Sie ist jung, frech und eine Frau. Also alles, was man(n) im Fasnachts-Comité lange Zeit nicht war. Aber die Welt ändert sich auch da: Annicken Gravino (36) ist seit einem halben Jahr Comité-Mitglied – und hat heute den Hut erstmals (nicht) gelupft.
Rösli, Mimösli, Cola-Fröschli, Schnaps. Annicken Gravino kommt kaum nach mit dem Annehmen der Geschenke, die sie von den Cortège-Teilnehmern erhält. Oder sollte es heissen: Bestechungs-Geschenke? Annicken Gravino ist schliesslich nicht (mehr) irgendeine Fasnächtlerin – sie ist sozusagen DIE Fasnacht. Als Mitglied des altehrwürdigen Fasnachts-Comités hat die Pfeiferin einer Stammclique plötzlich Einfluss. Darf mitentscheiden, wer wie bewertet und entsprechend entlöhnt wird.
Wobei sie bei den Cliquen, Chaisen und Guggen nicht mitschwatzen darf: Hier am neuen (und erstmals vierten) Comité-Standort an der Schifflände bei der Mittleren Brücke steht die «Wagen-Fraktion». Vier Comité-Mitglieder bewerten die 120 Wagen-Cliquen. Damit ist es nicht getan. Comité-Mitglied sein erfordert ständige Aufmerksamkeit. Es ist harte Arbeit.
Warum? Das ist Tradition!
Werfen wir rasch einen Blick in die Vergangenheit, bevor wir die Welt untergehen lassen: Früher bestand das Comité aus älteren, schwarz gekleideten, ernsten Herren. Es schwang immer ein bisschen Angst oder zumindest Respekt mit beim Anblick dieser Herren. Man wusste: Die haben da so ein geheimes Grüppchen und dieses wiederum hat enorm viel zu Sagen. Was man sah: Sie lupfen den Hut, diese Männer. Hunderte Male während des Cortège. So werden die Gruppen begrüsst.
Und jetzt? Steht da also diese Annicken Gravino, ebenfalls in schwarz und mit Hut, lupfen tut sie diesen aber nicht. Warum? «Das ist Tradition – bei Frauen», sagt ihr Comité-Kollege Bruno Kern. Tradition? Er lacht. «Das sagen wir immer, wenn wir nicht wissen, warum etwas ist, wie es ist.» Man beachte das Detail: Er lacht. Dieses Lachen steht für den Wandel des Comités: Die alten Männer sind plötzlich nicht mehr so alt und zum Teil gar keine Männer, sondern Frauen. Und, wichtig: Sie lachen, lächeln.
Folie gegen Weltuntergang
So, jetzt aber zum Weltuntergang: Nebst Finanzkrise und Lokalpolitik ein sehr beliebtes Sujet dieses Jahr. Unter dem Motto «Ändstraich» spielen es auch die «Alte Stainlemer» aus. Und zwar – wie von ihnen gewohnt – etwas härter und anders als die anderen Cliquen. Sie ziehen nicht nur Leichen (keine echten) hinter sich her, sondern verteilen auch Schutzfolien. Auch Annicken Gravino erhält eine Folie – und wird erst noch mit Mikrofon interviewt. Für sie als ehemalige Radio-Journalistin nichts Ungewohntes, doch: Die Fragen stellte früher sie. Allerdings nie zum Thema Weltuntergang. Und: Beim Radio war sie konzentrierter. Da kann der alte Stainlemer fragen, so lange er will: Sie muss ihrer Pflicht nachkommen – und grüssen. ALLE. «Wir vom Comité müssen alle Gruppen begrüssen, wirklich alle», sagt sie. In ihrem Fall aber eben ohne Hutlupf.
Sie grüsst links und rechts und zwischendurch schreibt sie was auf. Nämlich, welche Wagen schon vorbeigefahren sind. Das ist wichtig, damit alles seine Richtigkeit hat und jeder am Ende einen Schuss Comité-Subvention erhält. Ausserdem hat sie noch eine weitere Aufgabe: Sie muss den Wägelern Riesen-Kupfer-Blaggedden geben. «So erweisen wir ihnen die Ehre», sagt sie. Und sie hat ein kleines Problem: «Ich sollte ihnen die Blaggedde anstecken, doch je nach Wagen sind sie zu weit oben.» Drücken wir ein Auge zu – und geben das Teil in die Hand. Im Fall der Jubiläums-Wagen allerdings in Form von Silber.
Annicken Gravino ist seit dem Morgestraich ununterbrochen auf den Beinen – und wird auch nach dem Cortège nicht schlafen gehen. Es ist schliesslich Fasnacht. Und: Sie sei kein bisschen müde, sagt sie. «Das isch s’Adrenalin!» Comité was wolle.