In der Youtube-Serie kotzt sich die bulimische Hauptdarstellerin durch alle Lebenslagen. Das ist schlimm, witzig – und richtig gut.
Essstörungen sind fatal. Und sie sind verbreitet: Die Schweiz hält mit 3,5 Prozent der Bevölkerung, die essgestört sind oder waren, in Europa eine traurige Spitzenposition inne (europäischer Durchschnitt: 2,5 Prozent). Im globalen Vergleich leiden in der Schweiz gar überdurchschnittlich viele Menschen unter Bulimie. Ein wunder Punkt unserer Gesellschaft also. Aber die Basis einer Komödie?
«Wieso nicht?», haben sich die Macher der Youtube-Serie «Binge» gesagt. Und nach den bisherigen zwei Episoden sagen wir: Ja, unbedingt!
In der Pilotfolge von «Binge» (siehe Video) sehen wir der Protagonistin Angela dabei zu, wie sie sich in ihren End-Zwanzigern durch Alkoholeskapaden, One-Night-Stands und Therapiesitzungen frisst – und erbricht.
Selbstwertgefühl? Das wird doch überbewertet. Wenn Angela für eine Teetasse mit der Aufschrift «My Other Mug is Your Mum» mit einem Typ schlafen muss, dann tut sie das halt. Davor wird aber noch kurz gekotzt.
So ist Angela nun mal. Kein grosses Ding, denkt sie. Und wieso der Psychiater aus der Bar gestern Nacht nicht aufhören will, sie anzurufen, nachdem sie ihm lallend ihre Todeswünsche gestanden hat, will sie auch nicht verstehen. Es geht doch jedem mal dreckig, mit Alkohol sowieso. Kein grosses Ding.
Das soll witzig sein?
Und wie. Denn Angela ist Mensch – ein essgestörter zwar, aber immer noch Mensch. Damit hat sie wie jeder andere das Recht darauf, Witze zu reissen oder sich daneben zu benehmen. Und wir haben das Recht darauf, darüber zu lachen.
Hungern, Vollstopfen, Kotzen, Wiederholen
Das macht Angela echt. So echt, wie sie sowieso schon ist. Denn Angela wird gespielt von Angela Gulner, die mit «Binge» ihre eigene Geschichte erzählt. Die 30-jährige Schauspielerin und Harvard-Absolventin war selbst zehn Jahre lang Bulimikerin. Und zeitweise alkoholsüchtig. Und hatte viel Sex mit vielen Männern – «Sorry, Mom», sagt Gulner im Interview, bevor sie darüber spricht:
Es war ein turbulentes Jahrzehnt für die junge Schauspielerin, in denen sie auf jede Lebensfrage mit vier Wörtern antwortete: «Starve, Binge, Purge, Repeat», sagt Gulner. Hungern, Vollstopfen, Kotzen, Wiederholen – das ging immer. Irgendwann schlichen sich mehrere «Drinks» dazwischen.
Diese «Drinks» waren ihre Rettung, wie sie selber sagt. Denn im Rausch konnte sie ehrlich zu sich selber sein. Und dass sie all abendlich bei psychiatrischen Kliniken anrief und um Hilfe bettelte, zeigte, dass sie auch ehrlich zu anderen sein wollte.
Schwarzhumorig von Desaster zu Desaster
Beharrlich wurde sie von den Psychiatern an den Tagen darauf zurückgerufen. Irgendwann gab sie nach, ging zu einer Aufnahme-Sitzung – und rannte, als man von partieller Einweisung sprach. Wortwörtlich, sie rannte aus dem Sitzungszimmer!
Diese Anekdote findet sich auch in der Pilotfolge von «Binge» wieder. «Wenn die Dinge davor schlecht waren, waren sie danach desaströs», sagt Gulner. Über 25 Minuten lang müssen und dürfen wir ihr in der ersten Folge also zusehen, wie sie sich von Desaster zu Desaster hangelt.
Kürzlich ist eine weitere Folge erscheinen, «The Blind Girl» heisst sie. Sie ist ein sogenanntes Prequel, dass Gulner in den Jahren vor ihren Rausch-Anrufen zeigt. Über vier Valentinstage hinweg folgen wir Angela durch ihre Beziehung mit Jack (gespielt von Drake Bell, bekannt aus der Nikelodeon-Serie «Drake & Josh»). Auch diese ist natürlich: desaströs, wie das nachfolgende Video beweist.
Was nach zwei Folgen schon klar ist: Die Geschichte hat ein Happy End. Wenn man es so nennen darf. Denn die echte Angela Gulner ging irgendwann doch in die Tagesklinik («Thanks, Obamacare!») und entkam der Bulimie.
Nach der Klinik ging sie nach L.A. – für eine Schauspielerin und Ex-Bulimikerin ein heikler Ort. Deshalb wollte sie ihre Arbeit selber in die Hand nehmen. «Der offensichtlichste Punkt, an dem ich anfangen konnte, war meine Essstörung», sagt sie, und schrieb zusammen mit Co-Produzenten und Regisseur Yuri Baranovsky das Script für «Binge».
Das Publikum will mehr davon
«Angela zeigte mir damals, dass Essstörungen von Mainstream-Medien kaum behandelt werden. Und wenn, dann werden sie weder ehrlich, noch korrekt abgebildet», sagt Baranovsky in einem gemeinsamen Interview mit Gulner. Sie fügt an: «Wir kriegen nie Charaktere mit Essstörungen zu sehen, die mehr sind als bloss ihre Essstörung. Wir können nie mit ihnen lachen».
Genau das schafft «Binge» und ist damit wirkungsvoller, als die Schock-Videos, die sich auch auf Youtube finden. Die Serie banalisiert, glorifiziert und moralisiert nicht.
Auf dem Videoportal wollen die Macher längerfristig auch nicht verweilen. Das Ziel sei, mit den bisherigen Episoden – auf die noch weitere folgen sollen – grössere Netzwerke und Produktionsfirmen (Netflix? Amazon?) an Bord zu holen.
Liest man sich durch die Kommentare unter den beiden Videos, ist klar: Das Publikum will mehr davon. Und wir auch.