Das Dach der Welt wackelt

Schmelzende Gletscher, heftige Niederschläge, die Ackerböden in die Flüsse spülen, und Seen, die zu überlaufen drohen: Am Himalaya kämpfen die Menschen mit den Folgen der globalen Erwärmung.

Der Manaslu von Süden. Im Vordergrund das buddhistische Ribum-Kloster bei Lho. (Bild: Heiner Hiltermann)

Schmelzende Gletscher, heftige Niederschläge, die Ackerböden in die Flüsse spülen, und Seen, die zu überlaufen drohen: Am Himalaya kämpfen die Menschen mit den Folgen der globalen Erwärmung.

Plötzlich erfüllt ein dröhnender Knall den Talkessel. Ein Poltern folgt, als würde ein Güterzug aus den Schienen springen. Dann wird die ­Ursache sichtbar: Aus der oberen Gletscherwand des Manaslu hat sich ein Eis­brocken gelöst, gross wie ein Schiffscontainer. Sich überschlagend und in kleinere, aber immer noch ansehn­liche Stücke zerspringend donnert er ins Tal.

Rund 1000 Meter sind es bis zum Birendra-See, von dem der Gletscher sich vor 30, 40 Jahren zurückgezogen hat. Heute thront die Gletscherwand etwa 500 Meter über dem Wasserspiegel. Immer wieder schlagen Brocken auf den glatt geschliffenen Felsplatten auf, Eisstaub erfüllt die Luft. Minuten später treiben grosse Eisplatten auf der Wasseroberfläche.

Irgendwann wird die Barriere dem Druck des Sees nicht mehr standhalten.

Den Pegel des Sees hat dieser Eisbrocken kaum beeinflusst, ein paar Wellen schwappen ans Ufer. Der ­Abfluss des Sees ist schmal und wird von Felsen begrenzt. Um den Pfropfen aus Endmoränenschutt, der den natürlichen Damm bildet, wegzusprengen, müssen sich schon ganz andere Brocken vom Manaslu-Gletscher lösen. Dann aber wären viele Menschen, die am Ufer des Budhi Gandaki im Herzen Nepals leben, durch die Flutwelle gefährdet. Doch in Samagoan, dem ersten Ort unterhalb des Sees, ist man zuversichtlich, dass das nicht so bald geschieht.

Es gibt andere Gletscherseen, die den Fachleuten vom International Center for Integrated Mountain De­velopment (Icimod) in Kathmandu Sorgen bereiten. Einer liegt gerade jenseits des Manaslu-Nordgrates oberhalb des Marsyangditals. Der Thulagi-Gletscher mündet direkt in den gleichnamigen See.

Der Gletscher schmilzt, der See wächst: Von 1995 bis 2008 hat die Oberfläche um fast ein Viertel zugenommen. Hier bilden keine Felsen eine natürliche Abflussbarriere, der Damm besteht ausschliesslich aus Moränenschutt: Felsbrocken, verbacken mit dem Gesteinsmehl, das der Gletscher in Tausenden von Jahren vor sich her geschoben und beim Rückzug hier abgelagert hat.

Höchste Gefahrenstufe

Irgendwann, so die Wissenschaftler, wird die Barriere dem Druck des steigenden Sees nicht mehr standhalten. Sie haben dem See die höchste Gefahrenstufe gegeben. Ihre Sorge ist, dass ein Bruch des Damms Leben und Existenzgrundlage von Zehntausenden Menschen gefährdet. Dazu kommt: Im Marsyangdital sind zwei Wasserkraftwerke bereits im Bau, ein weiteres ist geplant. Sie sollen Energie liefern und sowohl die Entwicklung des bitterarmen Nepal vorantreiben als auch für Deviseneinnahmen sorgen. Die grossen Nachbarn Indien und China haben schon länger Interesse an den natürlichen Ressourcen Nepals. Eine Zerstörung der Kraftwerke wäre für Nepal eine Katastrophe.

Der Thulagi ist nicht der einzige See in der höchsten Gefahrenstufe, fünf weitere Gletscherseen stehen unter ständiger Beobachtung der Wissenschaftler. Erstmals auf die Gefahr aufmerksam geworden sind sie Mitte der 1980er-Jahre, als ein Gletschersee-Ausbruch im Everestgebiet ein gerade erst errichtetes Wasserkraftwerk zerstörte. Seither hat es weitere sogenannte GLOF gegeben, «glacial lake outburst floods», und manche Wissenschaftler geben dem anthropogenen, also vom Menschen verursachten Klimawandel die Hauptschuld am Schwinden der Gletscher und an der Zunahme der See-Ausbrüche.

Dorothea Stumm, Glaziologin bei Icimod, ist vorsichtiger bei der Schuldzuweisung. «Wir wissen einfach zu wenig darüber, warum die Gletscher sich zurückziehen», sagt sie. Mehr Wissen zu erwerben ist im Himalaya jedoch nicht so einfach, und das liegt nicht nur daran, dass die Infrastruktur in den Himalaya-Staaten in keinem guten Zustand ist. In den Alpen, sagt Stumm, fahre man mit der Seilbahn zum Gletscher, oder man fliege mit dem Helikopter hinauf. Im Himalaya geht das nicht, selbst wenn das Fluggerät zur Ver­fügung stünde. «Schneeschippen auf 5000 Meter Höhe ist eine ganz andere Geschichte», weiss die Schweizerin, die seit drei Jahren für Icimod in Kathmandu arbeitet, aus eigener Erfahrung. Man braucht die paar Tage Anmarschweg, um sich an die Höhe anzupassen.

Die Menschen fliehen vor den Zerstörungen von Ort zu Ort.

«Es ist wichtig, die Prozesse zu verstehen», sagt die Wissenschaftlerin. «Deshalb muss man die Gletscher-Massenbilanzen langjährig und kontinuierlich messen.» Im Himalaya hat man solche Daten zwangsläufig nur von wenigen Gletschern. Und man kann nicht sagen, «ob diese Gletscher dann auch repräsentativ sind». Stumm warnt vor Kurzschlüssen und nennt ein Beispiel: Als die Wissenschaftler von Icimod die Archive nach aussagekräftigen Daten über die Himalaya-Gletscher durchforscht haben, sind sie von den 1980er- zu den 1990er-Jahren «auf einen Riesensprung» gestossen: Die Gletscherfläche hat damals massiv abgenommen. «Wir wissen aber auch, dass in den 1980-er Jahren vieles, was einfach nur Schnee war, fälschlicherweise als Gletscher kartiert worden ist.»

Man Bahadur Khatri, Sozialanthropologe an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu, ist genervt, wenn er mit solchen naturwissenschaftlichen Diskussionen konfrontiert wird. Khattri ist überzeugt, dass das Klima sich ändert und dass der Mensch dafür die Ursache ist. «Ich bin kein Naturwissenschaftler, ich messe nicht Tag für Tag die Niederschläge oder die Temperatur. Ich beobachte die Menschen. Und dort sehe ich, dass sich das Klima ändert: Die Menschen reagieren darauf, ihr Leben ändert sich, ihre Kultur. Sie müssen sich an die veränderte Natur anpassen.»

Wenn man vom 5416 Meter hohen Thorong-La-Pass nördlich des Annapurnamassivs nach Mustang hinabsteigt, sieht man eine andere Welt. Eine Hochwüste hat sich dort im Regenschatten des Himalaya gebildet, braune, karge Hänge, gekrönt von weiss überzuckerten Schneegipfeln und tiefblauem Himmel; in den Talebenen liegen Äcker, die die Menschen der Natur mühsam abgerungen haben.

Prekäre Lebensbedingungen

Kartoffeln pflanzen sie hier an, Erbsen, Weizen, sie halten Ziegen, Schafe und Yaks, die der Kälte angepassten Hochlandochsen. Der Kali Gandaki-Fluss hat hier eine der tiefsten Schluchten der Welt durch den Himalaya gefräst: Im Osten baut sich das Annapurna-Massiv auf, im Westen der Dhaulagiri, beide mehr als 8000 Meter hoch. Auch als Laie begreift man schnell, wie fragil die Natur hier ist. Überall durchziehen tiefe Rinnen die Hänge, wo sich das Regenwasser seinen Weg ins Tal gebahnt hat. In der Ferne erkennt man deutlich die Spuren eines grossen Bergsturzes.

Khatri kennt in Mustang eine Reihe Beispiele, wie die steigenden Temperaturen die Lebensbedingungen der Menschen beeinflusst haben. Vor 20, 25 Jahren gab es in Choser, einer Provinz im oberen Mustang nahe der tibetischen Grenze, im Abstand von zwei Jahren zwei Ausbrüche von Gletscherseen. Sie geschahen tagsüber, so dass die Menschen sich rechtzeitig vor den Fluten in Sicherheit bringen konnten. «Viele Menschen verloren damals ihr Ackerland», sagt Khatri. In der Folge bekamen die Menschen vom Staat weiter talwärts neues Land zu­geteilt. «Aber jetzt haben sie dort Pro­bleme, ihre Felder zu bewässern. Es gibt einfach immer weniger Regen.» Zwei Dörfer planen schon eine erneute Umsiedlung.

Aber auch dort, hat Khatri beobachtet, sind die Lebensbedingungen alles andere als optimal: Die Bauern haben in ihrem neuen, etwa 3500 Meter hoch gelegenen Siedlungsgebiet bereits Apfelplantagen angelegt. Die aber sind massiv bedroht durch Erdrutsche von den benachbarten Hängen. Im Sommer hat Khatri mit ansehen müssen, welch verheerende Auswirkungen Niederschläge in dieser fragilen Landschaft haben können. «Das ganze Jahr über gab es kaum ­Regen, dann aber kam er und fiel in ­einer Stunde», erinnert er sich. Nur zehn Millimeter Regen massen die Meteorologen, doch diese zehn Liter pro Quadratmeter liessen einen Hang abrutschen, der Häuser und Felder beschädigte. Der Niederschlag, haben die Menschen beobachtet, fällt immer seltener als Schnee, der langsam taut, zeitverzögert abfliesst und so besser zu bewältigen ist.

Die Fluten werden heftiger

Auch ihre Regeln und Rituale müssen die Loba und Gurung in Mustang dem Klimawandel anpassen. Doch sie tun sich schwer damit, hat Khatri festgestellt. Der Zyklus von Aussaat und Ernte hat sich im Jahresverlauf um rund zehn Tage nach vorne verlagert, die in der Tradition dafür vorgesehenen und mit Ritualen hervorgehobenen Tage aber sind noch immer die alten. Die Folge: Die Feldfrüchte, obwohl längst reif zur Ernte, werden nicht in die Speicher gebracht. «Die in ihrer Tradition verhafteten Menschen riskieren, dass ihr Korn auf dem Acker verdorrt oder bei plötzlichem Regen unter Schlammlawinen begraben wird», sagt Khatri.

Ihrer Tradition können die Menschen in Mustang auch im Krankheitsfall nicht länger folgen. Sie greifen gern zu ihrer angestammten tibetischen Medizin: Blumen, Kräuter, Wurzeln, die bislang in ihrer näheren Umgebung wuchsen und, zu Pulver zermahlen, in unterschiedlichen Kombinationen zu Medikamenten zusammengemischt wurden. Nun finden sich aber, klimabedingt, nicht mehr alle Pflanzen an den Hängen, hat Khatri erfahren. Medizin muss nun teuer aus Tibet eingeführt werden.

Die Menschen versuchen, sich zu wappnen: mit Steinwällen, Bambuszäunen und befestigten Uferbänken.

Kenneth Bauer vom Dartmouth College in Hanover, USA, hat im Terai den Folgen des Klimawandels für die Menschen nachgespürt, in Nepals ehemals urwaldbedecktem Tiefland, das heute, nach weitgehender Aus­rottung der Malaria, der Brotkorb des Landes ist. Bauer hat in Udayapur ­geforscht, einem Distrikt nahe der indischen Grenze. Die Menschen dort, hat Bauer festgestellt, leiden zwar nicht unter häufigeren Überschwemmungen als früher. «Aber die Fluten, die kommen, sind heftiger.» Im Maplecroft’s Index, der die Anfälligkeit der Bevölkerung gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels bewertet, rangiert Nepal auf Platz vier von 170 Ländern.

Natürlich registrieren die Menschen laut Bauer die Zunahme der verheerenden Fluten und sie versuchen auch, sich dagegen zu wappnen: mit Steinwällen, Bambuszäunen und befestigten Uferbänken. Doch sie haben nicht genügend Mittel, um sich ge­nügend zu schützen. So sind sie gezwungen, immer öfter auf externe finanzielle Hilfe der Regierung oder von Nicht-Regierungsorganisationen zurückzugreifen. Die Alternative ist die Aufgabe des angestammten Lebensraums und die Migration in die Städte.

Für Man Bahadur Khatri ist finanzielle Hilfe für die Opfer des Klimawandels selbstverständlich. Die Industrieländer müssten nur genügend Geld bereitstellen. «Nepal ist nur für 0,25 Prozent der jährlichen Treib­hausgase verantwortlich», sagt Khatri. Die Industrieländer sollten endlich ihre Schuld eingestehen und handeln. «Wir leben alle in einer Welt. Es kann nicht sein, dass die einen gut leben auf Kosten der anderen.»

Von Klimagipfel zu Klimagipfel wird der Wandel verschoben

Die Weltklimakonferenz in Warschau, die vor ein paar Tagen endete, war ein weiterer Fehlschlag im Kampf gegen die Erderwärmung. Den Gipfel des Absurden bildete die Einigung auf den sogenannten Warschau-Mechanismus, über den die grössten CO2-­Sünder künftig die Entwicklungsländer für die Folgen des Klimawandels entschädigen sollen. Wie das Ganze funktionieren soll, weiss niemand. ­Beschlossen wurde nämlich nichts.

Bei genauem Hinsehen haben sich die Vertreter von 194 Staaten lediglich auf Formelkompromisse verständigt. Es gibt nun zwar einen Fahrplan bis zum nächsten Gipfel in Paris 2015. Dann soll endlich jener global gültige Vertrag geschlossen werden, der 2009 in Kopenhagen kläglich gescheitert war. Doch statt konkreter Ziele sollen die Staaten auf der Roadmap nach Paris lediglich unverbind­liche Beiträge zum Klimaschutz ­einzeichnen.Die Gründe dafür sind so offensichtlich wie verheerend.

Grob gesagt gibt es drei Parteien im Klimastreit. Da sind die Industriestaaten. Sie belasten die Umwelt am stärksten und sind ­dabei reich geworden. Die USA ge­hören dazu, Japan, Australien, auch Deutschland. Nun sollen sie zahlen, womöglich auf Wohlstand verzichten. Das wollen sie nicht, und das wollen auch ihre Bürger nicht. Erst recht nicht in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die zweite Gruppe bilden Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien. Sie streben mit aller Macht dorthin, wo die Industriestaaten bereits sind. Sie wollen den gleichen Reichtum. Um dies zu erreichen, holzen sie den Regenwald ab (Brasilien) und verpesten die Luft (China, Indien).

Zur Gruppe drei gehören die Ent­wick­lungs­länder. Sie sind die eigentlich ­Betrogenen in der Klimadebatte. Ihre Volkswirtschaften haben nicht die Kraft, einen wirtschaftlichen Aufholprozess zu starten. Stattdessen tragen sie die Verluste und Schäden. In Berggebieten wie im Himalaya schmelzen die Gletscher, der Anstieg des Meeresspiegels setzt tiefliegende Länder wie Bangladesch unter Wasser. Wehren können sich die Macht­losen dagegen nicht, auch bei einer Klimakonferenz nicht. Ulrich Krökel

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 29.11.13

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