Im Todesjahr von Joseph Beuys trat der deutsche Kunstbetrieb ins Fettnäpfchen: 1986 schritt ein Hausmeister an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf eigenmächtig zur Tat und entfernte ein fünf Kilogramm schweres und ranzig gewordenes Stück Butter, das in einer Ecke von Beuys’ ehemaligem Atelier klebte.
Kunstakademie-Absolvent Johannes Stüttgen war bestürzt, als er den unfachgerecht entsorgten Klumpen in einem Mülleimer entdeckte: Handelte es sich dabei doch um eine der berühmt-berüchtigten «Fettecken», die Stüttgens Lehrmeister Joseph Beuys vier Jahre zuvor eigenhändig angebracht hatte.
Der Fett-Fetisch
«Jetzt mache ich dir endlich deine Fettecke», soll Beuys zu seinem Meisterschüler gesagt haben, woraus dieser einen Besitzanspruch ableitete und vor dem Düsseldorfer Landgericht 50’000 Deutsche Mark Schadensersatz einklagte: Stüttgen begründete seine Forderung damit, dass es sich bei der Fettecke um ein «Anschauungsstück» zu Beuys‘ plastischer Theorie handle.
Die Kunstwelt hatte den Schaden – und den Spott dazu: «Ist das Kunst oder kann das weg?» wurde zum geflügelten Wort, mit dem der Boulevard über die verkopften Akademiker herzog. Und wahrscheinlich hätte Beuys sogar mitgelacht, wurde doch ganz in seinem Sinn darum gestritten, was das denn sei – Kunst.
«Schmeissen wir meine Werke zum Fenster hinaus, ich bin bereit zum Provozieren!», schleudert der vielfach angefeindete Künstler einem Kritiker in Andres Veiels Dokumentarfilm «Beuys» entgegen. Es sind Aufnahmen aus einer jener 70er-Jahre-Fernsehdebatten, in denen vor laufender Kamera noch geschwitzt, geraucht und laut «ausgerufen» wurde.
Der Anfang jeder Plastik, so Beuys, sei die Idee, die sogar einem biederen Brotaufstrich eine neue Gestalt verleiht.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Beuys seinen Kunstbegriff schon dahingehend weiterentwickelt, dass jeder Mensch kreativ auf die Gesellschaft einwirken und sie zu einer «Sozialen Plastik» formen kann – jenseits der simplen politischen Verschlagwortung von «kapitalistisch» und «marxistisch». Der Anfang jeder Plastik, so der gelernte Bildhauer, sei dabei die Idee, die selbst einem biederen Brotaufstrich eine neue, überraschende Gestalt verleihe, siehe: Fettecke.
Der Film «Beuys» zeigt den Mann mit dem knochigen Gesicht und dem Filzhut als überraschend politischen und fröhlichen Charismatiker, der geschickt mit seinem Ruf als Kunst-Schamane kokettiert. So berichtet der ehemalige NS-Luftwaffenpilot etwa von seinem Flugzeugabsturz auf der Krim, als er angeblich von Nomaden mit Fett (!) gesund gepflegt worden war. Kreative Vergangenheitsbewältigung oder esoterische Geschichtsklitterung?
Butter zu Schnaps
Regisseur Veiel ist sich der Widersprüche seines Protagonisten wohl bewusst, und er findet für das idiosynkratische Porträt eine elegante filmische Entsprechung in Form einer sich ständig transformierenden Collage aus Zeitzeugenberichten und Archivmaterialien: Die Kamera fährt so zum Beispiel über einen Fotostreifen, um plötzlich in einen Bildausschnitt einzutauchen, der als Bewegtfilm fortgesetzt wird.
Nicht alles und alle kommen in «Beuys» zur Sprache: Seine Faszination für die Anthroposophie etwa bleibt unerwähnt, auch Witwe Eva, geborene Wurmbach, kommt nicht zu Wort. Dafür sehen wir den Künstler auf Japan-Tour, wo er Vorträge hält und Werbung für Whisky macht; in der berühmten New Yorker Aktion mit einem lebenden Koyoten; neben Andy Warhol, den er als bedeutendsten Gegenwartskünstler vom Sockel stiess, oder an einem Parteitag der Grünen, die er mitbegründet hatte.
«Kein Weekend» lautete eine Devise Beuys’, dessen Werk die Gemüter bis heute bewegt. Womit wir wieder bei der Fettecke wären: Nach einem aussergerichtlichen Vergleich erhielt Stüttgen für das zerstörte Werk 40’000 Deutsche Mark. 2014 gab er die Überreste gegen den Willen von Beuys’ Witwe für eine Performance frei, bei der die gammelige Butter zu hochprozentigem Schnaps destilliert wurde, der geschmacklich an Parmesan erinnern soll.
So nah sind sich mitunter Kunst und Käse.