Länderspielwoche – der Wettbewerb der Nationen ist auch ein Feld, auf dem Klischees und Vorurteile bedient werden, wo stiller Rassismus und laut pöbelnder Fremdenhass lauern. Mit dem Ziel, die Würde des Gegenüber herabzusetzen.
Die deutsche «Bild»-Zeitung hat nach dem Elfmeter-Aus der Schweizer Nationalmannschaft an der WM 2006 tief in der Mythenkiste gegraben und Wilhelm Tell hervorgekramt. Tell habe aus grösserer Distanz mit einem Armbrust-Pfeil einen Apfel auf dem Kopf seines Sohnes getroffen als die Spieler der Schweiz mit dem Ball das Tor, spottete «Bild».
Das wäre nur harmloses Piesacken von Fans, wenn «Bild» und ähnliche Boulevardmedien wie die englische «Sun» nicht mit ihrer Auflage die Macht hätten, ganze Nationen in niederste Polemiken zu verwickeln. Sie lösen eine Dynamik aus und zwingen der Öffentlichkeit so eine Diskussion auf, die übertragen wird auf die Strasse, in die Online-Foren, in die sozialen Medien und an die Stammtische. Die Medien formen die emotionale Struktur der öffentlichen Meinung direkt.
Die Spezialität der Boulevard-Medien ist die eigene Nationalmannschaft und deren Gegner. Wenn England auf Deutschland trifft, dominiert in den Medien ein fast kriegstreiberischer Ton: Es werden alte Rechnungen beglichen, Metaphern und Assoziationen zu den spezifischen Merkmalen der Nationen wiedergekäut, es wird über verlorene und gewonnene Kriege polemisiert – nur mit einem Ziel: Die Würde des Gegenübers zu verletzen.
Der Kleinmut des durchschnittlichen Europäers zeigt sich nie deutlicher als bei Sportwettbewerben, an denen die eigene Nation nicht teilnimmt. Er zeigt sich in der Auswahl, für wen gejubelt wird und über wessen Niederlage man sich freut. Und er zeigt sich vor allem in der Begründung, warum man dies tut. Es wird sarkastisch kommentiert oder – wie am Eurovision Songcontest – mit verächtlichem Spott. Beides sind Brutstätten eines spiessbürgerlichen Geistes in Europa.
Der stille Rassismus
Zum Charakter der europäischen Bevölkerung gehört ein boulevardesker Voyeurismus. Sehr oft tauchen im kollektiven Siegestaumel sowohl Angst wie auch die hässlichsten Kommentare, Bemerkungen, Klischees und Vorurteile über andere Nationen auf, die in der Regel unglaublich zynisch sind. Der stille Rassismus wird reproduziert in Wettbewerben, den ernst zu nehmende Leute die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln nennen.
Wenn Frankreich oder ein Land mit ähnlich hohem Migrantenanteil gewinnt und von unterlegener Seite behauptet wird, dass es überhaupt keine Leistung Frankreichs war, kann dies den Durchschnittsfranzosen nur frustrieren und Animositäten gegen Ausländer wecken.
Erinnert sei an die Debatte nach der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich zwischen Intellektuellen und dem rechtskonservativen Jean-Marie Le Pen. Der damalige Parteivorsitzende des Front National forderte etwa, die Auswahlspieler hätten vor Länderspielen gefälligst die französische Nationalhymne mitzusingen. So geht es vielen Nationalmannschaften mit einer grösseren Zahl von Migranten. Und wer die Leistung der USA schmälern will, weist darauf hin, dass es meistens Schwarze sind, die im Sport dominieren.
Der triviale Sport bringt Missgunst und Xenophobie zum Vorschein.
Diese Beispiele sind nur Symptome einer allgegenwärtigen Furcht und Rivalität. In ihrem Kern sind sie jedoch ernst, weil die heikelsten Punkte der Innenpolitik zahlreicher Länder und ihre Haltung gegenüber Migranten angesprochen werden. Es geht dabei um Integration, Assimilation, soziale Schichtung, Arbeitsplätze und vieles mehr. In diesen Momenten kommen die unterschwellige Missgunst und Xenophobie zum Vorschein, obwohl oder gerade weil der Sport als Anlass für die Debatte so trivial und auf den ersten Blick harmlos scheint.
Jetzt, da nicht nur die ökonomische Stabilität, sondern auch die europäische Identität an sich in der Krise stecken, kommt es zum chronischen und oft gesehenen Abbruch der kontrollierten zwischeneuropäischen Kommunikation. Es wird mit dem kleinbürgerlichen Geist der öffentlichen Meinung gespielt, indem man mit Witzen, Kommentaren, Aphorismen oder auch Karikaturen generelle Vorurteile auf geschmacklose Art bekräftigt.
Wir haben gedacht, dass dies nur den anderen vorbehalten ist, etwa der islamischen Welt, so wie wir es bei den berühmten Mohammed-Karikaturen gesehen haben. Aber bereits Sigmund Freud hat angemerkt, dass Tabus sich am leichtesten mit Witzen maskieren lassen – insbesondere in unserer Zeit der politischen Korrektheit.
Das Spiel von Politik und Sport
Auf dem Höhepunkt der Eurokrise hat der erniedrigende Diskurs zwischen Deutschland und Griechenland dominiert, und dies nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch in einigen Mainstream-Analysen und politischen Kommentaren anderer Medien. Die Schuldenländer Portugal, Irland, Griechenland und Spanien sind nach ihren Anfangsbuchstaben zur Abkürzung «PIGS» zusammengefasst worden – was nicht zufällig auf Englisch «Schweine» heisst. In einer andern Reihenfolge wollte man die Initialen nicht zusammenstellen.
Nachdem auch Italien in eine ökonomische Krise gerutscht ist und bemerkt hat, dass es unter politischem Druck Deutschlands steht, das die Bedingungen für Darlehen und die Finanzpolitik festlegt, haben sich die Animositäten und die Frustration der Italiener nach dem Sieg ihrer Fussball-Nationalmannschaft über Deutschland gezeigt. Die italienischen Medien stellten die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als hässlich, arrogant und fett dar.
Der Zynismus zeigt sich immer durch Spott über körperliche Defizite oder sonst etwas, das die elementare Würde verletzen kann.
Das ist Boulevard in seiner klassischen Form: Wenn die Dinge erst einmal dieses Niveau erreicht haben, zeigt sich der Zynismus immer durch Spott über körperliche Defizite oder sonst etwas, das die elementare Würde verletzen kann – sei es jene einer einzelnen Person oder einer ganzen Nation. Genauso, wie bei anderer Gelegenheit dieselben italienischen Spieler als Muttersöhnchen verunglimpft werden und gerne mit Assoziationen und Klischees zur nationalen Kultur gespielt wird: Spaghetti, Mafia und Mode.
Leider regieren im aufgeklärten Europa – das ein politisches und kulturelles Vorbild sein sollte – der Sensationalismus und die Unterhaltungsindustrie, für die Oberflächlichkeit, Sarkasmus und Ironie charakteristisch sind. Die meistgelesenen Medien sind die boulevardesken wie «Bild» in Deutschland und die englische «Sun». Sie verkaufen täglich Millionen Zeitungen und sind in der Lage, kulturelle Errungenschaften des alten Europa zu vergiften.
Parallel zum Sport wird die Politik boulevardisiert
Vielleicht hätte diese Tatsache nicht so viel Einfluss auf das moralische Gefüge des Kontinents, wenn nicht parallel dazu auch die Politik boulevardisiert würde. Das Ziel ist auch hier inzwischen: Emotionen zu wecken, Wut, Hohn, ja selbst Verachtung zu schüren. Die Politik, die über das Schicksal der Leute und der Nation entscheidet, ist Teil einer Realsatire geworden, während der gewöhnliche Bürger seinen Frust in Spott und Sarkasmus ausdrückt.
Diese beiden Phänomene haben sich dort vereint, wo der Sport politisiert wird und die Politik im Sport mitspielt. Das beste Beispiel für diese Vermischung sind populistische Auftritte von Politikern vor jubelnder Menge oder auch schon die Namensgebung der Parteien wie etwa im Falle von Silvio Berlusconis «Forza Italia».
In Erinnerung geblieben ist die Episode mit dem ehemaligen Nationaltrainer Spaniens, Luis Aragones. Er hat vor einem wichtigen Qualifikationsspiel, im Wunsch, einen seiner Spieler für das Duell mit Thierry Henry anzustacheln, gesagt: «Ich will, dass du es diesem beschissenen Schwarzen zeigst!» Dummerweise schnappten Journalisten den Satz auf. Es entwickelte sich eine Dynamik nach dem üblichen Muster: Empörung, medialer Druck, Wortmeldungen anderer Spieler und Funktionäre, eine Entschuldigung von Aragones. Der lauteste Aufschrei kam aus England, weshalb der von den Provokationen genervte Aragones sagte, er wisse, woher die grössten Rassisten und Kolonialisten stammten. Natürlich dachte er dabei an die Briten.
Sport und ähnliche Wettbewerbe sind Krieg mit anderen Mitteln.
Dass ausgerechnet ein Spanier eine andere Nation wegen ihres Kolonialismus kritisiert, braucht wirklich Mut – aber das ist die Tragikomödie der Europäer. In Situationen starker emotionaler Anspannung, wie es in Wettbewerben der Fall ist, brechen Ressentiments aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche durch. Deshalb sind der Sport und Wettbewerbe jeglicher anderer Art Krieg mit anderen Mitteln. Sie haben immer sowohl historische als auch kulturelle und ökonomische Anknüpfungen. Und die beste Art, seine politisch unkorrekte Meinung zu äussern, ist die Anonymität, die die Masse oder auch das Internet bieten.
Die Online-Foren sind der einzige Bereich, in dem unzensierte und authentische Ansichten und Haltungen geäussert werden. Das geschieht meist auf dem Niveau, das sonst vertuscht und bewusst tabuisiert wird, sodass die Öffentlichkeit dann überrascht ist, wenn rechte Parteien in Europa bei Wahlen immer grösseren Rückhalt finden. Tatsächlich wird dabei nur die reale Situation sichtbar.
So sind sportliche Wettbewerbe, die sich als universell und ganzheitlich präsentieren und Völker und Menschen verbinden sollen, nur eine harmlosere Art des Krieges auf mentaler und psychologischer Ebene. Europa, das die Wiege der Aufklärung und des Humanismus ist und darauf auch stolz sein müsste, zeigt bei solchen Gelegenheiten immer öfter ein anderes Gesicht. Wobei angesichts der Auseinandersetzung zwischen russischen und polnischen Fussballfans an der Euro 2012 dieser Krieg durchaus auch physisch werden konnte.
Mit Worten die Würde verletzen
Es gibt geflügelte Worte, die all dies treffend auf den Punkt bringen. Die Deutschen spotten über die Engländer: «Wir sind besser im Fussball, den ihr erfunden habt.» Die Engländer kontern: «Wir gewinnen dafür immer das Spiel, das ihr erfunden habt – den Krieg.» Solche Wortgefechte müssen nicht einmal unsympathisch sein, man könnte sie als friedliche Auseinandersetzung zweier ehemals unerbittlicher Feinde sehen.
Wenn man allerdings einer solchen Polemik einen sarkastischen Ton verleiht und dies in Momenten emotionaler Anspannung, wie es in Wettbewerben der Fall ist, kann dies eine Verbalisierung des Krieges sein. So, wie Krieg körperliche Gewalt bedeutet, können auch Worte die Würde, den Stolz und die Ehre einer Nation verletzen – und das kann schmerzhafter sein als physische Gewalt.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 11.10.13.
Übersetzung aus dem Serbischen von Amir Mustedanagić.