Der Pharmakonzern Roche und Parkplatzgestänker prägen das Basler Wettsteinquartier. Sie schütteln die stille Wohnoase wach. Das ist auch nötig, denn die fürs Kleinbasel ausnehmend unkleinbaslerische Gastro- und Lädeliwüste wartet darauf, belebt zu werden.
Eines unterscheidet das Wettsteinquartier von allen anderen Stadtteilen: Es ist von fast überall her gut zu verorten, weil der 178 Meter hohe Roche-Turm alle anderen Bauten Basels überragt. Der Geschlechterturm der prosperierenden Pharmaindustrie steht sinnbildlich für eine Entwicklung, die das einst gemütlich vor sich hin dämmernde Quartier aus seinem Dornröschenschlaf wachrüttelt.
Schon früher prägten Industrietürme das Quartier, das wie ein Dreieck von Rhein, Messe und Osttangente begrenzt wird, etwa der Backsteinturm der ehemaligen Warteck-Brauerei. Heute wirkt dieser wie ein Stümmelchen im Vergleich zu den gebauten und geplanten Türmen auf dem Roche-Areal. Aber auch die Brauereiräume, die 1994 zum Werkraum beziehungsweise zu Kultur- und Begegnungszentrum umgenutzt wurden, brachten Veränderungen mit sich. Plötzlich pilgerten Menschen von ausserhalb in die vormals abgeschottete Wohnoase im Osten der Stadt.
Im unkleinbaslerischen Kleinbasel
Das Wettsteinquartier ist ein sonderbarer Stadtteil. Es ist erstens einmal ein junges Quartier. Bis 1921 trug das spärlich überbaute Gebiet ausserhalb der alten Stadtmauern den Namen Grenzach. Mit der Umbenennung auf den heutigen Namen zog auch die Bautätigkeit an. Zu den Villen des gehobenen Mittelstandes am sonnigen Rhein gesellten sich auch Mehrfamilienhäuser.
Der Basilisk wacht über die Villen am Schaffhauser Rheinweg. (Bild: Hans-Jörg Walter)
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Industriebauten hinzu – vornehmlich auf dem Areal, auf dem Fritz Hoffmann-La Roche Ende des 19. Jahrhunderts einen kleinen Drogerie-Fabrikationsbetrieb gegründet hatte.
Anders als das übrige Kleinbasel wurde das Wettstein aber trotz aufstrebender Industrie nie zum Arbeiterquartier. «Wenn man vom Kleinbasler Klischee ausgeht, ist das Wettsteinquartier ausgesprochen unkleinbaslerisch», sagt die Co-Leiterin des Stadtteilsekretariats Kleinbasel, Theres Wernli, «obschon wie im Klybeck oder in Kleinhüningen ein mächtiger Industrie- oder Chemieriegel das Quartier durchbricht».
Tiefer Ausländeranteil
Ein Blick in die Statistik bestätigt diese Aussage. Mit einem Ausländeranteil von 29,5 Prozent liegt das Wettsteinquartier mit seinen 5600 Bewohnerinnen und Bewohnern nur knapp vor Bettingen sowie sowie der Grossbasler Altstadt und weit unter den multikulturellen Spitzenwerten des nördlichen Kleinbasel, wo etwa die Hälfte keinen Schweizer Pass hat. Und auch deutlich unter dem baselstädtischen Durchschnitt von 35 Prozent.
Auch bei der Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung erscheint das Wettsteinquartier weniger multikulturell als andere Stadtteile Basels. Die mit Abstand grösste Nationalitätengruppe hat den deutschen Pass. Italiener und Spanier folgen mit weitem Abstand. Verglichen mit anderen Quartieren ist allerdings der Anteil der Zuzüger aus westlichen Staaten wie Österreich, den USA, Grossbritannien und Frankreich relativ hoch.
«Heimat der Villen»
Das Wettstein ist ein gutbürgerliches Quartier, das zeigen weitere statistische Kennzahlen. Bei der Gymnasialquote (59,7 Prozent) und der Wohnfläche pro Kopf (45,8 Quadratmeter) liegt es im oberen Drittel, bei der Einkommens- und Vermögenssteuer (9934 beziehungsweise 1689 Franken) ebenfalls. Bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfequote (3,2 beziehungsweise 3,1 Prozent) hingegen fungiert das Quartier im unteren Drittel und das trotz der Dichte an Wohnungen für sozial Bedürftigere vor allem im nordöstlichen Teil des Quartiers.
Neue Wohnungen für den gehobenen Mittelstand auf dem Kinderspital-Areal. (Bild: Hans-Jörg Walter)
Ein Drittel der Wohnbauten sind Einfamilienhäuser – nicht wenige von ihnen von stattlichem Ausmass, was auch der Grund sein dürfte, warum das Statistische Amt des Kantons das Wettsteinquartier als «Heimat der Villen» ausweist. Und auch beim Anteil der Grünflächen steht das Quartier mit 27,8 Prozent besser da als andere Gebiete vor allem im Kleinbasel. Dies verdanken die Quartierbewohner unter anderem ihrem eigenen Engagement, das 2010 eine stattliche Mehrheit der Basler Stimmbürger davon zu überzeugen vermochte, gegen eine Überbauung des Landhofareals zu stimmen.
Zufriedene Bewohner
Die Bevölkerungsstatistik weist die Bewohner des Wettsteinquartiers als überdurchschnittlich sesshaft aus – sie fühlen sich offensichtlich wohl an ihrem Wohnort. Ein Forschungsbericht des Instituts für Sozialplanung und Stadtentwicklung der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) aus dem Jahr 2008 bestätigt diesen Eindruck. Bei einer repräsentativen Umfrage gaben über 96 Prozent der Befragten an, sehr oder eher zufrieden mit ihrer Wohnsituation zu sein.
«Die Verankerung wie auch die Lebensqualität im Quartier sind hoch», schreiben die Verfasser des Berichts. Anders als andernorts in Basel werden die Felder «Kriminalität/öffentliche Sicherheit» und «Sauberkeit/Vandalismus» kaum als Problem wahrgenommen. «Nur ein Phänomen wird von einer Mehrheit als Problem wahrgenommen: der Verkehr», heisst es im Forschungsbericht.
Problemfeld Verkehr
Dieses Problemfeld hat mit den massiven Ausbauprojekten von Roche deutlich an Brisanz gewonnen. Bereits die FHNW-Studie bezeichnete das Wettstein im Titel als «Ein Wohnquartier im Wandel». Dabei war vor acht Jahren noch nicht bekannt, dass dem heute stehenden Turm noch mehrere weitere folgen sollen. Bis 2023 wird die Anzahl der Mitarbeiter auf dem Hauptsitz der Roche um 3000 auf stattliche 9000 Menschen anwachsen.
2014 haben sich mehrere Personen aus dem Quartier zum Verein der Hauseigentümer und Anwohner Wettsteinquartier (HEAW) zusammengeschlossen, «die bei den umwälzenden Veränderungen infolge der Roche-Expansion nicht untätig zusehen wollen», wie es im Selbstbeschrieb heisst. Gegen den aktuellen Bebauungsplan für das Firmengelände hat der Verein in einer konzertierten Aktion 89 Einsprachen organisiert.
«Der Kanton nimmt uns nicht ernst»
«Wir sind nicht gegen Roche, auch nicht grundsätzlich gegen die Ausbaupläne, aber wir wehren uns dagegen, wie der Kanton mit den Folgen umgeht», sagt Vereinspräsident Niklaus Trächslin. Insbesondere wehrt sich der Verein gegen die Pläne des Kantons, neben den bestehenden Buslinien künftig auch noch eine Tramlinie durch die Grenzacherstrasse zu führen.
«Eine Tramlinie Grenzacherstrasse mit Beibehaltung der Buslinien ist ein absolutes No-Go», heisst es in einem Schreiben an den Vorsteher des Bau- und Verkehrsdepartements, Hans-Peter Wessels. Auf Wessels und das Basler Amt für Mobilität ist Trächslin grundsätzlich nicht gut zu sprechen. «Der Kanton nimmt uns und unsere Anliegen nicht ernst», sagt er.
«Ich ärgere mich darüber, wie sektiererisch die Verwaltung das Parkplatzregime durchstiert, mir eine Baumallee vor die Nase setzt und Parkplätze abbaut.»
Und wenn man über die Verkehrsprobleme spricht, kommt nach dem ÖV-Ausbau schnell auch das Thema Parkplätze ins Spiel. Um das Vorhaben der Regierung, in der Wettsteinallee neue Allee-Bäume zu pflanzen und deswegen 20 Parkplätze abzubauen, ist ein regelrechter Glaubenskrieg entbrannt, der sich auch nicht ganz befrieden liess, als der Grosse Rat kürzlich mit einem Kompromissvorschlag die Zahl der abzubauenden Parkplätze (und zu pflanzenden Bäume) halbierte.
«Ich ärgere mich darüber, wie sektiererisch die Verwaltung das Parkplatzregime durchstiert, mir eine Baumallee vor die Nase setzt und Parkplätze abbaut», sagt LDP-Grossrat und Anwohner Felix Eymann. Seine Verbundenheit zum Quartier sieht er dadurch aber kaum geschmälert: «Das Wettsteinquartier ist noch immer einer der schönsten Teile der Stadt», sagt er.
Ein Merkmal, welches das Wettsteinquartier deutlich von vielen anderen Stadtteilen unterscheidet, scheint nur einen Teil der Bevölkerung zu stören. So sind im Quartier kaum Einkaufsmöglichkeiten zu finden. Neben dem Lehrlings-Migros (offiziell: Junior’s Market) an der Grenzacherstrasse und zwei, drei kleinen Quartierläden gibt es keine Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf. Auch die Restaurants lassen sich an einer Hand abzählen. Am Rhein, dessen Ufer wenige Meter weiter oben ausgesprochen belebt ist, sorgt im Sommer neben dem Restaurant des Museums Tinguely lediglich ein einziger Glace-Stand für Erfrischung.
«Eine Gastro- und Dienstleistungswüste.»
Thomas Kessler, Leiter der Basler Kantons- und Stadtentwicklung, spricht gar von einer «Gastro- und Dienstleistungswüste». Aber so richtig störend findet das nur ein kleiner Teil der Anwohnerschaft. Die Studie der FHNW umschreibt diese Gruppe mit «Familien und Personen mit familienausgerichteten, liberalen Urbanitätsvorstellungen». «Viele Bewohnerinnen und Bewohner scheinen keine Mühe damit zu haben, zum Einkaufen in die nahe Kleinbasler Altstadt zu gehen», sagt Theres Wernli vom Stadtteilsekretariat.
Auf dem Areal des Werkraums Warteck pp sind die meisten Gastroangebote im Quartier zu finden. «Der Werkraum ist eine belebte Insel im ruhigen Quartier und wird als das auch weitum geschätzt», sagt Benjamin van Vulpen, der Leiter des Quartiertreffpunkts Burg, der ebenfalls im Werkraum untergebracht ist.
Der Werkraum Warteck pp als belebte Insel im verschlafenen Quartier. (Bild: Hans-Jörg Walter)
Aber auch van Vulpen hat in einer Umfrage unter den Nutzern des Treffpunktes erfahren, dass die Ruhe im Quartier sehr geschätzt wird. «Allerdings ist es manchen etwas zu ruhig», sagt er. So seien bei der Umfrage auch Wünsche nach einem Quartierstrassenfest oder einem Flohmarkt aufgetaucht, «um den Dorfcharakter des Quartiers zu stärken». Auch ein weiteres Café sei als Wunsch vorgebracht worden.
Der Zusammenhalt und die Nachbarschaft sind nach Beobachtung van Vulpens wichtig für die Quartierbewohner. Das beschränkt sich nicht nur auf den Kontakt unter den Alteingesessenen. Auch die Flüchtlinge, die in einer Zwischennutzung in den Häusern gegenüber des Werkraums untergebracht sind, will man einbeziehen. So hat der Quartiertreffpunkt auf Initiative von sechs Frauen Anfang 2016 die Aktion «Dorfplatz BURGweg» unterstützt, die zum Ziel hat, die Flüchtlinge mit den Quartierbewohnern zusammenzubringen. «Die Aktion ist gut angelaufen», so van Vulpens erste Bilanz.
Aus dem Dornröschenschlaf wachgerüttelt
Auch Thomas Kessler, der über zehn Jahre im Quartier gewohnt hat, schätzt, dass die Ruhe zur hohen Lebensqualität im Quartier beiträgt. Er spricht aber auch von einem Quartier mit einem hohen Entwicklungspotenzial. «Mit dem Ausbau der Roche steigt auch die Anzahl anspruchsvoller Mitarbeiter, die nicht nur auf dem Firmenareal bleiben werden», sagt er. «Die werden auch einkaufen und einkehren wollen.»
Der Detailhändler Coop winkt allerdings ab. «Momentan bestehen keine Ausbaupläne im Wettsteinquartier», so Mediensprecherin Silvia Siffert. Das Quartier sei aktuell aus Sicht von Coop mit den in benachbarten Quartieren gelegenen Filialen an Clarastrasse und Bäumlihofstrasse ausreichend abgedeckt.
Kessler ist dennoch überzeugt, dass sich der Roche-Ausbau auf das Dienstleistungs- und Gastroangebot im Quartier auswirken wird. «Man kann davon ausgehen, dass Dienstleister mit einer guten Nase ihre Fühler bereits ausgestreckt haben werden», sagt er. «Und diese werden das Quartier aus seinem Dornröschenschlaf aufwecken.»