Seit sechs Monaten sitzt Julian Assange in Ecuadors Botschaft. Nun hat er ein Buch herausgebracht – und empfängt zuweilen Gäste. Ein Treffen.
Die ecuadorianische Botschaft im Londoner Stadtteil Knightsbridge sieht von aussen ziemlich prächtig aus, ist drinnen aber nicht viel grösser als eine Familienwohnung. Die bewaffneten Polizisten, die vor dem Gebäude Wache stehen, kosten angeblich 12’000 Pfund pro Tag – dabei sind nur drei Beamte zu sehen, die alle äusserst gelangweilt wirken. Menschen, die nebenan im Kaufhaus Harrods Weihnachtseinkäufe erledigen wollen, eilen vorüber, ohne zu wissen, oder sich darum zu kümmern, dass sich nur wenige Meter entfernt einer der berühmtesten Flüchtigen der Welt befindet.
Am Empfang lässt man mich herein und kontrolliert meinen Ausweis, dann führt mich eine geschäftsmässig aussehende junge Frau, Assanges Assistentin, in ein vollkommen gewöhnliches Konferenzzimmer. Dort sitzt an einem Laptop ein junger Mann, der im Verlag von Assanges Buch irgendwas mit Öffentlichkeitsarbeit macht. Kamerausrüstung, ein Stativ, ich werde gefragt, ob ich Kaffee möchte. Alles hier macht den Anschein eines ganz normalen Interviews.
Doch der Assange, der schliesslich den Raum betritt, wirkt eher wie ein Patient in stationärer Behandlung, als ein Interviewpartner. Seine Eingangsworte kommen ihm langsam und stockend über die Lippen, seine Stimme ist kaum zu hören, so brüchig ist sie. Wer schon einmal jemanden besucht hat, der sich von einem Zusammenbruch erholt, dem dürfte dieses Auftreten daran erinnern.
Flackernder Blick
Assange sagt, er empfange jeden Tag Besucher. Ich bin mir aber nicht sicher, wann wohl das letzte Mal jemand hier war, den er nicht kannte. Also frage ich ihn, ob ihm die Situation unangenehm ist. «Nein», lautet die Antwort. «Ich freue mich auf Gesellschaft. Und, in manchen Fällen, auf einen Gegner.» Sein Blick flackert kühl. «Wir werden sehen, wie es diesmal ist.» Die jüngsten Berichte, er leide an einer chronischen Lungeninfektion, tut er ab. Aber, sagt er, «ich schätze, es ist wohl ganz schön, dass man sich um mich sorgt.» Ehemalige Geisseln berichten häufig, wie viel es ihnen bedeutet habe, den eigenen Namen im Radio zu hören und zu wissen, dass die Welt sie noch nicht vergessen habe. Geht es ihm angesichts der Berichte über seine Gesundheit ähnlich? «Absolut. Viel stärker war dieses Gefühl aber damals, als ich im Gefängnis war.»
Im Dezember 2010 verbrachte Assange zehn Tage in Haft, bevor er gegen Kaution im Herrensitz eines Unterstützers unterkam. Dort konnte er am Tage frei ein- und ausgehen. Trotzdem habe er sich dort stärker als Gefangener gefühlt: «Während des Hausarrests musste ich 24 Stunden am Tag eine elektronische Fussfessel tragen. Für jemanden, der seitdem er erwachsen ist, versucht, anderen Freiheit zu verschaffen, ist das unerträglich. Ausserdem musste ich über 550 Tage am Stück täglich – auch an Weihnachten und Neujahr – bei der Polizei erscheinen.» Allmählich redet er sich warm, seine Stimme wird scharf vor Empörung. «Eine Minute Verspätung hiess sofort Gefängnis.»
Obwohl er hier ans Haus gefesselt ist, fühlt er sich also freier, weil er über diese Gefangenschaft selbst bestimmt? «Ganz genau.»
Eine einfache Rechnung
Assange hat ein neues Buch geschrieben, es trägt den Titel Cypherpunks: Freedom and Future of the Internet. Es basiert auf einem Gespräch mit drei anderen Cypherpunks – Internetaktivisten, die für den Datenschutz im Netz kämpfen – und warnt davor, dass wir uns schlafwandlerisch auf eine «neue transnationale Dystopie» zubewegten. Der Ton des Buchs ist unheilvoll: «Das Internet, unsere grösstes Befreiungswerkzeug, ist zum gefährlichsten Hilfsmittel des Totalitarismus gemacht worden, das wir jemals gekannt haben.» Zum Zielpublikum gehört jeder, der schon einmal im Internet war, oder ein Mobiltelefon benutzt hat.
Eine These: Die Kosten fürs das Abfangen von Telefongesprächen und Internetkommunikation halbieren sich alle zwei Jahre, die menschliche Bevölkerung verdoppelt sich bloss alle 20. «Wir haben also einen kritischen Punkt erreicht, ab dem es möglich ist, alles abzufangen – jede SMS, jede E-Mail, jedes Mobilfunkgespräch –, es zu speichern und zu einem für Regierungen bezahlbaren Preis zu durchsuchen. Ein in Südafrika produziertes Abhörwerkzeug kann den gesamten Telekommunikationsverkehr eines Landes mit mittelgrosser Bevölkerung für zehn Millionen Dollar im Jahr speichern und indizieren.» Die Öffentlichkeit habe davon keine Ahnung – vor allem, weil es eine mächtige Lobby gebe, die daran arbeite, es zu verbergen. Zum Teil aber auch, weil das Thema rechtlich und technologisch so komplex sei. Also leisten wir alle, indem wir etwas online preisgeben, dem Staat täglich Beihilfe beim Diebstahl unserer privaten Daten.
Schutz, meint Assange, böte nur eines: Die Kryptographie. So wie das Händewaschen einst von einem neuen Gedanken zum alltäglichen Bestandteil des Lebens und zur grundlegenden Massnahme des Gesundheitsschutzes wurde, würden wir uns auch daran gewöhnen müssen, unsere Onlineaktivitäten zu verschlüsseln.
Die Erde ist rund
«Mit einem gut definierter Algorithmus lassen sich Dinge schnell verschlüsseln. Sie zu entschlüsseln, dauert hingegen Milliarden Jahre – oder Billionen Dollar für den Strom, den der Computer benötigen würde. Für Organisationen, die im Internet arbeiten, ist Kryptographie also essenzieller Baustein ihrer Unabhängigkeit, genau wie Armeen die Grundbausteine für Staaten sind, weil sonst einfach ein Staat den anderen übernehmen würde.»
Assange spricht wie jemand, der herausgefunden hat, dass die Erde rund ist, während alle anderen noch im Glauben herumlaufen, sie sei flach. Das führt dazu, dass man unwillkürlich zuhört. Aber auch dazu, dass Zweifel an seiner These entstehen. Es ist unumstritten, dass Assange sich bei dem Thema so gut auskennt, wie kaum ein anderer. Was er vorträgt, ist ebenso fesselnd wie beängstigend. Doch über seiner Legitimation als Kreuzritter gegen den Machtmissbrauch hängt ein Fragezeichen. Ebenso über seinem Geisteszustand. Nach all den Dramen der vergangenen zweieinhalb Jahre, kann man das Buch kaum lesen, ohne sich zu fragen – ist Assange überhaupt ein verlässlicher Zeuge?
Ich sage ihm, dass so mancher Leser sich fragen wird, warum es in Ordnung ist, dass WikiLeaks vertrauliche staatliche Korrespondenzen veröffentlicht, wenn es so ungeheuerlich, dass der Staat unsere E-Mails liest.
«Es geht um Macht», entgegnet Assange. «Und um Rechenschaftspflicht. Je grösser die Macht, desto wichtiger wird Transparenz. Weil die Folgen eines Missbrauchs dieser Macht so gewaltig sein können. Andererseits dürfen wir die Macht derjenigen, die ohnehin keine haben, nicht noch weiter schmälern, indem wir sie transparenter machen.»
Grund zur Wut
Viele würden sagen, dass auch er sehr mächtig sei und deshalb in Sachen Verantwortlichkeit und Transparenz an ihn ein besonders hoher Massstab angelegt werden sollte. «Ich denke, dass stimmt», sagt er. War also die Entscheidung WikiLeaks‘, die Namen von afghanischen Informanten unredigiert zu veröffentlichen, ein Fall von Machtmissbrauch? Assange richtet sich auf: «Das ist absurde Propaganda. Kindergartenrhetorik.»
Dass selbst einige seiner Unterstützer an seiner Persönlichkeit verzweifeln und seine Probleme auf Selbstüberschätzung zurückführen, ist ihm nicht entgangen. Doch davon nimmt er nichts an. Wie erklärt er sich, dass so viele seiner zwischenmenschlichen Beziehungen eine unschöne Wende genommen haben? «Haben sie nicht.»
Was ist mit den engen Kollegen bei WikiLeaks, mit denen es zum Bruch kam? «Nein!», schreit er praktisch. Aber Daniel Domscheit-Berg hatte es doch so satt, dass er ging, oder? «Nein, nein, nein, nein, nein. Domscheit-Berg hat bei WikiLeaks nur eine kleine Rolle gespielt und wurde am 25. August 2010 von mir suspendiert. Suspendiert.» Nun ja, darum ging es doch auch – Assange hat sich mit ihm überworfen. «Bleiben Sie doch seriös. Mein Gott, ganz im Ernst. Wir reden hier über den Tod von hunderttausenden Menschen – hunderttausenden – den wir mit unserer Arbeit enthüllt und dokumentiert haben. Und sie fragen mich, ob wir 2010 mal jemanden suspendiert haben?» Eigentlich hatte ich gefragt, ob nicht immer wieder zwischenmenschliche Beziehungen, die er unterhält, ins Bittere umschlagen, ob es da nicht ein Muster gibt. «Gibt es nicht!», brüllt er.
Ich werfe Assange nicht vor, dass er wütend wird. Aus seiner Perspektive arbeitet er unermüdlich daran, staatliche Geheimhaltung aufzudecken und uns alle vor Tyrannei zu schützen. Dafür hat er mit seiner Freiheit bezahlt und fürchtet nun um sein Leben. Ist nicht offensichtlich, dass geheime Kräfte versuchen, es so aussehen zu lassen, als sei er verrückt oder böse und WikiLeaks diskreditieren? Ist das wahr, dann sind seine Schwächen entweder fabriziert oder irrelevant. Die messianische Grandiosität seiner Selbstrechtfertigung ist dennoch ein wenig befremdlich.
Für immer gefangen?
Hat er sich mit der Möglichkeit beschäftigt, dass er den Rest seines Lebens in dieser Botschaft verbringen könnte? «Ich habe darüber nachgedacht. Ganz sicher ist es besser als Supermax», die höchste Gefängnissicherheitsstufe in den USA.
Hat er je versucht, dahinterzukommen, ob er paranoid ist? «Ja, darin habe ich viel Erfahrung. 22 Jahre um genau zu sein.» An wen er sich wendet, wenn er emotionale Unterstützung braucht, möchte er lieber nicht sagen, «weil wir uns in einem feindlichen Konflikt befinden.» Am meisten vermisse er aber seine Familie. Er redet jetzt wieder langsamer und leiser.
«Die Situation, äh, die Kommunikationssituation ist schwierig. Einige von ihnen mussten ihre Namen ändern oder umziehen, weil sie Todesdrohungen erhalten haben, die eigentlich auf mich abzielten. Rechte Gruppen in den USA haben ausdrücklich vorgeschlagen, zum Beispiel meinen Sohn ins Visier zu nehmen, um mich zu kriegen. Der Rest der Familie hat angesichts dessen Vorsichtsmassnahmen getroffen.» Doch das alles sei es wert, sagt er. Wegen allem, was er erreicht habe.
Wofür es sich lohnt
«Wir haben den Ausgang von Wahlen beeinflusst, zu den Revolutionen im Nahen Osten beigetragen, wir wissen, dass wir etwas für die Menschen im Irak und in Afghanistan getan haben. Ausserdem haben wir einen wichtigen Beitrag zum Ende des Irakkriegs geleistet. Das können sie nachlesen. Es hat mit den Umständen zu tun, unter denen den US-Truppen Ende 2011 die Immunität verwehrt wurde. Die Iraker haben die von uns direkt veröffentlichten Dokumente als einen Grund für die Aufhebung der Straffreiheit angeführt. Und die USA haben gesagt, ohne eine Beibehaltung der Immunität würden sie nicht bleiben.»
Über die Anklagen wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung könne er aus rechtlichen Gründen nichts sagen. Er prophezeit aber, dass das Auslieferungsgesuch fallengelassen werde. Die Gründe für diese Zuversicht sind nicht ganz klar, denn schon im nächsten Atemzug fügt er hinzu: «Schweden weigert sich, wie ein vernünftiger Staat zu handeln. Es weigert sich, zu garantieren, dass ich nicht in die USA ausgeliefert werde.» Schweden sagt, darüber würden die Gerichte entscheiden, nicht die Regierung. «Das ist absolut falsch. Die Regierung hat das letzte Wort.» Wenn er Recht hat und die Sache wirklich so eindeutig ist, warum dann die ganze rechtliche Verwirrung? «Weil enorme Mächte im Spiel sind», sagt er verärgert. «Kontroversen entstehen, wenn Leute versuchen, die politische Meinung in die eine oder andere Richtung zu bewegen.»
Also dauert seine surreale Flüchtlingsexistenz als Gefangener in einem winzigen Stück Ecuadors in Knightsbridge an. Um den Mangel an Sonnenlicht zu kompensieren, hat er eine spezielle UV-Lampe, die er aber nur mit äusserster Vorsicht benutzt, seitdem er sich beim ersten Versuch damit die Haut verbrannt hat. Seine Assistentin – die vielleicht, vielleicht aber auch nicht, seine Freundin ist – die entsprechenden Berichte hat sie bei meiner Ankunft dementiert – ist immer da. WikiLeaks gehe es prächtig, sagt er. Berichte, die Organisation sei im Grunde implodiert, die Dramen und Konflikte um ihren Chefredakteur hätten sie erledigt, tut er als weitere Verleumdungen ab. Dieses Jahr werde WikiLeaks über eine Millionen Leaks veröffentlicht haben, 2013 sollen «erheblich viele weitere» folgen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er seine elektronische Fussfessel losgeworden ist, denn als ich danach frage, reagiert er mit einem leicht gnomischen Lächeln und sagt: »Das möchte ich lieber nicht kommentieren.»
Was ein Gentleman ist…
Terrorist, Visionär, Vergewaltiger, Freiheitskämpfer – Julian Assange ist schon vieles genannt worden. Mich erinnert er manchmal an einen charismatischen Anführer einer Sekte – doch angesichts seiner gegenwärtigen Lage ist es kaum überraschend, das in seiner Welt eher Loyalität zählt, als kritische Distanz. Mit Sicherheit kann ich nur sagen, dass er ein Kontrollfreak ist. Er selbst wählt, um sich zu beschreiben, am häufigsten das Wort «Gentleman». Für einen Cypherpunk scheint mir diese Bezeichnung eigentümlich vornehm, also bitte ich ihn um eine Erklärung.
«Was ist ein Gentleman. Ich nehme an, es handelt sich um ein schönes Stück australischer Kultur, das man vielleicht in diebischen Metropolen wie London nicht versteht. Es geht darum, wie wichtig es ist, ehrenhaft zu sein, Wort zu halten und wie ein Gentleman zu handeln. Ein Gentleman ist jemand, der sich mit dem Mut seiner Überzeugungen dem Druck nicht beugt, Schwächere nicht ausnutzt. Der ehrenhaft handelt.»
Ist er so? «Nein, das ist eine Beschreibung eines Ideals, das Männer meiner Meinung nach anstreben sollten.»
(Copyright: Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Zilla Hofman, «Freitag»)