Das Ausscheiden der Bayern gegen Athlético ging an der spanischen Presse zwar nicht spurlos vorbei. Die wichtigste Zeitung «Marca» aber streikte ebenso wie weitere Medien des Verlags Unidad Editorial – es droht die Streichung von 185 Journalistenstellen.
Was für ein Drama in München, was für ein Triumph für Atlético Madrid. Spielbericht, Noten, Stimmen, Fotos, Grafiken, Taktiktafel, Anekdoten, historische Einordnung, Ausblick auf das Finale und zahlreiche Einzelmeinungen durch das Heer von Kolumnisten: locker 30 Seiten könnte die Nachlese von «Marca» allein über das Champions-League-Halbfinale an diesem Mittwoch umfassen.
Es reichte aber nicht einmal zur Hälfte, und das auch nur dank Anzeigen und Agenturmeldungen. Die Redaktion von «Marca» hatte am Dienstag ebenso gestreikt wie die von weiteren Medien des Verlags Unidad Editorial. «El Mundo», die Nummer zwei unter den Nachrichtenzeitungen des Landes, lag am Mittwoch erstmals in seiner 27-jährigen Geschichte nicht am Kiosk. «Radio Marca» sendete den gesamten Dienstag nicht. Grund des Ausstandes, der sich an den nächsten Dienstagen wiederholen soll, ist die angekündigte Streichung von 185 Journalisten- und 39 Verlagsstellen.
«Marca» ist nicht irgendeine Zeitung in Spanien. Mit gut zwei Millionen Lesern täglich, mehr als der Marktführer der Nachrichtenpresse, «El País», und in etwa so viele wie die anderen grossen Sportblätter «As», «Sport» und «Mundo Deportivo» zusammen, ist es die populärste im Königreich. Ihre Titelseiten, konserviert von vielen Fans, sind eine Art Museum des spanischen Sports. Ihre 15 unterschiedlichen regionalen Ausgaben täglich ein Stück Landeskultur. Und ein Mythos weit über Spaniens Grenzen hinaus.
Entstanden als grafisches Wochenblatt in den 1930er-Jahren
In Mitteleuropa mag man immer wieder darüber staunen, wie sich täglich eine dicke Zeitung nur mit Sport, insbesondere Fussball, füllen lässt. An den Nachrichten der «Marca» kommt die Branche jedoch nicht vorbei. Ob es um Interna von Real Madrid oder um die allgegenwärtigen Transferspekulationen geht – wie «L’Equipe» in Frankreich oder die «Gazzetta dello Sport» in Italien geniesst sie quasi amtlichen Charakter.
Der Fussball bewegt immer mehr Geld, die Stars verdienen immer höhere Gehälter, die Fernsehrechte werden immer teurer verkauft. Doch die Presse leidet.
Gegründet wurde die Zeitung in San Sebastián inmitten des spanischen Bürgerkriegs als «grafisches Sportwochenblatt» von Manuel Fernández Cuesta, einem Bruder des Generalsekretärs der faschistischen Falange. Die erste Ausgabe vom 21. Dezember 1938 zeigte eine blonde Frau auf einem Schlitten mit erhobenen rechten Arm. Die unmissverständliche Schlagzeile: «Arm hoch für die Sportler Spaniens.»
Während zwei Brüder des Gründers als Minister in die Franco-Regierung eintraten, zog «Marca» nach Madrid um und begann täglich zu publizieren. Mit der Nachrichtenzeitung «Arriba» und der Agentur «Pyresa» teilte es die Redaktionsräume und bildete eine Art heilige Dreifaltigkeit der «Presse der Bewegung». «Marca» wuchs parallel zur Fussballbegeisterung – und überlebte, wie so manches in Spanien, auch das Ende der Diktatur nach Francos Tod in den 1970er-Jahren ohne Bedeutungsverlust.
Marktführer trotz Einbussen
Erledigt sie jetzt die Medienkrise? Die Branche leidet in Spanien noch stärker als anderswo. Laut des letzten Jahresberichts der Pressevereinigung haben seit 2008 über 12’000 Journalisten ihren Job verloren und 375 Publikationen geschlossen. Wenn sich die Leserzahlen von «Marca» immer noch imposant anhören, hat das viel mit geteiltem Lesen in den Bars zu tun. Der Verkauf erreicht nicht mal mehr 150’000 Exemplare.
Die Belegschaft von «Marca» – lachende Gesichter, zumindest auf diesem Bild. (Bild: JOSE A. GARCIA)
Zwar gilt «Marca» nach wie vor als rentabel. Im letzten Jahr hat das Blatt freilich so alarmierende Einbussen erlebt, dass im März Chefredaktor Óscar Campillo gefeuert wurde. 13,4 Prozent Verbreitung gingen laut Branchendienst «prnoticias» verloren, fünf Prozent über dem Marktschnitt. 13 Prozent weniger betrug der Verkauf, vier Prozent über Marktschnitt. Um elf Prozent sanken die Anzeigenerlöse – die Konkurrenz erlebte mit 0,6 Prozent im selben Zeitraum sogar mal wieder einen leichten Zuwachs.
Die digitale Ausgabe konnte diese Verluste nur in geringerem Masse ausgleichen als erhofft. Der Umsatz von marca.com wuchs 2015 um elf Prozent, sechs Prozent weniger als der Schnitt aller Online-Zeitungen. Dabei ist auch der Internet-Auftritt mit rund fünf Millionen Besuchern täglich Marktführer im spanischen Sportjournalismus.
Die traurige Ironie der Fussballberichterstattung
Weil mit Lateinamerika ein fussballverrückter Kontinent Spanisch spricht und dessen grösste Stars wie Messi, Neymar, Suárez oder James Rodríguez allesamt in der Primera División spielen, erreichen spanische Sportauftritte einen ungleich grösseren Markt als die aus vielen anderen Ländern. Wo die Zukunft liegt, scheint da eindeutig – zumal der Sport als Newsgeschäft besonders internettauglich ist.
Bei «Radio Marca» gab es den ganzen Dienstag nur Fahrstuhlmusik zu hören.
Dennoch bleibt eine traurige Ironie: Der Fussball bewegt immer mehr Geld, die Stars verdienen immer höhere Gehälter, die Fernsehrrechte werden immer teurer verkauft. Doch die Presse leidet.
Die Zahlen sollen dabei nicht der einzige Grund für die Trennung von Campillo gewesen sein. Der ehemalige Chefredakteur weigerte sich offenbar auch, die Personalkürzungen umzusetzen, von denen 24 Stellen die «Marca» betreffen sollen. Wie es heisst, arbeite die Redaktion schon jetzt am Anschlag, und oft darüber hinaus. Auch die mittelfristig angestrebte Verzahnung mit der «Gazzetta dello Sport», die wie «Unidad Editorial» zum italienischen Konzern RCS Mediagroup gehört, wird von den Mitarbeitern kritisch gesehen – sie lässt weitere Kürzungen befürchten.
Zwei Drittel der Radio-Belegschaft soll wegfallen
Noch dramatischer ist die Situation bei «Radio Marca». Dort gab es den ganzen Dienstag nur Fahrstuhlmusik zu hören, dazu die Ansage: «Am Mittwoch um sieben Uhr wird das normale Programm wiederaufgenommen.»
Der vor 15 Jahren ins Leben gerufene Radiosender wird den Sparplan in seiner jetzigen Form nicht überleben. 19 von 32 Stellen in der Zentralredaktion sollen wegfallen, fast zwei Drittel der Belegschaft. Eine Schliessung ist wohl auch der Plan. Mit der Station der spanischen Bischofskonferenz, «Cadena Cope», soll Unidad Editorial schon über Vermietung oder Verkauf der Sendeposten verhandelt worden sein.
«Radio Marca» kam nach der letzten Erhebung auf 427’000 Hörer täglich, 170’000 weniger als vor einem Jahr, wobei wohl eher programmatische Fehler für den Rückgang verantwortlich sind. Der Radiosektor insgesamt leidet in Spanien unter keinem vergleichbaren Quotenschwund wie die Presse. Martkführer «Cadena Ser» vermeldet sogar Zuwachs, derzeit wird er von 4,8 Millionen Menschen täglich eingeschaltet.
Die Sport-Elite verbrüdert sich mit «Marca»
Zahllose Sportgrössen des Landes solidarisierten sich am Dienstag unter #yosoyradiomarca mit den Beschäftigten des einzigen reinen Sportsenders des Landes. Fussball-Nationaltrainer Vicente del Bosque, Kapitän Iker Casillas, Formel-1-Star Fernando Alonso, Eiskunstlauf-Weltmeister Javier Fernández oder Badminton-Weltmeisterin Carolina Marín formten ihren Daumen und Zeigefinger zu einem «L» – mit dieser Geste wird im Studio der Techniker um Freischaltung des Mikrofons gebeten.
Tagespresse und Radio gehören fest zur Liturgie des spanischen Fussballs, der ohne diese Medien nie zur heimlichen Religion aufgestiegen wäre.
Wie die Tagespresse gehört auch das Radio fest zur Liturgie des spanischen Fussballs, der ohne diese Medien nie zur heimlichen Religion des Königreichs aufgestiegen wäre. Die langgezogenen Torschreie der Reporter sind gewissermassen der Soundtrack des Spiels. Ein halbes Dutzend Sportsendungen berichten mit fiebrigem Enthusiasmus live aus den Stadien und Interviewzonen, die mitternächtlichen Sportmagazine locken senderübergreifend mehrere Millionen Menschen vor den Äther.
Ronaldos Ausfall: exklusiv bei «Radio Marca»
Noch am vergangenen Dienstag war «Radio Marca» in diesem Wettkampf ein echter Scoop gelungen, als es vor dem Champions-League-Spiel von Real Madrid bei Manchester City exklusiv den Ausfall von Cristiano Ronaldo vermeldete. Vom Spiel zwischen Bayern und Atlético blieben ähnliche Prestigeerfolge nun unmöglich.
Weil an diesem Mittwoch zudem das Rückspiel von Real Madrid, Lieblingsklub der «Marca»-Kundschaft, steigt, war das Datum für den Streik besonders pikant gewählt – es betraf einen potenziellen Verkaufsrenner unter den Ausgaben, die in Spanien praktisch ausschliesslich verkauft werden und ohne festes Abonnement-Geschäft starken Schwankungen unterliegen.
So mussten sich die Atlético-Fans für ihre Privatsammlung also mit einer Sparausgabe begnügen. Womöglich ein Ausblick auf die Zukunft der spanischen Sportpresse.