Der Dialog wird bleiben

Der Sozialnetzwerkdienst Facebook stürzt an der Börse ab und wird als lahme Ente herumgereicht. Die Reaktion der enttäuschten Anleger und Analysten heisst aber noch lange nicht, dass der Dienst selber oder gar die soziale Vernetzung am Ende ist.

Facebook: No more likes? (Bild: NF)

Der Sozialnetzwerkdienst Facebook stürzt an der Börse ab und wird als lahme Ente herumgereicht. Die Reaktion der enttäuschten Anleger und Analysten heisst aber noch lange nicht, dass der Dienst selber oder gar die soziale Vernetzung am Ende ist.

Die Nachrichten überschlugen sich: «Facebook stürzt an der Börse ab», «Facebook begeht Klick-Betrug an Werbekunden», «Facebook laufen die Nutzer davon».

Zumindest für Letzteres gibt es hierzulande noch wenige Anzeichen. In der Schweiz ist die Nutzerbasis 2011 (nach Facebook-Angaben) im zweistelligen Bereich gewachsen. Den Eindruck, dass diese weniger aktiv seien, stützen die knapp 300 Teilnehmer einer Umfrage der TagesWoche nicht – nur ein Drittel will so was bemerkt haben. Einziger Hinweis auf eine mögliche Abkühlung der Begeisterung: Etwas über die Hälfte der Befragten gibt an, heute selber weniger zu «posten» als früher:

An der Börse dagegen sieht man den Überflieger bereits abstürzen. Seit Veröffentlichung des ersten Quartals­ergebnisses vor einer Woche (Umsatz 1,18 Milliarden Dollar, theoretischer Betriebsgewinn 295 Millionen Dollar, effektiver Verlust aufgrund einmaliger Anteilsumwandlungen 157 Millionen Dollar) ist der Aktienkurs vom Ursprungsangebot von 38 auf 24 Dollar abgesackt.

Vertreiben Eltern die Jungen ?

Deswegen kreisen noch nicht die Pleitegeier über dem sozialen Netzwerk, das beim Börsengang im Mai mit 104 Milliarden höher bewertet worden war als jede Technologiefirma bisher. Aber die Anleger lesen seither eine düstere Prognose nach der anderen. Inzwischen wird behauptet, Facebook liefen in den USA die jungen Nutzer davon, weil ihre Eltern im Netzwerk aufgetaucht seien.
Ist die Kritik der Anfang vom Ende, der Beweis, dass Facebook nicht mehr ist als die Internet-Blase vor rund zehn Jahren, einfach in Form einer einzigen Firma? Eine Modeerscheinung in der Gesellschaft, ein Hype an der Börse?

Keineswegs. Es ist allenfalls der Beweis, dass «die Börse» keinerlei langfristige Perspektiven mehr verfolgt. Dass «Anleger» nicht auf Innovation setzen. Dass Analysten nicht weiter blicken als bis zum nächsten Quartals­ergebnis. Dass ungeduldige Werbekunden für ihre überhöhten Erwartungen (oder die Versprechungen der Agenturen) Schuldige brauchen. Und dass wir Anwender zunächst blind dem Herden- und dem Spieltrieb folgen, bevor wir ein neues Werkzeug sinnvoll und moderat einsetzen.

Denn Facebook ist kein Webdienst unter vielen, kein dumpfer Ersatz für etwas, was es ausserhalb der digitalen Welt längst gegeben hat. Facebook ist die Etablierung eines neuen Systems; es ist eine Technologie innerhalb des Internets, deren Möglichkeiten weder ausgeschöpft noch vollständig ausgelotet sind.

Sie beruht darauf, die Vernetzung und die Rechengewalt der Computer dazu zu verwenden, Menschen aufgrund verschiedenster Datenkriterien in Verbindung zu bringen. Sie zieht mein ganzes Beziehungsnetz aus der vertikalen Zeitlinie auf einer horizontale Ebene zusammen: Sie transportiert alte Verbindungen (Schule, Arbeitsplätze) in die Gegenwart, unbewusste (gleiche Interessen, gleiche «Likes») ins Bewusstsein und hintergründige (Freunde von Freunden) in den Vordergrund. Und all das mit einer noch nie dagewesenen Effizienz.

Dass die virale Verbreitung ausgerechnet Facebook und nicht einem der anderen, gleichzeitig oder sogar früher gestarteten Netzwerke gelungen ist, liegt an der Ausrichtung. Mark Zuckerberg hat den Nerv der Menschen getroffen, weil er Facebook ursprünglich aus einem einzigen Grund aufbaute: Neugier. Er und Hunderttausende andere College-Kids wollten wissen, in welchen Kursen die fesche Blonde sass, die sie auf dem Campus immer wieder sahen, wer an welcher Party abgestürzt war und welches Pärchen sich grade getrennt hatte. Das Gesichtsbuch hatte keinen definierten Zweck: Nicht Karriere­planung stand im Vordergrund, nicht Kollaboration mit Gutmenschen und nicht Musikgeschmack.

Wer «in» sein wollte, kam nicht um Facebook herum, und aus den Unis heraus eroberte das Virus die ganze Gesellschaft. Das zellenartige Wachstum entsprach den Strukturen der Gesellschaft und entwickelte eine Sogwirkung, der sich inzwischen fast eine Milliarde Menschen ergeben hat. Und mit dem Wachstum stieg der Nutzen des Systems: Unbewusst hatte Zuckerberg ein Schneeballsystem losgetreten. Und sie werden sich nicht mehr davon abbringen lassen, die Vorteile in der einen oder anderen Form zu nutzen.

Das Phänomen der sozialen Vernetzung qua Technologie wird so wenig verschwinden, wie vor zehn Jahren beim Platzen der Börsen-Blase «das Internet» oder auch nur «das Web» verschwunden ist. Auch dann nicht, wenn Facebook als Firma untergehen sollte.

Aber Facebook wird nicht untergehen. Denn auch 2000 ist lediglich eine lange Reihe an Firmen untergegangen, die nichts wirklich Innovatives aus der Technologie des Internets geschöpft haben. Wer eine echte Neuerung im System gefunden hatte und nicht im Wettstreit mit Konkurrenten um die gleiche Innovation unterlag, hat wahrscheinlich überlebt.

Der elektronische Buchhändler

Eines der prominentesten Beispiele – neben dem omnipräsenten Google – ist Amazon. Der Buchhändler wurde 1994 gegründet, ging 1997 an die Börse, wurde 2000 praktisch abgeschrieben und ist heute das Zweihundertfache (106 Milliarden statt 594 Millionen Dollar) wert.

Aber Jeff Bezos’ Unternehmen war nicht einfach die elektronische Version eines Buchladens. Bezos hatte kapiert, dass Literatur und Musik zu den am einfachsten kategorisierbaren Gütern gehören. Das prädestiniert sie für einen vollautomatischen Verkauf aus einer Datenbank heraus. Statt aber einfach nur die Kunden via Internet selber darin suchen zu lassen – wie, als eines von zahllosen Beispielen, die Hundefutter-Firma pets.com, die für 380 Millionen Dollar an die Börse ging und knapp 300 Tage später pleite war – analysierte Bezos das Kaufverhalten der Kunden und bot ihnen einen sich ständig verbessernden Mehrwert durch «Empfehlungen». «Amazon» steht heute als Begriff etwa so für den Interneteinkauf wie «Google» für die Internetsuche.

Kunden werden zu Mitarbeitern

Das kommt nicht von ungefähr: Bezos trieb die Innovation seines Ladens unermüdlich weiter. Er führte ein cleveres System von Provisionen ein und machte Kunden zu Mitarbeitern und Werbeträgern; er verwandelte den Buchhändler in den führenden E-Book-Anbieter und -Gerätehersteller, vermietete seine Shop-Software an Dritte und so weiter.

Die kritische Frage, die sich im Vergleich für Facebook stellt: Schaffen es Zuckerberg und sein Team, die ebenso effizienten wie einfach kopierbaren Mechanismen des Sozialen Netzwerks mit innovativen Ansätzen auszubauen? Dabei besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich Facebook an seinem einstigen Vorteil verschluckt: seiner «Zweckfreiheit».

Umgekehrt verfügt Facebook mit seiner Nutzerbasis über einen Mehrwert, der zunächst keine weitere Innovation braucht: Die schiere Masse der Vernetzten ist inzwischen der Unique Selling Point. Menschen strömen dorthin, wo die andern schon sind.
Den immerwährenden Dialog haben sich längst auch Konzerne zu Nutzen gemacht, die mit eigener Facebook-Präsenz leichter auffindbar sind und ihre Botschaften schneller verbreiten als irgendwo sonst. Die Vernetzung der Nutzer ist schliesslich nur der Anfang; der Dialog und der Austausch ist ihr Zweck.

Bevor seine Nutzerzahlen nicht im gleichen Ausmass sinken, wie sie bisher gestiegen sind (jährlich im zweistelligen Bereich), bleibt das führende soziale Netzwerk an der Pole Position. Das gilt auch für die ökonomische Dimension. Auch wenn die Werbekunden noch immer skeptisch sind (wie sie es auch bei Google waren): Niemand kann treffsicherer beispielsweise alle unverheirateten Frauen zwischen 25 und 40 in einem bestimmten Region finden. Sobald die lokalen Gewerbetreibenden das verstanden haben, den Mut und ein paar Franken für Facebook-Werbung aufbringen, wird der Rubel richtig rollen und die Börse einmal mehr aus der Hysterie in Verzückung umschwenken.

Und die Anwender? Mehr als die Hälfte von ihnen hält laut unserer Umfrage Facebook für wichtig oder nicht mehr aus ihrem Medienverhalten wegzudenken, nur 21 Prozent würden ihm kaum eine Träne nachweinen.

Die digitale Vernetzung der Gesellschaft ist Alltag. Und bis LinkedIn oder Xing mit ihrem trockenen Karriereansatz oder Google+ mit seinem schwer verständlichen, wenn auch verbesserten Ansatz Facebook den Führungsanspruch streitig machen, wird es noch eine Weile dauern. 

Quellen

New York Times: Infografik aller Tech-IPOs seit 1980. Sehr sehenswert.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten Ausgabe der TagesWoche vom 10. August 2012

Nächster Artikel