will die?
Das kommt ganz auf die Funktion an. In der Forschung braucht es Personen mit vertieften analytischen Fähigkeiten. Und auch eine vertiefte Allgemeinbildung, wie sie am Gymnasium vermittelt wird, hat für die Wirtschaft ihren Wert. Interessant sind sicher auch Leute, die praktische Erfahrungen mit Theorie verbinden. Also zum Beispiel eine Banklehre und ein anschliessendes Wirtschaftsstudium sowie die Ausbildung zur Wirtschaftsprüferin. Den einen Königsweg gibt es nicht.
Viele 15-Jährige gehen vielleicht auch ans Gymi, weil sie sich noch nicht für einen Beruf entscheiden wollen.
Mit 15 weiss man häufig noch nicht genau, was man werden will – auch wenn die Wirtschaft das vielleicht gerne hätte. Aber man hat schon eine leise Ahnung, hat gewisse Interessen und Vorlieben. Es macht Sinn, diesen zu folgen und seinen Weg einzuschlagen. Wohlwissend, dass die erste Berufswahl bloss eine erste Entscheidung ist, dass es aber später möglich ist, auf dieser Entscheidung aufzubauen, aber auch neue Wege in Angriff zu nehmen. Der erste Beruf prägt einen, wie einen auch das Gymi oder ein Studium prägt. Aber es ist immer möglich, sich in eine andere Richtung zu entwickeln. Dies sind auch häufige Fragen bei uns in der Laufbahnberatung. Über die Hälfte der Ratsuchenden ist älter als 25.
«Natürlich hat man alle Chancen im Gymnasium. Aber es ist auch eine Entscheidung gegen etwas.»
Mag die Wirtschaft Leute, die mal eine Kurve machen, oder bevorzugt sie Leute mit einem geradlinigen Lebenslauf?
Nein. Eine gute HR-Abteilung stellt auch Leute ein, die Misserfolge gemeistert haben. Das ist auch eine Qualität.
Okay, aber wenn die Lehre wirklich so ein super Karriereeinstieg ist, weshalb haben es die Schülerinnen und Schüler noch nicht gemerkt – und deren Eltern?
Die Durchlässigkeit ist teilweise neu. Dass man nach der Fachmaturität mit einer Prüfung (Passerelle) an die Uni gehen kann, ist erst seit einem Jahr möglich. Die, die das machen, füllen bislang knapp eine Klasse. Und im Übrigen sind die Vorurteile auch alt: Die Berufsberatung Basel-Stadt wird dieses Jahr 111 Jahre alt. Und schon bei ihrer Gründung wollten die Eltern lieber, dass ihre Kinder ins Gymnasium gehen.
Heutzutage brechen 15 Prozent das Gymnasium vor der Matura ab.
Ja, das zeigt, dass teilweise die falschen Personen ins Gymi gehen. Häufig sind es Schülerinnen und Schüler, die sich nicht gross Gedanken über die Anforderungen des Gymnasiums gemacht haben, sondern mit den anderen quasi ins Gymi geschwemmt wurden. Wir beraten alle Jugendlichen der Sekundarschule und haben so einen guten Überblick. Aktuell gibt es im P-Zug der Sekundarschule solche, bei denen wir davon ausgehen, dass sie im Gymi völlig überfordert sind. Aber sie haben einen Notendurchschnitt von 5,3. Klar, dass alle sagen: «Geh doch ins Gymi.» Natürlich hat man alle Chancen im Gymnasium. Aber es ist auch eine Entscheidung gegen etwas.
Gegen was?
Praktische Erfahrungen. Im Baselland habe ich Gymnasiastinnen kurz vor der Matura und Jugendliche in Lehrabschlussklassen beraten. Die sind an einem völlig anderen Punkt. Die Lernenden haben gelernt, Sachen herzustellen, die verkauft werden. Sie wissen genau, was sie gerne und was sie nicht gerne machen. Ein Gymnasiast argumentiert zwar eloquent, aber inhaltlich teilweise kindlich-naiv. Er weiss noch nicht, was er mag und was nicht, weil ihm die Erfahrung fehlt.
Dann finden Sie es gut, dass Regierungsrat Conradin Cramer jetzt den Notenschnitt mit Zwang senken will?
Es macht Sinn, den Notenschnitt realistischer zu machen. Das ist fairer, als eine Aufnahmeprüfung ins Gymnasium einzuführen.
* Die Punktezahl ergibt sich wie folgt:
Deutsch: Note x 2
Mathe: Note x 2
Natur und Technik: Note x 1
Räume, Zeiten, Gesellschaften: Note x 1
Französisch: Note x 1
Englisch: Note x 1