Unter Viktor Orbán sind die Zeiten für Roma in Ungarn nicht gerade besser geworden. Doch in Budapest haben ein paar Frauen ein Rezept für eine bessere Perspektive gefunden: Kochen gegen Vorurteile und Diskriminierung. Und das funktioniert. Eine Reportage zum internationalen Tag der Roma.
Malvin Német ist feierlich zumute. «Ich bin Tante Malvin», sagt sie zu ihren Gästen, die sie bis jetzt noch nicht kannten. Dann verkündet sie mit ihrer tiefen und lauten, ja fast männlichen Stimme das Menü: «Heute gibt es eine Sauerkraut-Speck-Suppe als Vorspeise, dann geht es weiter mit geräuchertem Hähnchen in Paprika-Tomaten-Sosse.»
Tante Malvin ist 70 Jahre alt, klein – und immer gut gelaunt. Nicht selten tanzt sie vor den Kochtöpfen und singt Volkslieder dazu. Und in Bewegung ist sie immer, mit ihrem Holzlöffel in der Hand und ihren altmodischen Ohrringen. «Als Nachtisch backen wir gleich einen zsurmó, also eine Art Nudelauflauf mit Pflaumenmousse», sagt sie. Ihre schwarzen Augen glitzern aus dem runden Gesicht. «Och wie lecker!»
Die aktive und nette ältere Dame ist Roma. Und das Herz des «Romani Platni», ein Restaurant in Budapest, aber nicht irgendeines. In den letzten drei Jahren haben immer mehr Einheimische und sogar ausländische Gäste hierhin gefunden. Mindestens zweimal im Monat öffnet Tante Malvin die Türen ihrer kleinen Wohnung im neunten Bezirk an der Tüzoltó utca. Dann landen die deftigen Gerichte bald auf den Tellern, und die Gäste werden neugierig.
Für Vegetarier wird das nichts. Aber für Gourmands ist die Roma-Küche ein Gedicht. (Bild: Mudra László)
«Jede Speise hat für uns ihre Geschichte und ihre Wurzeln in unserer Familientradition», erzählt die Rentnerin. «Hier kochen wir ausschliesslich nach traditionellen Roma-Rezepten, die den meisten Ungarn noch nicht so bekannt sind.» Das «Romani Platni» entspringt einer einfachen Idee: Als erstes Roma-Restaurant in Budapest überhaupt will es die Leute der Stadt in eine andere Geschmackswelt einführen. «Die Roma-Küche ist vielleicht nicht besonders raffiniert, wie es etwa die französische ist», sagt Éva Kisné, eine der jüngeren Köchinnen im Team, «aber sie setzt auf starke Kontraste und heftige Noten. Das macht sie durchaus interessant.»
Rund 20 Gäste, die meisten aus der gut gebildeten Mittelschicht, sind an diesem Donnerstagabend gekommen. Auch die Studentin Kata wollte die Leckereien probieren. «Es ist bestimmt kein Magerquark», sagt sie, als sie mit dem Hauptgericht fertig wird, «und nichts für Vegetarier.» Aber ansonsten könne sie den Ort nur empfehlen. «Alles schmeckt prima und das Konzept ist super. Eigentlich ist es viel mehr als ein Restaurant», stellt sie fest.
In der Tat geht es hier nicht nur um Kulinarik. Es geht auch um soziales Unternehmertum. In Ungarn sieht der Alltag der Roma nämlich düster aus. Armut, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit prägen seit eh und je ihre kleinen Dörfer. Und auch diejenigen, die in der Hauptstadt wohnen, sind oft arbeitslos und haben kaum Chancen auf sozialen Aufstieg. Umso mehr seit Viktor Orbán und seiner rechtspopulistischer Regierung. Unabhängige Roma-NGOs brauchen da erst gar nicht mehr mit staatlicher Unterstützung zu rechnen.
Die Mühe lohnt sich für die Frauen: Vielleicht klappts irgendwann ja auch mit einem eigenen Betrieb. (Bild: Mudra László)
Originelle Initiativen sind gefragt. Solche wie «Romani Platni». Die Roma-Frauen Möglichkeiten geben. Zum Beispiel: Ihre Kochkunst zeigen, einen wichtigen Teil der Roma-Kultur, und dabei gegen Diskriminierung und Stereotypen kämpfen.
Das Projekt hatte Ende 2012 ein Verein aus der Nachbarschaft ins Leben gerufen: Ferencvárosi Tanoda. Bis dahin kümmerte sich der Verein vor allem um Roma-Kinder, damit diese bessere Schulnoten erzielen konnten. Dann beschloss man, die Programme zu erweitern. Projektmanagerin Krisztina Nagy erinnert sich: «Irgendwann haben wir angefangen, uns auch Gedanken über die Eltern und Grosseltern dieser Kinder zu machen. Weil viele ältere Roma-Frauen kaum Arbeitserfahrung und damit auch keinerlei Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten, fragten wir uns: Was können die denn machen? Und natürlich können viele besonders leckere traditionelle Gerichte kochen.» Somit lag die Idee für ein Restaurant auf der Hand.
Tante Malvin und ihre Nachbarinnen waren vom Vorschlag entzückt. Früher waren sie immer wieder auf Sozialhilfe angewiesen. Heute mache es richtig Spass, zusammen in der Küche zu arbeiten. Und das Projekt sorge erst noch – endlich – für positive Schlagzeilen über die Roma. «Jeden Tag hört man nur von Arbeitslosigkeit oder Analphabetismus. Schluss damit! Jetzt machen wir halt auch was Schönes», sagt Tante Malvin und lächelt stolz.
Die Gäste am Tisch sind meist gut gebildet, und auch Touristen finden inzwischen hierhin. (Bild: Mudra László)
Das Budapester Institut für eine Offene Gesellschaft (OSI), gegründet von einem ungarischstämmigen Milliardär, George Soros, fand die Idee ebenfalls sehr gut – und stellte rund 10’000 Euro zur Verfügung. «Davon konnten wir eine kleine Wohnung im Erdgeschoss entsprechend einrichten», sagt Projektmanagerin Nagy. Für eine günstige Werbekampagne habe es auch noch gereicht. Dabei konzentrierte man sich in erster Linie auf die sozialen Medien, «alles andere hätte dieses Minibudget natürlich überschritten», sagt Nagy. Aber der Grossteil der Gäste sei sowieso jung und informiere sich im Internet.
Die Rechnung ging auf: Die Plätze im «Romani Platni» werden im Netz reserviert, manchmal mehrere Wochen im Voraus. Fast immer ist das Restaurant ausgebucht. Sogar Kaderleute von der Polizei fragten nach der offiziellen Eröffnung an, ob die Damen vielleicht auch für einen internen Event mit 400 Beamten kochen könnten. «Klar können wir», entschied Tante Malvin prompt.
Das kleine Wohnungsrestaurant wurde immer bekannter. «Den Köchinnen konnten wir am Anfang nur eine symbolische Entschädigung zahlen», sagt Projektmanagerin Nagy. «Doch das war quasi Teil des Deals. Unser Ziel ist nicht, selber Arbeitsplätze zu schaffen, sondern den Menschen eine Chance zu geben, später ihr eigenes Kleinunternehmen zu gründen.»
Schlicht und einfach: lecker! (Bild: Mudra László)
Tatsächlich erwies sich die Initiative als eines der erfolgreichsten Beispiele nachhaltigen sozialen Unternehmertums in Ungarn. Im ersten Jahr konnten alle zwei Wochen 15 bis 25 Gäste bekocht werden, jetzt kommen zahlreiche Sonderabende und Events dazu. Nach dem Essen treten oft Roma-Bands auf und sorgen für die passende Stimmung.
Die Wohnung kann nach und nach hübscher eingerichtet werden und die Küche besser ausgestattet. Und als das kleine Restaurant in den Empfehlungen internationaler Reiseportale auftauchte, sassen plötzlich auch die ersten ausländischen Touristen am Tisch. Seitdem hat die Webseite des Projekts auch Englisch gelernt.
«Romani Platni» hat sich als eine kleine Institution der ungarischen Gesellschaft etabliert. Die Köchinnen bekommen ständig Einladungen und überlegen jetzt, das Geschäft zu erweitern, indem sie parallel zum gemeinschaftlichen Projekt ihren eigenen Laden eröffnen. Die Devise «nur traditionelle Roma-Gerichte» soll auch weiterhin gelten, versichert Tante Malvin. Probehalber fingen die Frauen vor einigen Monaten mit einer kleinen Bäckerei an. Dort bieten sie hauptsächlich bodag an, ein ofenfrisches, riesiges Weissbrot aus Hefeteig. Bisher läuft es sehr gut, «morgens stehen die Ungarn Schlange vor unserer Tür», lacht Éva Kisné. «So etwas konnte ich mir vor drei Jahren nur erträumen.»
Seit 1990 wird am 8. April der Internationale Tag der Roma gefeiert. Damit soll vor allem die Kultur dieser ethnischen Gruppe bekannter werden. Vielen Menschen ist diese weitgehend unbekannt. Schätzungen zufolge leben weltweit zwischen 10 und 20 Millionen Roma, eine genaue Zahl lässt sich kaum ermitteln. Die konservativsten Statistiken gehen von mindestens vier Millionen auf dem europäischen Kontinent aus, realistischere von 14 Millionen. Die ost- und südosteuropäischen Länder, aber auch Spanien und Frankreich beheimaten grössere Roma-Minderheiten, die historisch ein nomadisches Leben führten und aus der Mehrheitsgesellschaft weitgehend ausgeschlossen waren. Ihr Wechsel zu einem sesshaften Lebensstil scheiterte häufig an massiven politischen Hürden, etwa dem Verbot von Grundstückseigentum. In den 1930er- und 1940er-Jahren wurden hunderttausende Roma in vielen europäischen Ländern deportiert und ermordet. Diese Ereignisse gelten bis heute als einer der Teile des Holocaust, von dem bis heute nur wenig bekannt ist. Er ist weder ausreichend erforscht noch aufgearbeitet. Die Machtübernahme durch die kommunistischen Parteien im ehemaligen Ostblock brachte den Roma in der Regel mehr gesellschaftliche Teilhabe vor allem durch Beschäftigung. Nach dem Fall der Berliner Mauer gingen diese Fortschritte allerdings weitgehend verloren, als die Roma zu den ersten Opfern der Massenentlassungen wurden. In Ländern wie Rumänien, Ungarn oder Serbien hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten trotz zahlreicher EU-finanzierter Programme die Situation dieser Minderheit kaum verbessert: Strukturell bedingte Ausgrenzung und Armut bleiben massiv.