Das Gerücht und seine Helfer

Das Gerücht gewinnt seine Kraft durch die unbedarfte Verbreitung. Das war in der Antike so und ist heute nicht anders.

Ein Gerücht in Gestalt des Monstrums Fama greift um sich. – Illustration aus einem frühen Druck von Vergils «Aeneis».

 

Das Gerücht gewinnt seine Kraft durch die unbedarfte Verbreitung. Das war in der Antike so und ist heute nicht anders.

Im Zeitalter von Facebook und Twitter verbreiten sich Gerüchte bisweilen mit Überschallgeschwindigkeit. In der klassischen Antike taten sie das wahrscheinlich nicht ganz so schnell, aber doch mit beachtlichem Tempo. Jedenfalls zeichnet der römische Dichter Vergil (70 bis 19 v. Chr.) in seinem Epos «Aeneis» ein Bild des Gerüchts, das dies nahelegt.

Das Gerücht – Fama lautet seine lateinische Bezeichnung – ist ein gewaltiges schreckliches Scheusal mit schnellen Füssen und Flügeln. Kein Übel verbreitet sich schneller als es. Zu seinen Eigenheiten gehört, dass es im Laufe seiner Verbreitung an Kräften gewinnt. Ist es anfänglich noch klein, so wird es rasch grösser und wächst in den Himmel.

Verkörpert wird Fama bei Vergil durch ein gefiedertes Wesen mit unzähligen Augen, Mündern, Zungen und Ohren, das auch des Nachts nicht ruht und sowohl Lügen unter die Menschen bringt wie auch Dinge, die wahr sind. 

Auch Ovid (43 v. Chr. bis wahrscheinlich 17 n. Chr.), Vergils jüngerer Dichterkollege, kommt auf Fama zu sprechen. Allerdings tritt in seinem Epos «Metamorphosen» – anders als bei Vergil – Fama nicht direkt in Erscheinung. Statt sie vor uns auftreten zu lassen, gibt uns Ovid eine Schilderung ihres Palasts und ihres Gefolges.

Ein Haus voller Stimmen

Famas Palast, ein Haus aus tönendem Erz, befindet sich im Zentrum der Welt, wo Erde, Meer und Himmel sich berühren und von wo man alles sehen und hören kann, mag es sich auch an einem noch so entfernten Ort abspielen. Das Dach hat unzählige Luken und die vielen Türen sind nie geschlossen.

Das ganze Haus dröhnt, ist erfüllt vom Widerhall der Stimmen, wiederholt, was es vernimmt. Nirgends ist Ruhe, nirgends Schweigen. Richtig lärmig geht es darin allerdings nicht zu und her – man hört lediglich leises Tuscheln.

In der Menge der unzähligen Gerüchte im Palast lassen sich auch einige Gefolgsleute Famas ausmachen: die Leichtgläubigkeit, der unbedarfte Irrtum, die grundlose Freude, lähmende Ängste, die überraschende Empörung und Geflüster unbestimmten Ursprungs.

Falsches vermischt sich mit Wahrem

In Famas Hallen vermischt sich Wahres mit Falschem; beim Weitererzählen wächst das Ausmass des Erfundenen stetig, und jeder, der ein Gerücht weitergibt, erfindet etwas Neues hinzu.

Damit dürfte deutlich geworden sein, weshalb das Gerücht auch in der Antike keinen guten Ruf hatte. Denn am Ursprung eines Gerüchts mag zwar eine reale Begebenheit stehen (zwingend ist das freilich nicht: Ein Gerücht kann auch völlig aus der Luft gegriffen sein). Im Laufe seiner Verbreitung tendiert es aber dazu, immer fantastischere Züge anzunehmen. Damit unterscheidet es sich von einer glaubwürdigen und überprüfbaren Nachricht.

Das Gegenstück dazu ist eine bewusst in die Welt gesetzte Falschmeldung. Solche werden oft mit der Erwartung gestreut, dass sie zu Gerüchten mutieren und sich in den Köpfen der Leute festsetzen.

Emotionen statt Nachrichten

Bei Vergil – um zu unseren beiden römischen Dichtern zurückzukommen – verbindet Fama zwei unterschiedliche Tätigkeiten in ihrer Person. Zum einen hat sie ihre Augen und Ohren überall und sammelt den Stoff, aus dem Gerüchte werden. Zum andern obliegt es ihr, die Gerüchte unter die Leute zu bringen. Dies gilt im Prinzip auch für Ovids Fama.

Doch während bei Vergil die ganze Arbeit auf den Schultern des gefiederten Monsters ruht, kann sich Ovids Fama beim Sammeln und Verbreiten der Gerüchte auf unzählige Helfer stützen.

Besonders effizient dürften dabei neben der Leichtgläubigkeit und dem unbedarften Irrtum auch die Freude (insbesondere in der Gestalt der Schadenfreude), Ängste und die Empörung sein.

Sie motivieren – und das nicht nur in der Antike – Menschen dazu, Gerüchten Glauben zu schenken und sie weiterzuverbreiten. Und weil Gerüchte in einem emotional gedüngten Boden besonders gut gedeihen, finden sie auch leicht den Weg zu sogenannten Wutbürgern und -bürgerinnen.

Vernunftbürgerinnen und -bürger ihrerseits gehen Gerüchten weniger leicht auf den Leim. Es soll sich bei ihnen allerdings um eine aussterbende Spezies handeln. Aber das halte ich, mit Verlaub gesagt, für ein Gerücht.

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