Bevölkerung wächst den Prognosen davon

Die Schweizer Bevölkerung wird langsamer wachsen und danach schrumpfen. Das prophezeien alle Szenarien seit 1984. Doch die Realität sieht anders aus: In den letzten 30 Jahren hat das Wachstum zugenommen. Darum sind Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung stets mit Vorsicht zu geniessen.

Die Schweizer Bevölkerung wird langsamer wachsen und danach schrumpfen. Das prophezeien alle Szenarien seit 1984. Doch die Realität sieht anders aus: In den letzten 30 Jahren hat das Wachstum zugenommen. Darum sind Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung stets mit Vorsicht zu geniessen.

«Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen», spottete einst der Physiker Niels Bohr. Weil niemand die Zukunft sicher voraussagen kann, behilft man sich mit Szenarien. Das heisst: Die Prognose gilt nur, falls die ihr zu Grunde liegenden Annahmen sich bewahrheiten.

Wenn wir heute feststellen, dass die Entwicklung der Bevölkerung in der Schweiz stets massiv von den Szenarien abwich (siehe Grafik), so liegt das an den falschen Annahmen. Konkret: Die Verfasser der Szenarien haben die beiden Treiber des Wachstums unterschätzt, nämlich den Zuwanderungssaldo – also die Einwanderung nach Abzug der Auswanderung – und den Geburtenüberschuss.

Babyboom treibt Zahlen nach oben

Am stärksten wuchs die Schweizer Bevölkerung zwischen 1950 und 1973; das war die Zeit des Babybooms und der ersten grossen Einwanderungswelle. Danach sank die Bewohnerzahl kurzfristig, weil die Rezession 1974 und 1975 ausländische Arbeitskräfte zur Heimkehr zwang.

Ebenfalls in den 1970er-Jahren häuften sich Meldungen, die Schweizer Bevölkerung werde schrumpfen. So sank die die Geburtenziffer (Zahl der Kinder pro Frau) ab 1971 unter 2,1 – also unter die Schwelle, die es zur Erhaltung des Bevölkerungsstandes angeblich braucht.

1984 erstellte das Bundesamt für Statistik (BFS) seine ersten Szenarien über die Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz bis 2025. Das Resultat des mittleren, also wahrscheinlichsten Szenarios: Die Einwohnerzahl werde bis zum Jahr 2021 auf 6,8 Millionen steigen und danach sinken. Die Wirklichkeit: Schon Ende 2013 lebten 8,1 Millionen Menschen in der Schweiz. Das sind 1,3 Millionen oder annähernd 20 Prozent mehr, als das BFS 1984 erwartet hatte.

Zahlen nach oben korrigiert

In den neueren Szenarien korrigierte das BFS – der wachsenden Bevölkerung folgend – seine Zahlen zwar nach oben. Doch das Muster blieb das Gleiche: Die Einwohnerzahl werde anfänglich noch deutlich, mittelfristig immer langsamer steigen und langfristig sinken (siehe Szenarien 1984, 2000 und 2010 in der Grafik). Gemäss diesem Szenario von 2010 werden im Jahr 2050 knapp neun Millionen Menschen in der Schweiz leben. Dieses jüngste Szenario des Bundes weicht nur wenig vom Szenario ab, das die Ecopop-Initiative mit ihrer Beschränkung des Zuwanderungssaldos bewirken würde.

Die Entwicklung der letzten 60 zeigt ein anderes Bild: Von 1950 bis zum Jahr 2013 wuchs die Bevölkerung – bei jährlichen Schwankungen – ziemlich gleichmässig. In der Periode von 1984 (dem Start des ersten Szenarios) bis 2013 stieg die Zahl der Einwohner im Schnitt um 58’700 Personen pro Jahr und damit sogar noch stärker als zwischen 1950 und 1984 (plus 50’600 pro Jahr). Sollte sich das Wachstum linear fortsetzen, was heute schwer abzuschätzen ist, dann stiege die Einwohnerzahl in der Schweiz bis 2050 auf über zehn Millionen Personen.

Ähnlich verlief auch die globale Kurve in den vergangenen Jahrzehnten: Die Weltbevölkerung wuchs von 1980 bis 2013 regelmässig, im Durchschnitt um 82 Millionen Personen pro Jahr. Die globale Zunahme der Bevölkerung seit 1980 war damit ebenfalls grösser als zwischen 1950 und 1980 (plus 64 Mio./Jahr).

Wanderung und Alter unterschätzt

Bevölkerungsszenarien sind schwierig, nicht nur, weil sie die Zukunft betreffen, sondern weil die wichtigsten Einflussfaktoren – Wanderung, Geburtenziffer und Alterung – zusammenhängen und sich gegenseitig hochschaukeln können. Die Verfasser solcher Szenarien unterschätzten die höhere Lebenserwartung, welche die sinkende Geburtenziffer ausglich, und sie schätzten vor allem die wachsende Zuwanderung zu tief ein.

Dazu kommt: Die mehrheitlich jungen einwandernden Ausländerinnen und Ausländer erhöhten nicht nur die Zahl, sondern veränderten auch die Struktur der Bevölkerung. Darum trägt die Zuwanderung ebenso wie die Alterung zum weiterhin beträchtlichen Geburtenüberschuss bei.

Wie lange die Lebenserwartung weitersteigt und der Zuwanderungsüberschuss hoch bleibt, lässt sich heute schwer abschätzen. Darum sind alle Szenarien zur Bevölkerung, aber auch jene zum Wachstum der Wirtschaft und zum Verbrauch von natürlichen Ressourcen, immer mit grosser Vorsicht zu geniessen.

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