Der Handwerker des Gedenkens

Der Kölner Künstler Gunter Demnig baut Tag für Tag am grössten Holocaust-Denkmal der Welt – zu Ehren der Opfer des Naziterrors.

Ein Stolperstein wird verlegt. (Bild: Bernadette Conrad)

Der Kölner Künstler Gunter Demnig baut Tag für Tag am grössten Holocaust-Denkmal der Welt – zu Ehren der Opfer des Naziterrors.

Der rote Kleinbus parkt auf dem Trottoir, Gunter Demnig holt sein Arbeitsmaterial heraus: vier schwarze Plastikeimer mit Werkzeug, eine Plastikkanne. Dort, wo im Strassenpflaster vor einem Haus ein kleines quadra­tisches Loch schon ausgehoben ist, legt er zuerst das Wichtigste hin: einen Steinquader, dessen Oberfläche, zehn auf zehn Zentimeter gross, mit einer Messingplatte versehen ist, darin eingraviert die Worte: «Jakob Stoll, ­Jg. 1899, verhaftet 1933, KPD, Flucht 1937, Spanien, Int. Brigade Spanien, 1944 KZ Dachau, überlebt.»

Es ist ein sonniger Frühsommermorgen in Konstanz am Bodensee. ­Eigentlich war Regen angesagt – nicht, dass er irgendetwas am Plan geändert hätte. Auf seiner nicht endenden, unermüdlichen Fahrt kreuz und quer durch Europa sind die Zeiträume knapp ­bemessen, die Gunter Demnig an jenen Orten verbringt, wo jemand bei ihm Stolpersteine bestellt hat – im Boden eingelegte Gedenksteine, jeweils markiert mit den minimalen Daten zur Verfolgungsgeschichte eines Menschen, der Opfer des Naziterrors geworden war.

1993 kam der aus Berlin stammende und heute in Köln lebende Bildhauer und Aktionskünstler auf die Idee ­dieser steinernen, messingglänzenden Markierung im Trottoir am letzten «selbst gewählten Wohnort» eines Menschen. Diese Präzisierung ist wichtig: Zwangsumsiedlung, Umzug in einen zum Ghetto erklärten Bezirk der Stadt sind ja schon Schritte auf dem Leidensweg. Mit seinen Stolpersteinen ruft Demnig aber noch einmal den ­freien, selbstbestimmten Menschen in Erinnerung – bevor Verfolgung und Deportation ­begannen.

Erste Stolpersteine illegal verlegt

Die ersten Steine verlegte Demnig in Köln und Berlin – ohne Genehmigung. Zu dem Zeitpunkt war er längst ein ­erfahrener Aktionskünstler, der schon mit anderen Projekten nicht Kunst­galerien gefüllt, sondern politische ­Signale in den öffentlichen Raum gegeben hatte. Immer wieder arbeitete er mit Spuren – mit Schrift, Faden oder auch mit Blut gezogen, die an verges­sene und unterdrückte Zusammen­hänge ­erinnern.

Auch die Stolpersteine sind so eine Spur. Durch die ganzen 1990er-Jahre zogen sich Antragsverfahren und Klärungen, bis Gunter Demnig, mittlerweile in seiner Idee vielfach unterstützt, die ersten offiziellen Steine in deutschen Städten verlegen durfte.

37’000 Steine bereits platziert

Vor dem unauffälligen Konstanzer Mietshaus hat sich eine Gruppe von Leuten eingefunden. Während Demnig den Stein einpasst und Zementsand mit Wasser angiesst, spricht einer von ihnen jetzt über Jakob Stoll, 1899 in Thundorf/Thurgau geboren, in Konstanz lebend, schon 1933 als Kommunist verhaftet und ins KZ deportiert. Nachdem ihm die Flucht aus Deutschland in die Schweiz geglückt war, reiste er weiter nach Spanien und kämpfte in den Internationalen Brigaden gegen Franco. Auch nach Auslieferung an die Gestapo, Deportation ins KZ Dachau, geglückter Flucht nach Konstanz war der politische Elan des mutigen Jakob Stoll nicht gebrochen: Er blieb der kommunistischen Idee treu, arbeitete als Geschäftsführer der städtischen Betreuungsstelle für Nazi-Opfer.

Gunter Demnig hat den Stein verschlämmt und zuletzt die Messingplatte mit einem Taschentuch so sauber geputzt, dass sie in der Sonne funkelt. Während sich in einer Schweigeminute der Kreis des Gedenkens noch einmal um den neuen Stolperstein schliesst, hat der Künstler seine Arbeitsgeräte längst verstaut, sitzt in der offenen Wagentür. Dann bricht die Gruppe auf, Demnig lässt den Kleinbus anrollen.

Inzwischen liegen rund 37 000 Stolpersteine in Europa: in Österreich, Holland, Belgien, Polen, Tschechien, Ungarn, Italien, Slowenien – und fast überall hat Demnig die Steine selber verlegt. Sie vermessen von Monat zu Monat vollständiger das ungeheure Ausmass des Naziterrors.

Was so entsteht, ist eine europäische Landkarte des Gedenkens. Eine Landkarte mit einem weissen Fleck mittendrin – der Schweiz. Auf eindrückliche Art macht die Stolperstein-Landkarte sichtbar, wie sich die Schweiz aus der Dynamik der faschistischen Deporta­tionen und Morde heraushalten konnte. Wobei schon ein Schritt näher an die durch die Stolpersteine erinnerten Lebensgeschichten deutlich macht, dass die Wahrheit so einfach nicht ist.

Die Schweiz war nicht beteiligt – und doch unendlich verstrickt: Unzählige Familien sahen sich an Schweizer Grenzen zum letzten Mal – wenn etwa die Kinder in einem Kindertransport Deutschland verlassen durften, aber die Eltern den rettenden Schritt über die Grenze nicht tun durften. So passierte es der siebenjährigen Ruth Schwarzhaupt aus Konstanz. Sie wurde in der Schweiz von ­Familie zu Familie weitergereicht, während beide Eltern im Lager starben. Gunter Demnig weiss von einem Familienvater, der während einer solchen Trennung an der Grenze einen Herzinfarkt erlitt und starb.

Bühne für die Opfer

Demnig während seiner Arbeit einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen, ist gar nicht so einfach – und das liegt nicht nur an dem breitkrempigen, tief in die Stirn gezogenen Cowboyhut. Kaum ist der rote Bus an der nächsten Adresse angekommen, hat Demnig sein Arbeitsgerät schon an den von der Stadt präparierten Aushub getragen, die Kanten vom Betonquader abgeschlagen und arbeitet gebeugt an der Verlegung des nächsten Stolpersteins.

Ist die Messingplatte geputzt und das Werkzeug verräumt, zieht sich Demnig zurück und überlässt die Bühne vollständig den Opfern, die dank der Recherchen und Erinnerungs­arbeit der «Initiative Stolpersteine» noch einmal lebendig werden – und den wenigen Überlebenden oder Angehörigen, die oft von weither zu einer Verlegung anreisen.

Hier tut sich eine erstaunliche Kluft auf. Demnig, der das grösste dezentrale Denkmal des Holocausts erdacht hat und nun täglich weiter daran baut, vollzieht seine Arbeit nicht als vielbeklatschter Künstler, sondern als Handwerker des Gedenkens, der selbst kaum in Erscheinung tritt – auch wenn ihm längst internationale Anerkennung zuteil wurde: vom Deutschen Bundesverdienstkreuz bis zum Bernhard-Heller-Preis, kürzlich in New York verliehen, reichen die Auszeichnungen.

Achtzehn neue Stolpersteine wird Konstanz heute bekommen, zusätzlich zu den 103, die es hier schon gibt. Sechs von ihnen gelten politischen Opfern, elf sind Menschen jüdischen Glaubens gewidmet, einer einem Mann, der durch einen Euthanasiemord starb. Ohne Demnigs ehrenamtliche Helfer vor Ort sowie die privaten Spender der Stolpersteine wäre die Arbeit nicht möglich.

Fast fünf Stunden lang kreuzt der rote Minibus durch die Stadt, die mal eine aktive jüdische Gemeinde von rund 500 Menschen hatte. Gegen ­Mittag gibt es Verlegungen mitten in der Fussgängerzone. Neugierig bleiben Leute stehen. Die nächsten Steine ­gelten der jüdischen Familie Halpern, in der die Eltern trotz zunächst ge­lungener Flucht in Belgien gefasst und in Auschwitz ermordet wurden. Ihre beiden Kinder Werner und Melanie hatten sie Jahre zuvor in einem Kindertransport in die USA schicken können.

270 Tage pro Jahr unterwegs

Heute sind Werners Töchter Miriam und Naomi Halpern aus Rochester, New York angereist. Die vier Steine werden dicht beieinander verlegt – symbolisches Bild für die Zusammengehörigkeit jener, die gewaltsam auseinandergesprengt wurden und nie ein Grab bekamen. «He was an ordinary man with an extraordinary life», sagt Miriam Halpern in ihrer kurzen Rede über ihren Vater – und sie seien sehr, sehr glücklich, hier sein zu dürfen.

Gunter Demnig lehnt in der Wagentür und hört zu. Am Abend wird er noch einen Vortrag halten, morgen wird der rote Minibus Richtung Italien rollen. An 270 Tagen im Jahr ist Demnig mit seinen Steinen unterwegs – von Geschichte zu Geschichte. Bedauert er, der schon so viele Kunstprojekte ins Laufen gebracht hat, nie, dass er kaum mehr zu anderem kommt? «Es ist ein Lebenswerk geworden», sagt er. «Manchmal fragen mich Leute, ob die Arbeit nicht zur Routine werde…» Er schüttelt den Kopf, lächelt. Muss er das erklären? Man war ja dabei an diesem Morgen. «Routine, von wegen.»

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 29.06.12

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