Es braucht einen verantwortungsvolleren Umgang der Medienschaffenden mit Bildern – sonst verkommen Bilder zum effekthascherischen Selbstzweck.
Bilder prägen den Lauf der Geschichte. Man denke nur an die Bilder des explodierenden Kraftwerkes in Fukushima. Ohne dieses weltweit bildstark in Szene gerückte Ereignis sind die energiepolitische Wende und der Vormarsch der grünliberalen Partei in der Schweiz nicht zu erklären. Aber auch die Kettenreaktion von Umbrüchen in den arabischen Staaten wäre nicht möglich geworden, wären keine Bilder protestierender und sich gegen die autoritären Regimes erhebenden Massen um den Erdball gegangen.
Angesichts der Potenz der Bilder, Aufmerksamkeit in den Bann zu ziehen, verwundert es nicht, dass die modernen Medien zunehmend mehr auf die Karte der Visualisierung setzen. Seit den 1980er-Jahren erleben wir einen eigentlichen Boom des Visuellen. Immer mehr gilt: Was nicht bebildert werden kann, findet in den Medien nicht statt.
Der Volksmund sagt: «Bilder sagen mehr als tausend Worte» – und unterstreicht damit eine grundsätzliche Überlegenheit des Bildes. Das Bild hat eine Überzeugungskraft, die in Wort und Schrift nur mit erheblich grösserem Aufwand zu erreichen ist. Fotos und Videosequenzen machen uns zu Zeitzeugen, und solchem Bildmaterial haftet ein besonderes Mass an Wahrhaftigkeit und Authentizität an.
Die grundlegende Raison des Visuellen, nämlich Ereignisse schnell, wortlos und einleuchtend zu vermitteln, ist aber gleichzeitig seine grösste Schwäche. Denn extensive Visualisierung bedeutet immer auch radikale Komplexitätsreduktion. Strukturen, Prozesse und Hintergründe geraten tendenziell aus dem Blickfeld. Sensationalismus und effekthascherische Emotionalisierung gewinnen dagegen an Gewicht. Und parallel zur Bild-Fixierung nimmt auch die Personen-Fixierung zu. Mit Bildern von Hände schüttelnden Politikern wird etwa der Eindruck erweckt, dass die Lösung komplexer Probleme das Geschäft einzelner Personen ist. Kein Wunder also, dass die bildzentriertesten Medien regelhaft die grössten Qualitätsdefizite aufweisen. Bilder verkommen hier zum Selbstzweck.
Nicht zuletzt aber hat der Siegeszug des Visuellen dazu geführt, dass die Hemmschwellen der Medien zur Veröffentlichung problematischen Bildmaterials bedenklich gesunken sind. Dies zeigt eine Studie des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich zum Umgang der Medien mit den Todesbildern des libyschen Machthabers Muammar Gaddhafi. Mit der wiederholten Darstellung von Greuelbildern auch auf Titelseiten, der prominenten Plazierung von Bildstrecken und der Verwendung von Amateurvideos, die das Sterben Gaddhafis zeigten, wurde insbesondere in Onlinemedien teilweise massiv gegen journalistische Richtlinien verstossen.
Das Visuelle ist aus dem heutigen Medienzeitalter nicht mehr weg zu denken. Umso dringlicher ist ein wieder gewissenhafterer Umgang der Medienschaffenden mit dem Bildmaterial.
Mark Eisenegger ist Kommunikationswissenschaftler, Co-Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Uni Zürich und Mitherausgeber des «Jahrbuchs Qualität der Medien – Schweiz Suisse Svizzera». Die genannte Studie zum Umgang mit den Todesbildern Gaddhafis ist hier erhältlich.
Quellen
Die im Artikel genannte Studie zum Umgang mit den Todesbildern Gaddhafis ist hier erhältlich.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11