Am 31. Oktober feiern die Reformierten alljährlich den Reformationstag. 2017 steht das 500-jährige Jubiläum von Luthers Thesenanschlag in Wittenberg an. Bereits heute wirft es seine Schatten voraus. Auseinander gehen die Meinungen jedoch bei der Frage, wie dieses Jubiläum begangen werden soll. Manche meinen: Kein Grund zum Feiern.
Peter Winzeler, derzeit wird darüber gestritten, wie das 500-jährige Jubiläum der Reformations 2017 angemessen gefeiert werden soll. Die Reformation hat Krieg, Unfrieden und die Kirchenspaltung gebracht. Gibt es da überhaupt etwas zu feiern?
Eine gute Frage! Ich stelle eine Gegenfrage: Kennen Sie irgendein weltgeschichtliches Ereignis vergleichbarer Dimension – die konstantinische Wende, die französische Revolution, die Erklärung der Menschenrechte etwa –, die ohne Unfrieden und Tote abliefen? So gesehen hätte auch der Staat Israel nie gegründet werden dürfen.
Dennoch bleibt die Frage: Was gibt es am Reformationsjubiläum zu feiern?
Ich sehe das Reformationsjubiläum nicht primär als eine festliche Feier, bei der man sich gegenseitig auf die Schultern klopft, da die Protestanten das neue Europa geschaffen hätten. Für mich ist das Jubiläum vielmehr ein Anlass der Besinnung und der Umkehr. Wir haben als Protestanten heute auch eine unglückliche Geschichte zu verantworten, die uns bis heute nicht loslässt. Wir sollten das Jubiläum auch nicht nur als Luther-Jahr feiern, und vor allem auch befreiungstheologische und multikulturelle Themen auf die Tagesordnung setzen, wie das bei dem Reformationskongress in Zürich kürzlich ja auch angeklungen ist.
An welche befreiungstheologisch und oder multikulturellen Themen denken Sie konkret?
Ich finde es wichtig, die Fragestellungen des Zürcher Reformators Zwingli zu berücksichtigen. Er war der bedeutendste, vielleicht notwendigste Widersacher Martin Luthers und hat den Finger in die offene Wunde von Luthers grösstem Sündenfall, dem Antijudaismus, gelegt. Dieser lutherische Antijudaismus sitzt auch heute noch bei fast allen protestantischen Kirchen tief in der Lehre von jüdischem Gesetz und christlichem Evangelium. Es ist für mich eine offene Frage, wie dieses wichtige Thema des lutherschen Antijudaismus 2017 zur Sprache kommen könnte.
Wie könnte denn das zwinglianische Korrektiv in Richtung Lutheraner aussehen?
Zwingli erhob zum Beispiel Widerspruch gegen Luthers repressive Stellungnahme in den Bauernkriegen. Theologisch – und das gehört zusammen – verstand Zwingli im Gegensatz zu Luther die Thora nicht als strafendes Gesetz, sondern als Teil des Evangeliums. Zwingli betonte die Bundestheologie, die er als Brücke zwischen Altem und Neuem Testament betrachtete. Entsprechend hatte die prophetische Dimension des Glaubens bei Zwingli ein viel stärkeres Gewicht als bei Luther. Sicher ist Zwingli kein Heiliger, aber ohne Rekurs auf die skizzierten Aspekte wollte ich kein Reformationsjubiläum begehen.
Welche Rolle soll denn die Person Martin Luther bei den Jubiläumsfeierlichkeiten 500 Jahre nach der Veröffentlichung seiner 95 Thesen in Wittenberg spielen?
Luther ist Anlass für zahlreiche Veränderungen und Aufbrüche, die er durch sein Vorpreschen losgetreten hat. Insofern sollte Luther, der ja auch manch Unflätiges gesagt hat, nicht als Person beweihräuchert werden. Im Zentrum des Jubiläums sollten die Veränderungsprozesse stehen, die durch die verschiedenen Reformatoren auf den Weg gebracht wurden. Wie es zur eigentlichen Ablösung, zur Kirchenspaltung kam oder kommen musste, wäre aus meiner Sicht ein Thema für sich, das im Verlauf der Reformations-Jubiläen bearbeitet werden sollte. Zugleich ist die Reformation eine Revolution.
Eine Revolution? Warum?
Die Reformation ist der religiöse Ausdruck einer Bauern-, Städte-, Zünfte- und Lebensbewegung, die sich auf den gesellschaftlichen Kontext des Humanismus und der Renaissance bezog und hierzu Antworten geben musste. So standen in den Anfangsjahren der Reformation riesige Erwartungen einer neuen Welt im Raum, die von Luther allerdings eher apokalyptisch als bevorstehendes Weltenende, inszeniert von Teufel und Antichrist, eingestuft wurden. Zwingli sah diese «Wehen», Aufbrüche und Umbrüche dagegen als den Beginn einer verheissungsvollen Neuzeit. Insofern meint Revolution nicht platt eine gewaltsame Umwälzung, sondern die humanisierenden Veränderungsprozesse, wie sie auch heute wieder ökonomisch und politisch im Gang befindlich sind.
Der Alt Erzbischof von Canterbury und frühere Primas der Anglikaner, Rowan Williams, mahnt den Brückenschlag zwischen Reformation und Moderne an. Eine neue Theologie müsse spirituell, nüchtern, selbstkritisch und radikal politisch sein. Bietet dieser Vorschlag ökumenische Perspektiven?
Ich muss etwas schmuzeln ob dieses wunderbaren Wunschzettels, dem niemand widersprechen kann. Sollte mit der Moderne der Neoliberalismus gemeint sein, hätte ich wie viele Befreiungstheologinnen noch ganz andere Wünsche parat. Besser wäre, wieder einmal Bibel und Zeitung, wie Karl Barth gesagt hat, gründlich zu lesen. Das Wort Gottes weist uns die Richtung und setzt uns die Tagesordnung, nicht ein hübsches Programm, das uns zum Jubiläum geboten wird. Mir ist wichtig, dass dieses so genannte reformatorische «Schriftprinzip» wieder in den Vordergrund rückt, auch damit deutlich wird, dass die Bibel aus dem Judentum stammt. Zudem muss sie wieder im Zusammenhang des Zeitgeschehens gelesen werden. Hier wird eine elementare Änderung nötig
Wie beurteilen Sie die katholischen Bedenken, man müsse eher über Schuld und Busse reden?
Einen Teil dieser Bedenken kann ich verstehen. Wenn die römische Kirche das will, soll sie das mit leuchtendem Beispiel tun. Dies allerdings anderen, nicht als gleichwertig anerkannten Kirchen vom hohen Ross herunter vorzuschreiben, weckt bei mir eher peinliche Gefühle. Wie auch der Schweizer Kirchenbund-Präsident Gottfried Locher betont hat, haben wir mit der innerprotestantischen Ökumene alle Hände voll zu tun. Darum werden wir nicht auf den Knien nach Rom rutschen, um dort Gehör zu finden. Das Thema der einen Kirche ist nach wie vor auf der Traktandenliste. Weder Luther noch Zwingli wollten eine andere als die eine katholische Kirche.
Der Ökumene-Minister des Vatikans Kardinal Kurt Koch hat beim Reformations-Kongress in Zürich kürzlich gesagt, der nächste Schritt in der Ökumene sollte eine Verständigung darüber sein, ob wir die Einheit als Ziel der Ökumene heute noch wollen. Sehen Sie das auch so?
Karl Barth sprach im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil davon, dass es nur eine wirklich grosse ökumenische Frage gäbe, nämlich die nach der Einheit der Kirchen mit Israel. Ohne diese Einheit wäre es verwegen, eine Einheit der christlichen Kirchen als Ziel der Ökumene zu wollen. Hier liegt ein Problem begraben, das der Versöhnung mit Rom nach wie vor im Wege steht.
Wie kommt es bei Ihnen an, wenn Kardinal Koch unterstreicht, die Reformation sei nur eine von mehreren Reformbewegungen in der Geschichte der Kirche?
Zunächst mal ist das richtig. Vor allem der deutsche Protestantismus muss sich vorwerfen lassen, dass er die Reformationen als vorreformatorisch abgewertet hat, die vor Luther stattfanden – Waldenser, Hussiten und andere. Reformationshistoriker vermittelten den Eindruck, dass erst mit Luthers Thesenanschlag 1517 die Neuzeit begonnen habe. Innerhalb der evangelischen Ökumene gibt es also noch einiges zu tun, vor allem wenn wir an den Umgang mit protestantischen Minderheiten denken. Was grosso modo Rom im Umgang mit den Protestanten tut, das tun wir mit unseren Minderheiten wie etwa den Täufern, den Mennoniten oder den Methodisten. Die Verwundungen sitzen tiefer als manche meinen. Deshalb könnte mit dem 500. Jahrestag der Reformation auch ein Stück Trauerarbeit verbunden sein.