Einst war Paul Richener Verdingkind, heute ist er Gemeindepräsident der Baselbieter Gemeinde Nusshof. In der Erinnerung leidet der 66-Jährige aber noch immer.
Nur noch zehn Minuten, dann darf Pauli endlich nach Hause, heim zur Mutter nach Basel. Wenigstens für eine Nacht. Die ganze Woche hat Pauli Richener, 13 Jahre, hier auf dem Bauernhof geschuftet. Hat um vier Uhr morgens den Rasen unter den Kirschbäumen gemäht, danach den Stall ausgemistet, später die schweren Milchkessel zur Käserei am Dorfplatz geschleppt. Jetzt, als er die Küche des Bauernhofs betritt, trägt er saubere Sachen. Gleich fährt der gelbe Postbus oben am Hügelkamm ab, und Pauli braucht das Geld fürs Billett. Doch die Bauersfrau gibt es ihm nicht. «Wo willst du hin?», fragt sie. «Zu meiner Mutter», antwortet er. «Du gehst nicht», sagt die Bäuerin. «Du hast zu wenig geschafft diese Woche.»
53 Jahre sind seit diesem Tag vergangen. Heute sagt Paul Richener: «Als Verdingbub warst du ein Nichts.» Und er ist beileibe kein Einzelfall. Heute leben in der Schweiz Schätzungen zufolge rund 15’000 ehemalige «Verdingkinder» – Menschen wie Paul Richener, die als Kinder wie Leibeigene gehalten wurden und Zwangsarbeit leisten mussten, meist ohne Lohn und Taschengeld. Die Behörden nahmen bis in die 1970er-Jahre armen Familien die Kinder weg und «verdingten» sie bei Bauern.
Immer war er «zu wenig»
So sparte der Staat Geld für Hilfsleistungen, weil bei der «armengenössigen» Familie weniger Personen am Esstisch sassen. Auch Waisen- und Scheidungskinder waren betroffen. Die Bauern bekamen so billige Arbeitskräfte ohne Rechte. Viele Verding- und Heimkinder erlebten Gewalt, Erniedrigung, Missbrauch. Sie wurden schamlos ausgenutzt – auch Paul Richener. Erst Jahre später begriff er, warum er fast nie zur Mutter durfte: Die Bauersleute sparten mit jedem gestrichenen Wochenendausflug das Geld für sein Billett.
Lange hat Paul Richener über seine Kindheit geschwiegen. Seit er pensioniert ist, wollen die Geschichten aus ihm heraus. Er ist jetzt 66, sitzt in seinem Haus in Nusshof im Kanton Baselland, nippt an einem Espresso, italienische Röstung. Er trägt ein modisches Hemd und Designer-Jeans, erzählt vorsichtig, er sucht nach Bildern, nach Wörtern, er stockt, setzt neu an. Dann sagt er: «Es war schlimm, ständig in der Fremde zu leben.» Von frühmorgens an schuftete er, dann ging er in die Schule, gleich danach wieder zurück in den Stall: Kühe füttern, Mist zur Seite räumen. Im Sommer half er bei der Ernte: Kirschen pflücken, Ähren schneiden, heuen. Im Spätherbst musste er auf dem Acker Rüben ausreissen, das Kraut abschneiden, Früchte stapeln. Es war kalt, Pauls Finger klamm. Am nächsten Morgen schlug der Bauer ihn windelweich. Er habe zu wenig geleistet.
Die Töchter des Bauern wollten ihn nicht am Tisch haben: Er stinke nach Stall, sagten sie.
Und dann die Einsamkeit. In der Schule erzählten die anderen Kinder von ihrem Zuhause, die vier Töchter des Bauern wiederum berichteten daheim von ihren Erlebnissen in der Schule. Paul schwieg, denn er hatte niemanden. Die Mahlzeiten nahm er allein in der Küche ein. Die Töchter wollten ihn nicht mit am Tisch haben. Er stinke nach Stall, sagten sie. Dorthin musste er nach dem Abendessen zurück. Um neun Uhr abends ging er runter ins Dorf – ins verlotterte Bauernhaus, in das ihn die Pflegefamilie einquartiert hatte, weit weg von ihr. Im Winter behielt er den Mantel an; das Zimmer war ungeheizt, roch nach Moder.
An guten Tagen schaffte er noch die Hausaufgaben, setzte sich an den Tisch, kritzelte Zahlen oder schnörkelige «Schnürlischrift» ins Heft. An schlechten Tagen hörte er am nächsten Morgen das Sausen des Rohrstocks, bevor er den Schmerz am Hintern spürte: vier, fünf Hiebe – die Strafe des Lehrers für nichtgemachte Hausaufgaben. Dennoch: Wenn Paul Richener heute von seiner Zeit auf dem Bauernhof erzählt, dann sagt er auch, dass der Bauer ihn ja nicht so oft geschlagen habe wie all die Pflegeväter davor. Er habe auch genug zu essen bekommen, dazu Kleider – und er durfte eben in die Schule gehen.
Das Mündel kommt nicht zu Wort
Paul Richeners Geschichte ist in einem mausgrauen Ordner abgeheftet, dessen Inhalt der 66-Jährige jetzt vor sich auf dem Tisch ausbreitet – seine Kindheit und Jugend im Spiegel amtlicher Dokumente. Rechnungen über Sonntagskleider, die die Behörden bezahlten, über Socken und Unterwäsche, über ein Fahrrad für 315 Franken, Zeugniskopien, dünne Durchschläge amtlicher Besuchsberichte in Pflegefamilien und Heimen von 1954 bis 1969. Die Behördenvertreter notierten mit Akribie jeden investierten Betrag und im Gegenzug die schulischen Leistungen ihres Mündels. Paul kommt kein einziges Mal zu Wort – viele angeblich angeschaffte Kleider bekam er nie.
Paul Richener hat inzwischen jedes Detail aus seiner Vergangenheit rekonstruiert. Er ist noch ganz klein, als die Mutter die Familie verlässt, und gerade mal fünf, als die Behörden seinem Vater, einem Isolierer, die sechs Kinder wegnehmen. Es folgt eine lange Zeit bei Pflegeeltern, und wie schlimm es dort gewesen sein muss, kann man in den vielen Akten nachlesen. Die erste Aktennotiz handelt vom Besuch der Behördenvertreterin bei Pauls erster Pflegefamilie vom 9. Dezember 1954 – da ist Pauli fünf Jahre alt. Die Kontrolleurin stört der «ärmliche Eindruck» der Wohnung und «das zerrissene Leintuch» auf Pauls Bett.
Vor dem Zubettgehen muss Paul vor dem «gemütlichen» Pflegevater die Unterhose herunterlassen.
Sie beschreibt die Pflegemutter als «einfältig» und «schnippisch», den Pflegevater immerhin als «gemütlichen Typ.» Folgen hat ihr Besuch keine. Paul bleibt hier anderthalb Jahre. Nicht aktenkundig wird, dass er vorm Zubettgehen vor dem «gemütlichen» Pflegevater in der guten Stube die Unterhose herunterlassen muss, um zu zeigen, ob sie noch sauber ist. Dessen vier Kinder schauen zu, lachen. Paul Richeners Stimme zittert, als er davon erzählt. Vielleicht wegen der erlittenen Kränkung, vielleicht wegen der Erinnerung an den Jungen, der er einmal war. Er schluckt die Rührung hinunter.
Die nächste Pflegemutter beschwert sich am 6. Februar 1958 bei der Kontrolleurin der Vormundschaftsbehörde über Pauls «schmeichlerisches und heuchlerisches Wesen». Sie behauptet, dass er «Geld stibitzte und es wegleugnete». Sie klagt, dass er «keine Bindung» an die Familie habe. Die Besucherin spricht dennoch nie allein mit Paul. Sonst hätte er ihr womöglich erzählt, dass die Pflegefamilie ihn ständig einsperrte – jeden Abend und auch tagsüber, wenn sie ausging. Er hat nicht mal ein Bett, sondern schläft auf Decken auf dem Speicher, in den es hereinregnete.
Ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis
Jede Pflegefamilie kassiert für ihn Kostgeld, die Behörden schauen lieber nicht so genau hin, wem sie die Kinder anvertrauen. Und sie sparen an ihnen: In der Schule in Basel trägt Paul zunächst nur kurze Hosen, er hat keine anderen. Später bekommt er welche aus «Schülertuch», ein Geschenk der Behörden. Der Stoff ist grob, billig und kratzt. Die anderen machen sich über ihn lustig. Seinen Vater trifft Paul nur gelegentlich – wenn er mal wieder ausbüxt, im Kleinbasel, dem Arme-Leute-Quartier auf der rechten Rheinseite. Paul mag ihn, denn der Vater steckt ihm ab und zu ein Stück «Schoggi» zu.
Mit der Mutter ist es schwieriger: In der Dämmerung steht der «Pauli» oft in der Mansarde des Kinderheims, in das er mit neun Jahren gekommen ist, schaut über die Wettsteinbrücke zu ihrem Viertel. Am Sonntag darf er manchmal zu ihr, da hat sie in der Fabrik frei. Sie nimmt ihn mit zum Kegeln, oft mit ihrem neuen Bekannten. Doch Paul sitzt meist abseits, muss sich allein beschäftigen. Beim Rückweg ins Kinderheim läuft er über die Brücke und denkt: Ich könnte jetzt genauso gut in den Rhein springen. Ich würde keinem fehlen.
Beim Rückweg über die Brücke ins Kinderheim denkt Paul: Ich könnte jetzt genauso gut springen.
Staatliche Willkür erlebt Paul Richener auch später, während er seine Lehre zum Hochbauzeichner absolviert – sein Traumberuf. «Pack deine Sachen», verlangt seine Vormundin eines Tages am Mittagstisch; Fräulein Widmer ist eine Frau mit Dutt und faltigem Gesicht. «Du kommst jetzt mit», sagt sie. Dabei soll Paul an jenem Nachmittag weiterzeichnen – der Architekt braucht den Entwurf. Doch die Vormundin bleibt hart, bringt Paul in sein neues Zuhause: ins Jugendgefängnis und Jugendheim in Basel. In ein Viererzimmer. Ein schüchterner 16-Jähriger inmitten von Straftätern. Dabei hatte er nichts verbrochen. Die Behörden brachten dort auch unbescholtene Jugendliche unter.
Richener weiss bis heute nicht, wieso es ihn traf. Schweizer Behörden wiesen Tausende Jugendliche ohne Gerichtsurteil in Strafanstalten ein. Ein Vormund brauchte dazu, wie Akten belegen, seinen Schutzempfohlenen nur als «arbeitsscheu», «lasterhaft» oder «aufsässig» zu taxieren. Die Ämter verzichteten erst 1981 auf diese Praxis – auf Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Viele der Opfer der «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» leiden noch heute an den Folgen: Sie sind oft schlecht ausgebildet oder psychisch und körperlich krank. Erst im Frühjahr 2013 bat die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga sie im Namen der Regierung um Entschuldigung für das zugefügte Leid.
Karriere bei der Polizei Basel-Stadt
Im Frühjahr 2014 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das das Unrecht anerkennt. Der Haken: Eine angemessene finanzielle Wiedergutmachung ist nicht vorgesehen. Es gibt nur einen Soforthilfefonds. Bedürftige bekommen eine einmalige Hilfe von 4000 bis 12’000 Franken ausbezahlt. Über 350 Betroffene haben bisher einen Antrag gestellt. In den Augen der Opfer ist das nicht genug: Sie legten vor Kurzem die erforderlichen 100’000 Unterschriften für eine Volksabstimmung vor.
Die Schweizer Bürger müssen demnächst abstimmen, ob 500 Millionen Franken aus der Bundeskasse einen Entschädigungs-Fonds speisen sollen – und Historiker die damalige Behördenpraxis wissenschaftlich aufarbeiten. Paul Richener rackerte sein Leben lang, um die Anerkennung zu bekommen, die er als Kind vermisst hat. Im Jugendgefängnis musste er Gärtner lernen. Der Leiter prophezeite ihm zum Abschied: «Büebli, aus dir wird nichts.» Doch Paul Richener machte bei der Polizei Basel-Stadt Karriere – zuerst bei der Sicherheitspolizei, dann bei der Antiterror-Einheit, als Ausbilder in der Polizeischule und später Leiter der Bussenzentrale.
Der Vorwurf, zu wenig zu arbeiten – darauf ist Paul Richener empfindlich.
Andererseits erzählte er seine Geschichte nie einem Kollegen. Und er fühlte sich, wie er sagt, auch nie so anerkannt wie die anderen Polizeikader, obwohl er viel mehr investierte als sie. Er führt durch sein Haus, ein stattlicher Bau mit glänzenden Steinböden, Ledersofas, viel Chrom, grossen Fenstern. Ein offenes Haus – die Küche geht in den Wohnbereich über, die Fensterfront bietet einen grandiosen Ausblick auf das Tal. Keine Enge mehr, gediegener Wohlstand. Der Besitzer hat es zu etwas gebracht. Er ist seit vierzehn Jahren der gewählte Gemeindepräsident von Nusshof. Die Gemeinde hat in der Zeit ein neues Baugebiet erschlossen, ein neues Mülltrennungssystem eingeführt, die Gemeindekanzlei renoviert. Das Dorf hat 250 Einwohner, 50 Prozent mehr, als zu der Zeit, als er anfing. Die Gemeinde ist schuldenfrei.
Richener könnte auf dies alles stolz sein, sich zurücklehnen. Und doch ärgert er sich lieber darüber, dass ein paar Zugezogene behaupten, er würde seine Sollstunden als Gemeindepräsident nicht ableisten. Das Gegenteil ist der Fall, sagt er, sichtlich verletzt. Der Vorwurf, zu wenig zu arbeiten – darauf ist er empfindlich. Dabei war für ihn schon früh klar, dass er dem Dorf etwas zurückgeben wollte. Schon als Zwölfjähriger sagte er zur Frau des Bauern, während sie am Fenster standen: «Das Land da unten kaufe ich mal.» 37 Jahre später kam er aus der Stadt zurück und baute genau auf diesem Flecken sein Haus. «Wo hätte ich auch sonst hinsollen?», fragt er: «Das Dorf ist der einzige Bezugspunkt, den ich je hatte.»