Die Bewegung «Quantified Self» sieht einen Schlüssel zum besseren «Ich» in der statistischen Erfassung von Tätigkeiten, Stimmungen und Essgewohnheiten. Ihre Anhänger analysieren ihren Lebenswandel mit allerlei technischen Messgeräten bis zum letzten Schritt.
Es dürfte das bestdokumentierte Naturschauspiel seiner Art sein: Als im Februar 2013 über dem Ural in Russland ein Meteor niederging, zeichneten nicht eine oder zwei, sondern wohl Hunderte von Videokameras das Schauspiel auf. Die Objektive waren allerdings nicht gegen den Himmel gerichtet, um Meteoritenschauer einzufangen. Das Videomaterial stammt von den Dashboard-Kameras der russischen Autofahrer, die jeden Meter ihrer Fahrten nur zu einem Zweck aufzeichnen: Um nach Unfällen oder Polizeiübergriffen zu ihrem Recht zu kommen.
Datensammelwut ist längst keine Monopol staatlicher Bürokratie oder privatwirtschaftlichen Profitdenkens mehr. Wir alle umgeben uns mit Sensoren, Messgeräten und Sendern und sammeln und verschicken den ganzen Tag Millionen von Bytes. Texte und Fotos auf Twitter und Facebook; Standortmeldungen auf Foursquare und Google Latitude; Streckenprofile in Sport-Logging-Apps und Kalorienzahlen, Blutdruck- und Zuckerwerte in Gesundheitsdatenbanken. Im Jahr 2012 hat die Menschheit laut Internet-Ausrüster Cisco mehr Datenmaterial produziert als in den 5000 Jahren zuvor – zusammengefasst.
Neben der vor allem in Europa typischen Furcht vor dem Missbrauch all dieser Informationen macht sich seit fünf Jahren weltweit eine Bewegung breit, die den umgekehrten Ansatz verfolgt: mehr Lebensqualität, mehr Effizienz und mehr Gesundheit durch noch mehr persönliche Daten. «Quantified Self» wurde in San Francisco gegründet und basiert auf der Idee, dass wir mit all den Daten, die wir selbst oder andere über uns sammeln, ein statistisches Bild unseres Gesundheits- und Leistungszustands machen können, das besser ist als der jährliche Generalcheck beim Arzt.
Nicht nur Sport-, Ernährungs- und Technikfanatiker haben angefangen mit elektronischen Armbändern, GPS-Uhren und iPhone-Apps ihre Trainings-, Ess- und Schlafgewohnheiten minutengenau zu erfassen. In Meetups und grossen Konferenzen teilen die Anhänger der Bewegung Erkenntnisse aus ihren Statistiken, Erfahrungen mit Geräten und Software und geben der rasch wachsenden Zahl an Herstellern Inputs für neue Erfassungsmethoden.
Jede halbe Stunde ein Foto
«Ich habe im vergangenen Jahr mehr als einen Viertel meiner Zeit – nicht der Wachzeit, sondern der gesamten Zeit! – vor dem Computer verbracht.» Das hat Mathematiker Stan James, Aktivist der Kerngruppe von Quantified Self in San Francisco, mittels eines einfachen Programms festgestellt. Es nimmt alle halbe Stunde ein Bild von ihm auf, wenn er vor seinem Desktop- oder dem Notebook-Bildschirm sitzt. «Oder wenn ich liege. Die Auswertung der Bilder hat mir gezeigt, dass ich viel zu oft auch noch im Bett am Bildschirm bin.» Seine Konsequenz: Eine Schaltuhr kappt ihm zu Hause inzwischen jeden Abend um halb elf den Internetzugang.
Wie Millionen andere zeichnet James aber auch seine Trainingszeiten beim Joggen und Radfahren auf, speist sie in eine Datenbank ein und lässt sich von den Steigerungen seiner Leistung motivieren. Die Veröffentlichung der Daten auf Facebook oder Twitter sorgt je nach Perspektive für einen freundlichen Wettbewerb oder für selbstauferlegten Gruppendruck, wie es ein Autor der NZZ erfahren haben will.
Den Nutzen der Datensammlerei sehen die Anhänger der Bewegung keineswegs rein egoistisch. Als klinische Feldtests von bisher ungekannten Ausmassen könnten die Informationen helfen, neue Medikamente und Behandlungsmethoden bei Krankheiten zu entwickeln. Wissenschafter wie Doug Kanter, selbst Diabetes-Typ-1-Patient, entdecken anhand der Messreihen neue Zusammenhänge zwischen körperlicher Fitness und Medikation.
Trotz solch gemeinschaftlichen Nutzens sieht Hannes Gassert, Vizepräsient von OpenData.ch, kaum Parallelen zwischen seiner Bewegung und «Quantified Self». Die Ziele von Open Data bestünden eher darin, strukturierte Informationen aus Sammlungen von Organisationen, namentlich der öffentlichen Hand, öffentlich zugänglich und weiterverwendbar zu machen – Informationen, die just gerade nicht auf einzelne Personen bezogen sind.
«Dabei geht es um drei Dinge: Zunächst ist es technologiestrategisch machbar, da man jetzt jedem grosse Datenmengen auch ohne einen Lastwagen zur Verfügung stellen kann. Zweitens sollte eine auf Partizipation ausgerichtete Gesellschaft auch die entsprechende Transparenz herstellen, und drittens vervielfacht sich der volkswirtschaftliche Nutzen der Daten, wenn sie der Allgemeinheit offen stehen – aus mageren Einnahmen aus dem Verkauf von Datenpaketen wird breit gefächerter Mehrwert.»
In den personen- und egobezogenen Messreihen der Quantified-Self-Bewegung sehen Kritiker – namentlich in Europa – eher eine Bedrohung der Freiheit des einzelnen. Man verabschiede sich von einer Vernunft, die zum Bestimmen des richtigen Lebens keinen Taschenrechner brauche, klagt etwa Schriftstellerin Juli Zeh und bezeichnet die Datenloggerei als «Männliche Magersucht». Wenn die bisherige Norm, die auf gesundem Menschenverstand basierte, durch exakte Messmethoden verschärft werde, sei der Weg zum von Krankenkassen vorgeschriebenen Lebensstil nicht mehr weit.
«Wäre es denn so schlimm, wenn sich die Gesamtgesundheit der Bevölkerung verbessert, weil die Individuen aufgrund des Kostendrucks gesünder leben?», wirft Stan James dagegen ein. Der Standard unserer Freiheit beruhe auf schwammigen Grenzen, die nur deswegen schwammig seien, weil man sie bisher nicht habe messen können. Die Anwendung des Verursacherprinzips widerspreche auch in einer Gesellschaft nicht der Vernunft, die in wesentlichen Belangen auf Solidarität setze. Sonst wäre auch eine Gurtentragepflicht im Auto oder die Schweizer Kehrichtsackgebühr abzulehnen, welche beide über monetäre Anreize für einen deutlichen Rückgang des Schadens gesorgt haben.
Wenn also mehr Daten zu eindeutigeren Rückschlüssen führten, könnten alle davon profitieren, sagt James. Daraus erwächst die Forderung, mehr Daten zu bekommen. Hersteller von Messgeräten werden regelmässig aufgefordert, den Kunden ihre Informationen in einer Form anzubieten, die weiterverarbeitet werden kann. Weil diese «Befreiung der Daten» aber deren Geschäftsmodell widersprechen, bleiben sie ungehört. Information gilt als das «Erdöl des 21. Jahrhunderts», und deshalb kann der Nutzer eines Sportloggers seine Informationen nur im Web und der Träger eines 30’000 Dollar teuren Herzschrittmachers gar keine Daten über sein eigenes Herz erhalten.
Quantified Everything
Zu den aussagekräftigsten Daten über unser Leben gehören unsere Einkaufsgewohnheiten. Versuche in den USA, an die Informationen in Kundenkarten-Programmen heranzukommen, seien kläglich gescheitert, berichtet Stan James. In der Schweiz lässt zumindest die Migros die Cumulus-Kunden jederzeit via Website Einblick in ihre detaillierten Daten nehmen: Weil sie es ohnehin aufgrund des Datenschutzgesetzes tun muss.
So treiben die Selbstvermesser mit ihrer Begeisterung für immer mehr und detailliertere Daten den nächsten angekündigten Technologie-Hype an – das «Internet der Dinge». Die Maschinen und Geräte um uns herum werden ganz ohne Zutun Daten austauschen und auf Informationen reagieren. Sensoren am Auto melden zu tiefen Reifendruck dem Fahrer und Ölverschlammung direkt dem Wartungscomputer der Garage; der oft erwähnte Kühlschrank bestellt frische Milch, und die Ampelanlagen in der Stadt fühlen den sich aufbauenden Stau und veranlassen die Navigationssysteme in den Autos, Alternativen so miteinander zu verhandeln, dass keine weiteren Staus entstehen. Quantified Self für alles und jedes.
Es ist der technokratische Traum von selbstheilenden Systemen, der Wirklichkeit wird, wenn nur genug Daten ausgetauscht werden.