Im Netz kann heute jede Frau – ob prominent oder nicht – Opfer von Voyeurismus werden. Mit ziemlich üblen Folgen.
Auf der Website «Reddit» erklärte kürzlich ein Community-Mitglied, wie man am besten heimlich Frauen fotografiert. «Keine Nervosität», empfahl der Unbekannte. »Sonst fällst du auf. Zöger’ nicht zu lange, mach’ dein Foto und hau’ ab, wenn es geht.» Dieser Ratschlag fand sich unter einer Fotogalerie, in der Frauen zu sehen waren, die ohne ihr Wissen an Flughäfen fotografiert worden waren. In der dazugehörigen Gruppe fanden sich hunderte Fotos von Frauen, die auf Züge warteten, Einkäufe einpackten, im Fahrstuhl standen – immer war die Kamera auf ihren Po, ihren Schritt oder ihren Busen gerichtet. Auf sogenannten Creepshot-Seiten gibt es tausende solcher Bilder.
Frauen, die ohne ihre Einwilligung sexualisiert fotografiert werden – nicht immer sorgt das für soviel öffentliche Aufmerksamkeit wie vergangenen September, als Paparazzi-Bilder von Kate Middleton mit nacktem Oberkörper beim Sonnenbaden auf einem Privatgrundstück durch die Medien gingen. Obwohl sich die britische Presse grösstenteils eine bemerkenswerte Zurückhaltung auferlegte, gab es Zeitungen, die die Bilder druckten, weshalb sie unmittelbar darauf online kursierten.
Begehren und Erniedrigen
Nur warum gibt es einen Markt für solche Bilder, wenn es im Netz doch jede Menge nackter Brüste von Frauen zu sehen gibt, die einer Veröffentlichung zugestimmt haben? Ein Teil der Antwort liegt im Zusammenspiel von Begehren und Erniedrigen. Es gibt offenbar ein Interesse, nicht bloss irgendwelche Brüste zu sehen, sondern schlicht: alle. Weibliche Körper gelten als öffentlicher Besitz, als Freiwild, auf das Anspruch erhoben, das bewundert oder auch verspottet werden kann.
Die Paparazzi-Kultur hat in den letzten Jahren eine besonders bösartige, sexualisierte Einfärbung erfahren. 2008 erklärte eine Fotoagentur, Britney Spears sei definitiv nicht schwanger und veröffentlichte zum Beweis Fotos, die die Sängerin in einem Slip zeigten, auf dem Periodenblut zu sehen war. Die Schauspielerin Emma Watson berichtet, mit ihrem 18. Geburtstag sei sie «über Nacht zu Freiwild geworden. Ein Fotograf legte sich auf den Boden, um mir unter den Rock fotografieren zu können. Sobald es legal war, machten sie es auch». Am nächsten Morgen habe sie sich gefühlt, wie nach einem sexuellen Übergriff.
Paparazzis sind in unser aller Leben gedrungen
Und die Erfahrungen machen keineswegs nur prominente Frauen. Die Paparazzi-Kultur ist in unser aller Leben eingedrungen. Kameras sind allgegenwärtig. Die Technologie, mit der sich Bilder sofort veröffentlichen lassen, ist jedem frei zugänglich. Julia Gray kämpft als Mitbegründerin der Gruppe Hollaback London gegen sexuelle Belästigung. Sie berichtet, wie schlimm es für sie war, als ein Foto von ihr zweckentfremdet wurde.
Die Aufnahme war auf der Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin entstanden: «Wir waren total betrunken. Ich fiel hin und meine Freundin schoss ein Foto. Darauf waren unter meinem T-Shirt zufällig meine Brüste zu sehen.» Als sie das Bild im Flickr-Album ihrer Freundin sah, hatte sie damit kein Problem. Da wirkte es unschuldig und kurios-lustig. Dann aber fügte ein Unbekannter es einer Sammlung von Aufnahmen hinzu, für die Frauen unter den Rock oder das Oberteil fotografiert worden waren. «In diesem Kontext wurde es eklig. Auf einmal war es krank und voyeuristisch. Ich fühlte mich als Beute.»
Und es gibt unzählige Berichte von jungen Mädchen, die sich von ihren Freunden zu Nacktfotos überreden liessen und diese Bilder anschliessend im Internet wiederfanden. Die Teenager heute sind in einer Umwelt aufgewachsen, in der Paparazzi-Bilder ebenso allgegenwärtig sind wie Oben-Ohne-Aufnahmen ganz gewöhnlicher Frauen.
Ein reger Tauschhandel
Eine britische NGO veröffentlichte gerade eine Studie, für die sie Schüler in London dazu befragt hatte. Viele gaben an, dass es für sie so normal sei, ständig von ihren Altersgenossen fotografiert und gefilmt zu werden, dass sie das Gefühl hätten, nur noch wenigen Freunden «wirklich vertrauen zu können». Ein Mädchen erzählte, sie würde täglich nach Fotos von ihrem Busen gefragt. Gelangten Jungs in den Besitz solcher Bilder, würden sie sofort zu einer Art Währung, mit der ein reger Tauschhandel betrieben wird.
Allyson Pereira, Aktivistin aus dem US-Bundesstaat New Jersey, kennt das aus eigener Erfahrung. Die heute 20-Jährige war 16, als ihr Ex-Freund ihr versprach, sie würden wieder ein Paar werden, wenn sie ihm ein Oben-Ohne-Foto schickte. Pereira schickte das Bild und der Ex-Freund «leitete es an alle seine Kontakte weiter». Schliesslich verbreitete es sich im Netz. Sie bekam das erst mit, als man über sie zu lachen begann und sie als Hure beschimpft wurde. Ihre Mutter dachte deswegen über einen Umzug nach, Freunde wendeten sich von ihr ab, sogar Lehrer spotteten über sie.
Sechs Monate später unternahm Pereira einen Selbstmordversuch. Eigentlich wollte sie selbst einmal Lehrerin werden. Den Plan hat sie aber aufgegeben. «Ich müsste mich gegenüber jedem Arbeitgeber wegen meiner Vergangenheit erklären», sagt sie. «Man weiss schliesslich nie, wann so ein Foto wieder auftaucht.»
Im Oktober sorgte der Fall von Amanda Todd weltweit für Schlagzeilen. Die 15-jährige Kanadierin hatte sich umgebracht, nachdem ein Nacktfoto von ihr von ihrem ehemaligen Chatpartner an alle ihre Kontakte geschickt worden war und sie deshalb in der Schule gemobbt wurde.
Ein relativ neues Phänomen sind «Racheporno-Seiten». Auf diesen Seiten kann, wer sich an seiner Ex-Partnerin rächen will, Fotos veröffentlichen, auf denen diese beim Sex oder beim Ausziehen zu sehen ist, um sie so zu demütigen. Es sind Bilder, bei denen die Fotografierten nie zustimmten, sie zu veröffentlichen. Charlotte Laws stiess darauf, nachdem der Computer ihrer Tochter Kayla gehackt worden war. In Kaylas E-Mail-Account befand sich ein Oben-Ohne-Foto, dass sie von sich gemacht und nie irgendjemand geschickt hatte. Dennoch erschien es auf der Rachepornoseite Is Anyone Up. Kayla war verzweifelt. Ihre Mutter, die früher als Privatdetektivin gearbeitet hatte, brauchte elf Tage Dauereinsatz, um das Foto von der Webseite entfernen zu lassen. Inzwischen ist die Seite geschlossen worden. Besonders übel an ihr war, dass dort auch Informationen über die Social-Media-Profile derjenigen veröffentlicht wurden, die auf den Fotos zu sehen waren – sie waren so für jeden sofort zu identifizieren.
Jobverlust in der Offline-Welt
Charlotte Laws wollte mehr darüber herausfinden, wie die Bilder der Betroffenen auf diese Seite gelangt waren. Also rief sie vierzig von ihnen an. Viele berichteten, ihr Foto sei aus einem Benutzerkonto eines Onlinedienstes oder bei sozialen Medien gestohlen worden, andere waren Opfer rachsüchtiger Ex-Partner geworden. Die Folgen in der Offline-Welt waren gravierend. Eine Frau hatte in Folge des Vorfalls ihren Job verloren, der einer anderen war gefährdet. Eine andere Frau berichtete, sie habe eine eigene Firma gehabt, die in den Ruin getrieben worden sei – obwohl die Nacktfotos, die neben den Informationen zu ihrer Person gezeigt wurden, gar nicht von ihr waren.
Bei ihrer Recherche stiess Laws auch auf Mary Anne Franks, die als Juraprofessorin an der Universität Miami Betroffene berät. Sie sagt: «Creepshots, die Fotos von Middleton und die Racheporno-Seiten eint, dass es immer um die Fetischisierung nichteinvernehmlicher sexueller Aktivitäten mit Frauen geht, an die man nicht – oder nicht mehr – herankommt.» Dahinter stünden Wut und Anspruchsdenken. Perfide sei, dass die Verantwortung den Frauen zugeschoben würde. Sie hätten die Bilder eben nicht herausgeben sollen, heisse es dann. Oder: Sie hätten sich nicht sonnen sollen, auch nicht auf einem Privatgrundstück.
Franks sieht die Bilder dabei in einem grösseren Kontext: «Da äussert sich Wut gegen eine eigenständige weibliche Sexualität. Sex und Frauen – das ist vollkommen in Ordnung, solange die Frauen passive Objekte sind. Doch sobald sie selbst über ihre Intimität bestimmen wollen und mit wem sie diese teilen, weckt das Hass. Dann wird gesagt: ‚Wir machen dich zur Hure.‘»
(Copyright: Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Zilla Hofman, «der Freitag».)