Das unerträgliche Warten auf die Massenkündigung

Die Mieter an der Wilhelm His-Strasse 5 wissen längst, was es geschlagen hat: Sie werden ihre Wohnungen verlieren. Auch wenn der Verwalter schweigt – die Bauarbeiter stehen bereits vor der Tür. 

Seit 1964 lebt Elisabeth Diewald an der Wilhelm His-Strasse im Basler St. Johann. Die 86-Jährige wird nochmals umziehen müssen.

Elisabeth Diewald hat in Basel nirgendwo anders gewohnt als in diesem Haus an der Wilhelm His-Strasse. Hierher zog sie 1964 mit ihrem Mann – ein junges Ehepaar aus Solothurn. Hier wuchsen ihre drei Kinder auf, liefen durch den Tschudi-Park in die Schule. Hier verbrachte sie den Lebensabend mit ihrem Mann, bis dieser vor drei Jahren verstarb. Hier feiert sie bis heute Weihnachten mit ihren fünf Enkelkindern. Und sie hofft, dass sie im September hier ihr erstes Urenkelkind in den Armen halten kann.

Diewald sieht man nicht an, dass sie 86 Jahre alt ist. Die blauen Augen funkeln stolz, wenn sie von den Erfolgen ihrer Familie spricht. Immer wieder streicht sie mit ihren Fingern über den Notizblock, den sie vor sich auf den Tisch gelegt hat. Notizen braucht sie aber keine, es sprudelt nur so aus ihr heraus, wenn sie von ihrem Leben in diesem Haus erzählt. 54 Jahre! Und bald muss sie es verlassen.

«Wir können uns wehren, wie wir wollen»

Die Kündigung lag noch nicht im Briefkasten. Dennoch ist klar, was die Liegenschaftsbesitzerin, die B-Bau Management AG aus Baar, mit dem Mehrfamilienhaus vorhat: Aus 6 Familienwohnungen sollen 19 Wohnungen werden, Studios und Zweizimmerwohnungen. Die Dachterrasse, die heute allen zur Verfügung steht, wird künftig nur noch zu den beiden obersten Wohnungen gehören.

Für Elisabeth Diewald ist dann kein Platz mehr hier. Wie auch für die anderen fünf Parteien, unter ihnen eine WG im zweiten Stock. Die vier jungen Frauen sind erst im vergangenen Herbst eingezogen. Sie müssen ihre Kisten packen, kaum dass sie diese im Keller verstaut haben. 

Wenn die Studentinnen über ihre Situation reden, kommt Wut hoch – oder es macht sich Resignation breit. Mal so, mal so. Aline Gurfinkel, Anna Leibacher und Ilona Sarkis kennen sich seit der Schule. Die drei St. Gallerinnen entschieden sich, in Basel zu studieren, und suchten gemeinsam eine Bleibe. Erst vergangenen Februar zog auch noch Lea Kaspar aus dem Tessin in die WG ein. 

Sie alle haben gerade Prüfungsstress zu bewältigen. Es ist ihr «Assessment-Jahr»: Sind die Noten nicht gut genug, fliegen sie aus dem Studium. Darum  haben sie für nichts Zeit, ausser fürs Lernen. Eigentlich.

Ilona Sarkis, Aline Gurfinkel und Anna Leibacher (von links) zogen letzten Herbst in ihre WG ein. Und müssen bald wieder ihre Koffer packen.

Der Ärger mit ihrer Wohnung ist allgegenwärtig. Im Haus nebenan baut die Firma B-Mau Management bereits auf Hochtouren um. Zu Hause lernen? Daran ist nicht zu denken. Mietzinsreduktion? «Können wir nicht fordern», sagt Gurfinkel. «Das steht so in unserem Vertrag.» 

Dass dies rechtlich gar nicht zulässig ist, wissen sie erst, seit sie den Mieterverband eingeschaltet haben. Denn der Lärm ist nicht ihr einziges Problem mit der Verwaltung. «Die Wohnung stand ein halbes Jahr leer, bevor wir einzogen. In dieser Zeit haben sich die Tauben auf unserem Balkon eingenistet, er war völlig verdreckt», erzählt Sarkis. «Es hat Monate gedauert, bis endlich jemand kam, um das zu reinigen.»

Aus 6 mach 19: Im Nachbarhaus ist bereits sichtbar, wie viele Wohnungen an der Wilhelm His-Strasse entstehen sollen.

Und auch sonst reagiert niemand, wenn die vier Frauen sich bei der Verwaltung melden. Geld wird ohnehin keines mehr investiert in die Liegenschaft. Mittlerweile überweisen die vier Frauen ihre Miete auf ein Sperrkonto, ihre Verwaltung mit Sitz in Opfikon haben sie per Einschreiben informiert. Auch darauf gabs bislang keine Reaktion. «Wir können uns wehren, wie wir wollen, die Verwaltung ignoriert uns.» Gurfinkel lacht. Schwer zu sagen, wie sehr sie die Absurdität belustigt und wie viel Verzweiflung in diesem Lachen steckt.

Klar ist: Die vier Frauen wollen weiter zusammen wohnen, egal wo. Aber viele freie Fünfzimmerwohnungen gibt es nicht auf dem Markt, erst recht nicht solche, die sich die Studentinnen leisten könnten. Jetzt zahlen sie 2280 Franken für ihre fünfeinhalb Zimmer.

Die Information kam von den Bauarbeitern

Besonders wütend macht die drei Frauen die Art und Weise, wie sämtliche Hausbewohner vom anstehenden Umbau erfahren mussten. «Die Bauarbeiter, die nebenan arbeiten, haben Sprüche geklopft: ‹Als Nächstes kommen wir bei euch vorbei›», erzählt Gurfinkel. 

Immer wieder seien sie darauf angesprochen worden, ohne dass von der Verwaltung oder der Liegenschaftsbesitzerin irgendeine Information gekommen wäre. Bis heute nicht. «Es ist ja beinahe unmöglich, sich zu wehren, wenn noch keine Kündigung hier ist», sagt Leibacher. Sie zuckt erschöpft mit den Schultern.

Auch für Elisabeth Diewald ist es ein aussichtsloser Kampf. «Ich weiss nicht, wie es mit mir weitergehen soll», sagt die 86-Jährige. Eigentlich gehe es ihr ja gut, sie könne den Haushalt mit der Unterstützung einer Putzhilfe gut meistern. «Aber ich weiss nicht, wie lange noch.» Gerne würde sie selbst entscheiden, wann sie die Wohnung verlassen soll, in der so viele Erinnerungen stecken.

Rechts ist der Umbau bereits voll im Gange. Die Bauarbeiter waren es, welche die Mieter informierten, dass ihr Haus als Nächstes dran ist.

Diewald hängt an dieser Wohnung. Auch wenn die Wände Flecken von einem Wasserschaden zeigen, der Küchenboden trotz Polieren nicht mehr glänzt und die Decken so dünn sind, dass sie das Stühlerücken auf der Dachterrasse hört. Es ist ihr Zuhause.

Fünfeinhalb Zimmer sind günstiger als drei

Vieles hier erinnert an ihren verstorbenen Mann. Seinetwegen zogen sie damals zurück in die Stadt, er hatte eine Stelle bei der Firma, der das Haus bis im vergangenen Jahr gehörte. Er war es, der für sie den schwarzen Teppich herausriss und einen helleren verlegte, der für sie Küchenschränke einbaute. Wenn sie auf eine der Türen zeigt, spricht sie noch immer vom «Zimmer meines Mannes». Sein Bild hängt eingerahmt in der Stube, darunter steht ein frischer Blumenstrauss.

Diewald ist bewusst, dass die Wohnung, in der sie zeitweise zu fünft lebten, eigentlich zu gross ist für sie allein. Weil Diewald aber bereits so lange hier lebt, zahlt sie einen sehr tiefen Mietzins. «Für dieses Geld kann ich mir heute keine Dreizimmerwohnung leisten», sagt sie. Sie hofft, dass sie trotz allem im Quartier bleiben kann. Auch wenn es am Ende in einer Alterswohnung sein wird.

Grosszügig und hell: die Stube von Elisabeth Diewald.

Diewald erzählt von ihrem Leben in diesem Haus, von den Nachbarn, die kamen und gingen. Von dem Jungen, der plötzlich auf dem Fenstersims stand und ihr einen riesen Schreck verpasste. Vom Mädchen, das sie noch lange vermisste, nachdem die Familie weggezogen war. Vom Lärm, wenn im Kino nebenan die Abendvorstellung lief, und von der Lüftung des Fitnesscenters, als dieses bei der Johanniterbrücke einzog. 

Sie erzählt vom Schällemätteli, wo die Anwohner am Wochenende ihren Bioabfall auf den Komposthaufen werfen konnten, bis er geschlossen wurde. «Die Leute schmuggelten darin Sachen ins Gefängnis», erinnert sie sich. Wieder funkeln die blauen Augen von Diewald. «Es war eine schöne Zeit.»

Seit Dezember hört nun Diewald jeden Tag, wie nebenan die grosszügigen Fünfeinhalbzimmer-Wohnungen umgebaut werden. Bald kommen sie auch zu ihr. Sie weiss das. Es hängt bereits ein Schild mit dem Baubegehren vor der Eingangstür. Allerdings geht es da nur um zusätzliche Balkone, die im Innenhof angebracht werden sollen. Beim Innenausbau reicht ein einfaches Baubegehren. Einsprachen sind nicht möglich. Auch über die Balkone hat die Verwaltung vorab kein Wort von sich hören lassen.

Heute nutzen alle Bewohner die Dachterrasse als Gemeinschaftsraum, künftig wird sie nur den beiden obersten Wohnungen zur Verfügung stehen.

Das Schicksal der Bewohner an der Wilhelm His-Strasse ist kein ungewöhnliches in der Stadt. Erst im April wurde bekannt, dass in Kleinhüningen rund 50 Mieter am Giessliweg ausziehen müssen. Die Liegenschaften haben den Besitzer gewechselt, dieser will die Häuser totalsanieren. Für die jetzigen Bewohner ist dann kein Platz mehr.

https://tageswoche.ch/stadtleben/totalsanierung-massenkuendigung-in-kleinhueningen

Und diesen Freitag gab es erneut eine Massenkündigung, diesmal im Klybeckquartier. An der Erikastrasse erhielten 21 Mietparteien die Kündigung. Die Besitzerin der drei Häuser war verstorben, ihre Erben – rund 14 Parteien – haben sich wohl entschieden, die Liegenschaften an den Höchstbietenden zu verkaufen, die BEM Property Group AG aus Zürich.

Nach den Kündigungen informierte das Unternehmen die betroffenen Bewohner über die weiteren Schritte. Nach der Totalsanierung könnten sie wieder in ihre Wohnungen einziehen. Allerdings könne man zum heutigen Zeitpunkt nicht sagen, wie teuer der neue Mietzins werde.

Die jüngste Massenkündigung: An der Erikastrasse sind 21 Mietparteien betroffen. Zweieinhalbzimmer-Wohnungen bekam man hier noch für 400 Franken.

«Es ist eine Hinhaltetaktik», sagt Fabian Schär, der selbst an der Erikastrasse wohnt. Er ist überzeugt, dass die Besitzer zumindest eine grobe Ahnung haben, wie teuer die Wohnungen künftig sein werden. Bestimmt zu teuer für die meisten im Haus, befürchtet er. «Es gibt hier Zweieinhalbzimmer-Wohnungen für 400 Franken», sagt er. 

Die Wohnungen wurden in den 1930er- und 1940er-Jahren von der Besitzerfamilie selbst gebaut, einige der Bewohner leben seit 40 Jahren hier, Kinder der Familien gehen im Quartier zur Schule. «Für viele wird es schwierig werden, im Quartier etwas Neues in dieser Preislage zu finden», ist Schär überzeugt.

Keine direkten Verhandlungen möglich

Es hätte auch anders kommen können. Die Genossenschaft Mietshäuser Syndikat hatte ein Kaufgebot für die Häuser an der Erikastrasse und zwei weitere Liegenschaften gemacht. Rund sieben Millionen Franken wollte sie für die fünf sanierungsbedürftigen Häuser bezahlen. «Nach unserem ersten Angebot erhielten wir eine Absage», so Schär, der auch für die Genossenschaft tätig ist.

Die Erben haben sie nie gesehen, sie mussten über den Verwalter verhandeln. «Es ist schwierig, mit Leuten zu sprechen, die man noch nie gesehen hat. Wir konnten ihnen nie erzählen, dass es uns darum geht, gemeinsam mit der zum Teil langjährigen Bewohnerschaft die Häuser zu erwerben, zu sanieren und zu unterhalten. Dass wir dabei auf Kündigungen und Zerstörung des Charmes verzichten wollen.»

https://tageswoche.ch/gesellschaft/warum-die-suche-nach-einer-wohnung-in-basel-ein-albtraum-ist/

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