Ein Besuch in Marseille sollte stets mit einem Ricard – ja, man bestellt den Pastis hier direkt mit dem Markennamen – am Quai du Port beginnen. Im Frieden mit der Welt und sich selbst lässt man dann den Blick über die Schiffsmasten wandern hinauf bis zur Wallfahrtskirche «Bonne Mère», die schützend über der Stadt thront.
Gewärmt von der mediterranen Wintersonne, kommen wir auf die Netflix-Serie «Marseille» zu sprechen. Sie handelt von Politik, Macht und auch den «Quartiers nord», den verrufenen Quartieren im Norden der Stadt. Traut man den Serienmachern, strotzt dieser Teil der Stadt vor Kriminalität und Gewalt. Mit dem zweiten Ricard in der Hand beschliessen wir, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und planen einen Ausflug in den Norden. Der «Marché aux Puces», ein Flohmarkt, auf dem man der Legende nach alles kaufen kann, scheint uns das ideale Ziel für unsere Expedition.
Ein Treiben wie auf dem Souk
Wir steigen in die Métro ein und fahren bis zur Endstation. Dort angekommen, folgen wir den Anweisungen von Google Maps und marschieren mal auf engem Trottoir, mal auf der Strasse zum Flohmarkt. Über unseren Köpfen die Autobahn, auf der ein Auto das nächste jagt.
Bevor wir den Flohmarkt erreichen, säumen bereits Computer und Autoradios, hübsch auf einem Tuch ausgelegt, den Gehsteig. Gleich daneben bietet ein Verkäufer Motorenöl, gebrauchte Rasenmäher und Heckenscheren an. Das wilde Treiben weckt den Touristen in mir und ich packe die Kamera aus. Ich lichte Marktstände ab, strecke den Einkaufslustigen das Objektiv ins Gesicht und drücke ab. An alten Autoreifen vorbei erreichen wir schliesslich den offiziellen Teil des Flohmarkts.
Wir pressen uns durch die Menschenmenge wie im Souk in Marrakesch, jeder scheint auf der Suche nach dem perfekten Schnäppchen. «Fünf Euro, das ist gratis», schreit ein Verkäufer und hält uns einen Schuh hin. Ein anderer vermarktet Kosmetikartikel auf Arabisch, Frauen mit Kopftüchern kramen in den Auslagen. Zwei Männer mit einer Plastiktüte drängen sich an uns vorbei, bleiben stehen und strecken vermeintliche Nike-Sportkleider und Levis-Jeans in die Höhe.
Ich fotografiere die Strassenkunst im Hintergrund, fokussiere und plötzlich wedelt eine Hand vor meinem Sucher. «Du darfst hier nicht fotografieren», schnauzt mich einer an. Erschrocken und genervt zugleich, will ich ihm Kontra geben, bis mir die orange Armbinde mit der Aufschrift «Sécurité» auffällt. «Der Flohmarkt ist privat, du brauchst eine Bewilligung zum Fotografieren», kläfft er weiter. «Was hast du überhaupt fotografiert?» Nur Strassenkunst, lüge ich souverän und lasse die Kamera rasch in meinem Rucksack verschwinden.
Der Aufseher weist uns den Weg zum Bewilligungsbüro, den wir kurz einschlagen und dann gleich in der Markthalle verschwinden. Der Duft gebratener Hühnchen steigt uns in die Nase, wir blicken nochmal kurz über die Schultern und kichern. Wir sind der Aufsicht entwischt.
Die Markthalle quillt über vor frischem Essen: Oliven, buntes Gemüse, blutig rote Schafsköpfe und laut gackernde Hühner, auf die der Grillspiess wartet. Frischer geht es wohl nicht. Wir entscheiden uns aber für die vegetarische Variante und schnappen uns ein Msemmen, eine Art Omelette aus Blätterteig.
Wieder an der frischen Luft schlendern wir an einem Marktstand mit Pfannen und anderen Küchenartikeln vorbei, kaufen einen Stabmixer für zehn Euro (ein unglaubliches Schnäppchen) und kehren in die Innenstadt zurück. Auf Gewalt und Kriminalität sind wir im Norden nicht gestossen, dafür sind wir selbst in die Rolle des illegalen Voyeurs geschlüpft und haben eine geballte Ladung Marseille beobachtet.
Pastis: Wer den Anis-Aperitif in vollen Zügen geniessen will, setzt sich am besten in eine Brasserie am Vieux Port. Tipp – «ManuFactory», bequem, windgeschützt und sonnig.
Pause: Wer nach den Strapazen auf dem Flohmarkt Erholung braucht, gönnt sich am besten ein arabisches Dampfbad. Tipp – «Zeïn», schön gelegen im ehemaligen Zeughaus von Louis XIV.
Poisson: Wer gerne Fisch isst, hat in Marseille das El Dorado gefunden. Tipp – «Au Bout du Quai», Avenue Saint Jean 1, toller Blick auf die «Bonne Mère».