Der Vorwurf ist nicht neu, seit der Abstimmung vom 9. Februar aber akut: Schweizer Medien beschreiben Migration als Problem und lassen Migranten selber kaum zu Wort kommen. Verantwortliche von SRG und Tamedia wehren sich.
Medien und Ausländer haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind oft die Sündenböcke. Während im Vorfeld der Abstimmung über die SVP-Initiative vom vergangenen 9. Februar viel von den Problemen durch die wachsende Zuwanderung die Rede war, fanden sich nach dem unerwarteten Resultat plötzlich die Medien in der Rolle der Schuldigen wieder.
Dichtestress, Kampf um Arbeitsplätze, Überfälle an Bahnhöfen – das sind Schlagwörter, die nicht nur, aber immer wieder in Verbindung mit dem Thema Migration gesetzt werden. «Solange dem Souverän Ausländer in den Medien, wie zum Beispiel den Hauptnachrichten-Sendungen der SRG, in erster Linie als Problem präsentiert werden, wäre jeder Entscheid zugunsten der Ausländer eine Überraschung», stellte das Medienforschungsinstitut Media Tenor zwei Tage vor dem Abstimmungssonntag fest.
Das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der Universität Zürich hob in seinem Abstimmungsmonitor die Berichterstattung von «Tages-Anzeiger» und «20 Minuten» speziell hervor: Sie wiesen eine im Vergleich zu früheren SVP-Initiativen bemerkenswert wohlwollende Wertung der Vorlage auf. Das FÖG analysiert vor nationalen Abstimmungen jeweils sämtliche redaktionellen Beiträge der überregionalen Tageszeitungen.
Migranten kommen nicht zu Wort
In den Wochen nach dem Urnengang war die Verantwortung der Medien ein viel debattiertes Thema – an der TagesWoche-Veranstaltung «Mittendrin: Integriert?!», in Talksendungen und Blogeinträgen. Über den direkten Einfluss der Medienberichterstattung auf das Abstimmungsverhalten lässt sich streiten, denn wissenschaftlich messbar ist er nicht. Die Frage, ob sich die hiesige Bevölkerung in den Medien ein umfassendes Bild von der Schweiz als Migrationsgesellschaft machen kann, muss dennoch gestellt werden.
Die Publizistikwissenschaft weist seit Jahren darauf hin, dass der «Normalfall Migration» in den Medien kaum zur Geltung komme und Menschen mit Migrationshintergrund selten die Chance haben, sich in Beiträgen selber zu äussern. Dies, obwohl inzwischen ein Drittel der in der Schweiz wohnhaften Menschen Migranten oder Nachkommen von Migranten sind. Diese Menschen beklagen in Umfragen, dass in den Medien insgesamt ein zu negatives Bild von ihnen gezeichnet werde.
«Wir begegnen diesen Menschen mit viel Sympathie»
Vorwürfe, die Medienvertreter natürlich ungern auf sich ruhen lassen. «Ich bin der Meinung, dass das nicht zutrifft, wenn man den Fächer öffnet und die letzten Jahre anschaut», sagt etwa Tristan Brenn, Chefredaktor TV bei SRF. «Insbesondere in längeren Formaten wie den Dok-Sendungen oder der ‹Rundschau› zeigt SRF immer wieder Porträts von Migrantinnen und Migranten, die es in der Schweiz geschafft haben. Diese Porträts sind durchaus aus der Perspektive der Zuwanderer erzählt und begegnen diesen Menschen mit sehr viel Sympathie.»
Tatsächlich zeigt eine Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2008, dass die SRG-Programme im Vergleich zu privaten Radio- und Fernsehsendern den grössten Anteil an Migrationsthemen und am wenigsten negative Konnotationen aufweisen.
Auch dem als links-liberal geltenden «Tages-Anzeiger» warf man nach dem Ja zur Einwanderungsinitiative eine Berichterstattung zugunsten der Initianten vor. Inland-Chef Daniel Foppa sieht in den jüngsten politischen Ereignissen aber keinen Anlass, den redaktionellen Kurs zu überdenken: «Der ‹Tages-Anzeiger› hat im Vorfeld und im Nachgang der Abstimmung umfassend wie noch nie über eine Vorlage berichtet», sagt Foppa. «Wir haben die Vorteile der Zuwanderung genauso ausgeleuchtet wie deren Nachteile.»
«20 Minuten» gehört unter Jungen mit Migrationshintergrund zu den meistbeachteten Medien.
Auch Gaudenz Looser, Mitglied der Chefredaktion von «20 Minuten», ist überzeugt: «Wir haben unseren Job sehr gut gemacht.» Die Pendlerzeitung gehört laut Umfragen unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund zu den meistbeachteten Nachrichtenmedien. Die «Basler Zeitung», die seit der Übernahme der Chefredaktion durch Markus Somm als Sprachrohr der SVP kritisiert wird, liess mehrere Anfragen der TagesWoche unbeantwortet.
Heinz Bonfadelli vom Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich (IPMZ) findet, die Berichterstattung zur Abstimmung sei relativ ausgewogen aufgefallen. Die Berücksichtigung von Pro- und Kontra-Stimmen in jedem Beitrag sei Standard bei Schweizer Medien. Europaweit habe das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in den letzten zehn Jahren aber eine deutlich negative Färbung des Migrationsdiskurses ausgelöst, sagt der Publizistikprofessor. «Es ist klar, dass diese Entwicklung in den Medien Niederschlag findet.»
Unreflektierte Wortwahl
Wenn eine Initiative zur Abstimmung kommt, die den Bau von Minaretten problematisiert oder Kriminalität anhand von Straftätern aus dem Ausland fokussiert, wird dies zwangsläufig zum Thema in der Berichterstattung. Denn die Medien kommen nicht umhin, sich an Nachrichtenwerten wie Aktualität (politischer Vorstoss), Stellung der Beteiligten (die SVP als gewichtige Partei) oder der Aussagekraft von Bildern (Burka und Minarette) zu orientieren. Hinzu kommen sprachliche Elemente, die sich oft unbemerkt festsetzen, wie TV-Chefredaktor Tristan Brenn mit Blick auf die jüngste Abstimmung anmerkt: «Rückblickend stört mich die Verwendung des Begriffs ‹Masseneinwanderung›, wie er bei allen Medien – nicht immer, aber immer wieder – auftrat. Wir haben unreflektiert die Perspektive und Wortwahl der Initianten übernommen.»
Manche Medienschaffende wehren sich gegen die Einschätzung, ihre Themenwahl unterliege dem Diktat öffentlichkeitswirksamer Kampagnen. Gaudenz Looser von «20 Minuten» macht aber deutlich: «Wenn es einer Kampagne gelingt, ein Thema zum Gesprächsstoff zu machen, können wir uns dem auch nicht entziehen.» Und er fügt an: «Wir haben keine Verpflichtung zum Vollprogramm und müssen nicht jede Meldung aufgreifen. Unsere Aufgabe ist es, die gesellschaftliche Realität zu zeigen.»
«Wir sind Dienstleister. Was wir tun, tun wir, um unsere Leserinnen und Leser glücklich zu machen.»
An dieser Realität jedoch spalten sich die Geister. Die in Basel wohnhafte Pflegefachfrau aus Polen lebt in einem ganz anderen Umfeld als der Innerschweizer Landwirt, die Journalistin mit türkischen Wurzeln sieht die gesellschaftliche Realität der Schweiz mit anderen Augen als der in Zürich stationierte Finanzchef aus London. Das Publikum bringt den Medien, insbesondere den überregionalen, also ganz unterschiedliche ideologische und inhaltliche Interessen und Erwartungen entgegen.
«Die Journalistinnen und Journalisten des ‹Tages-Anzeigers› denken beim Recherchieren und Schreiben in der Regel nicht vom potenziellen Lesepublikum, sondern von der Geschichte her», sagt Inland-Leiter Daniel Foppa dazu. «Wenn eine Geschichte relevant und überraschend ist und zudem Lesegenuss bietet, wird sie beim Grossteil eines wie auch immer zusammengesetzten Lesepublikums auf Anklang stossen.»
Gefahr der Blasenbildung
Die umgekehrte Strategie verfolgt «20 Minuten»: «Wir sind Dienstleister», sagt Gaudenz Looser. «Was wir tun, tun wir, um unsere Leserinnen und Leser glücklich zu machen.» Dank der Möglichkeiten, die der Online-Journalismus heutzutage biete, müssten sich die Redaktoren dabei nicht mehr auf ihr Bauchgefühl verlassen, sondern könnten anhand von Klickraten und Kommentaren ziemlich genau erkennen, was die Leserschaft bewege.
Beide Herangehensweisen bringen ihre Risiken und Nebenwirkungen mit sich. Redaktoren, die sich auf ihre eigene Einschätzung verlassen, bewegen sich möglicherweise in einer Blase: Sie kommunizieren mit ihresgleichen, der Perspektivenwechsel ist gedanklich wie räumlich aufwendig, nicht selten fehlen dazu die Ressourcen. Wer sich an den Interessen einer vermeintlichen Mehrheit orientiert, läuft wiederum Gefahr, manche Themen zu Selbstläufern zu machen und leisere Stimmen, die ebenfalls relevant wären, zu überhören.
Keine Sonderbehandlung
Für Publizistikprofessor Heinz Bonfadelli bedeutet dies: «Im Nachgang zur Abstimmung vom 9. Februar müssen die Schweizer Medien darüber nachdenken, wo sie ihre redaktionellen Ressourcen einsetzen wollen. Tun sie das nur im Bezug auf vordergründig interessant erscheinende Gruppen, oder nehmen sie als lokales Medium auch eine gesellschaftliche Verantwortung wahr?» Für Bonfadelli würde Letzteres beinhalten, vermehrt Bezüge zu Minoritätsgruppen herzustellen. «Das heisst nicht, dass Migrantinnen oder alte Menschen zum dominierenden Thema werden müssen. In der Berichterstattung sollte man sich aber jeweils verstärkt überlegen, welche Auswirkungen aktuelle Themen auf diese Gesellschaftsgruppen haben.»
Eine «Sonderbehandlung» von Minoritätsgruppen kommt für Gaudenz Looser von «20 Minuten» nicht in Frage. «Unsere Zielgruppe ist die gesamte 16- bis 25-jährige Bevölkerung der Schweiz. Dazu gehören selbstverständlich auch Migrantinnen und Migranten.» Es sei aber nicht Aufgabe einer Pendlerzeitung, sich für Integration einzusetzen, indem bestimmte Informationen hervorgehoben und andere verschwiegen würden. Auch für Daniel Foppa vom «Tages-Anzeiger» machen redaktionelle Vorgaben oder eine Sensibilisierung der Mitarbeitenden bezüglich kultureller Vielfalt und den Umgang mit Minderheiten keinen Sinn.
Die Grenzen der Objektivität
Aus Sicht von Medienforscher Bonfadelli wären solche Überlegungen aber gerade angesichts der Finanzierungskrise im Printmedienmarkt lohnenswert. Eine stärkere inhaltliche Fokussierung auf Migrantengruppen – beispielsweise mit spezifischen Veranstaltungshinweisen oder Hintergrundberichten zu politischen Ereignissen in den Herkunftsländern – könnte sowohl Leser als auch neue Anzeigenkunden anziehen.
Die Medien sind nicht nur in der Findung neuer Finanzierungsmodelle gefordert, sondern müssen sich auch Gedanken darüber machen, wie sie komplexe Phänomene wie Migration einem breiten Publikum zugänglich machen. Der um Objektivität und Ausgewogenheit bemühte Nachrichtenjournalismus scheint nämlich an seine Grenzen zu stossen, wenn Unbekanntes in den Alltagstrott der Menschen einbricht und die Unsicherheit in einer globalisierten Welt überhand nimmt.
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*Jacqueline Beck ist freie Journalistin in Basel.