Der stille Tod

Die Rückkehr des Wolfs erhitzt in der Schweiz regelmässig die Gemüter, vergangene Woche spitze sich die Debatte zu: Ein Wilderer schoss einen Wolf in Graubünden. Schweden kennt das Problem nur zu gut: Hier bedrohen Wilderer die Wiederansiedlung der Tiere schon länger. Eine Reportage aus dem Norden.

In Schweden zur Glaubensfrage geworden: der Wolf. Für manche ist er Teil des Ökosystems; sie opfern ihre Freizeit für den Schutz des Wildtieres. (Bild: © Vasily Fedosenko / Reuters)

Die Rückkehr des Wolfs erhitzt in der Schweiz regelmässig die Gemüter. Schweden hat andere Probleme: Hier bedrohen Wilderer die Wiederansiedlung der Tiere.

Irgendwo hier muss die Kamera sein. Gleich neben dem Feld mit den weiss eingepackten Heuballen, vor der Schneise, die in den Wald führt. Hier steht der Hochsitz, wie Ranger Günter vermutet hatte. Hierhin fahren sie in der Dämmerung mit ihren 4×4, setzen sich hin, warten bis die Tiere durchs Unterholz an den Waldrand finden. Dann schiessen sie.

Er blickt entlang der Stromleitung zu den jungen Tannen. Auf dem trockenen Boden liegen alte Knochen. Doch sonst ist da nichts. Keine Falle, kein Giftköder und auch keine Kamera. Denn die Kameras melden den Wilderern in Bildern direkt aufs Handy, wenn sich ein Wolf auf ihrem Jagdland bewegt. Hätte er hier eine gefunden, er hätte sofort Anzeige erstattet. Das machen sie immer so.

Die Tiere verschwinden einfach

Günter ist an diesem Sonntag im Herbst 2013 mit einer Kollegin und einem Kollegen auf Patrouille für den Anti-Poaching Unit (APU), eine Bürgerinitiative zum Schutz des schwedischen Wolfs, die ihre Mitglieder nach südafrikanischem Vorbild «Ranger» nennt. Ich darf sie begleiten, um mir ein Bild vom in Schweden erbittert ausgetragenen Konflikt um das Raubtier zu machen.

Seit seiner Rückkehr Anfang der 1980er-Jahre ist das durch die EU geschützte Raubtier hier in Schweden besonders durch die Wilderei bedroht. Forscher schätzen, dass die Hälfte aller toten Wölfe einen gewaltsamen, stillen Tod stirbt. Die Tiere verschwinden einfach. «Schiessen, schaufeln, schweigen», heisst die Losung in Jägerkreisen, wenngleich bis zu vier Jahre Gefängnis auf das Töten eines Wolfes stehen. Ohne die illegale Jagd wäre der schwedische Wolfsstamm, der irgendwo zwischen 300 bis 500 Tiere zählt, mindestens viermal so gross.

Hier, bloss eine Autostunde nördlich von Stockholm sind immer wieder Wölfe verschwunden. Seit Mai fehlt vom etablierten Wolfspaar jede Spur. Doch nun scheint wieder ein Tier hierher gefunden zu haben. Jemand hat Spuren in einer Sandgrube gesehen.

Da ist Freude bei Ranger Günter, doch auch Anspannung. Wo der Wolf ist, sind die Wilderer nicht weit. Das weiss der schlanke Deutsche mit dem millimeterkurzen, grauen Haar, der grossen Fotokamera und der krummen Lesebrille, der in den 1980ern nach Stockholm zog, nachdem er eine Schwedin kennengelernt hatte. Erst dachte er, er müsse die Strasse fegen. Doch bald fand er eine Stelle als IT-Spezialist und wurde zweifacher Vater. Günter war schon in Süddeutschland gern draussen in den Wäldern und an den Seen gewesen. Doch hier kann es sein, dass er einen See, einen Wald für sich allein hat.

 Es könnte wunderbar sein, wenn nur die Jäger nicht wären. «Das ist wie im Wilden Westen», meint er in fehlerfreiem Schwedisch und schüttelt den Kopf. Das Bild hat sich langsam gezeichnet. Mit jeder gefundenen Kamera, für die man eigentlich eine Bewilligung bräuchte, jeder illegalen Falle, jeder Beschimpfung, ja Bespuckung durch ungepflegte Männer, und jedem Warnschuss. Und dann natürlich mit den Medienberichten.

Da liest Günter von Männern, die auf Schneescootern Wölfe zu Tode hetzen, mehrmals überfahren und brutal schlagen, ihnen die Knochen brechen, sie innerlich verbluten lassen. Da sieht er Männer, die vermummt erzählen, wie sie Fleisch mit Rattengift und Glasscherben präparieren und im Wald auslegen, wie sie im Frühling ganze Würfe auslöschen, indem sie Diesel in die Wolfsbauten giessen und anzünden. Die Leute glauben ja, der schwedische Wald sei ein Idyll, wie bei Astrid Lindgren. Dabei ist der schwedische Wald ein gesetzloser Raum: Da stimmt was Grundlegendes nicht, sagt Günter.

Die Behörden in Stockholm werten die Aktivitäten des APU als «konfliktschürend».

Nun ist es jedoch nicht wie mit der Überfischung oder dem Sibirischen Tiger. Die Wölfe sind hier vor der Haustür. Hier kann Günter wirklich etwas tun, um die schleichende Zerstörung der Natur zumindest zu verlangsamen. Er kann konkret dazu beitragen, der Generation seiner Töchter ein Erbe in Form eines intakten Ökosystems zu hinterlassen, indem er Verantwortung übernimmt. «Es ist wie ein Familienausflug in der Stadt. Wenn ich da sehe, dass jemand etwas stiehlt oder jemanden schlägt, greife ich ein», sagt Günter bestimmt.

Auf der anderen Seite der Hauptstrasse, von der er nun in der Ferne ein Rauschen hört, steht ein Hof. Davor Autos. Da wohnt jemand. Das schwedische Jedermannsrecht erlaubt ihm jedoch, sich hier zu bewegen, Beeren zu pflücken. Nicht alle in der Gruppe haben ein gutes Gefühl dabei. Doch eigentlich ist die Sache klar: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.

Das sehen die Behörden in Stockholm auf meine Anfrage etwas anders. Man unterstütze zwar die Absicht, illegaler Jagd vorzubeugen. Doch die Art und Weise wie APU das tut, das bestimmte Auftreten, die schwarzen Poloshirts, die frühzeitige Verdächtigung, empfindet man als «konfliktschürend». Für sie ist das Ausreizen des Jedermannsrechts nicht der einzige Weg. Man könne auch Beziehungen zu Jägern und Bauern aufbauen, aufklären, reden.

Die Fronten sind jedoch längst verhärtet und klar. Der APU, gegründet von einem charismatischen, ehemaligen Polizisten, der sich zum Spurenleser weiterbilden liess und nun als selbständiger Sicherheitsberater arbeitet, pflegt Beziehungen zu Jägern und Bauern auf dem Land, die nichts gegen den Wolf haben. Anonyme Informanten, die anrufen, wenn sie in der Nacht Scheinwerfer im Wald sehen oder Schüsse hören. Sie alle berufen sich auf das Gesetz. Der Wolf ist geschützt durch die schwedische Regierung und die EU, die ihn vom Aussterben bedroht sieht. Die Linie zwischen Recht und Unrecht ist dick und deutlich.

Die Spur des Wolfes

Dass diese Linie nicht überschritten wird, prüfen Günter und seine Kollegen in ihrer Freizeit und verbinden das Nützliche mit dem Angenehmen. Die Grube finden sie, nachdem sie sich mehrmals verlaufen haben. Da ist allerdings keine Bedrohung für den Wolf auszumachen, bloss reine Freude. Da sind Luchsspuren im Sand! Da ein Elch! Eine Goldgrube, sagte Günter, ich werde so unglaublich froh, jauchzt seine Kollegin. Und dann eine Wolfsspur. Die Abdrücke einer Hundepfote, doch grösser. Günters Kollege, ein Taxifahrer, zückt den Deckel einer Snusdose, legt sie neben den Abdruck in den Sand und macht Fotos. «Zum Vergleich.» Jemand nimmt ein Messband hervor, es sind elf Zentimeter. «Elf?» Die Kollegin, Kundenpflegerin auf einer Investmentbank, reibt sich die Hände. Das könnte ein Wolf sein.

Die Gewissheit fehlt zwar, doch das ist nicht so wichtig. Eine Spur ist ohnehin das meiste, was sie hier von einem Wolf zu sehen bekommen. «Die Raubtiere sind so unglaublich scheu, die tun niemandem was. Die bemerken uns, lange bevor wir sie sehen könnten», meint die Kollegin. Da fürchten sie sich schon eher vor bewaffneten Jägern.

Als ich mich zurück in Stockholm von ihnen verabschiede, wissen sie von meiner Absicht, auch Wilderer zu treffen. Günter runzelt besorgt die Stirn. Es seien Leute, die das Gesetz auch sonst nicht respektierten. Ich soll auf mich aufpassen.

Die schwedische Hauptstadt Stockholm ist in ihrem Zentrum – zwischen den vernachlässigten Vororten im Westen und den noblen Inseln im Osten – eine Stadt voller Ambitionen. Im Sommer ist sie ein heller Traum voller Glanz, der grün und blau erstrahlt. Das Königshaus, die Paläste, die Häuserfronten am Wasser versprühen eine majestätische Aura und erinnern an vergangene Zeiten als Grossmacht. Die blanken, glasigen Kaufhäuser und Galerien zeigen in die Zukunft. Überall wird gebaut und auf den Fahrradspuren herrscht dasselbe Gedränge wie in der Tunnelbana, der U-Bahn.

Die Natur hat in Schweden den Stellenwert einer Volksreligion eingenommen.

Stockholm ist eine Wirtschaftsmetropole voller Effizienz, schnell und geordnet. Man könnte meinen, sie gehöre mehr zur weiten Welt als zu Schweden, und ihre Bewohner wissen es. Sie brauchen Formulierungen wie «aber shit, wie nice», um ihre Verzückung zu zeigen, und in ihre Handys tippen sie «åsm» für «awesome». Wenn sie durch die Stadt schlendern, dann nicht um zu sehen, sondern um gesehen zu werden. Haut, Kleidung und Frisuren folgen strikten Codes, und alles was man an ihnen sehen kann, scheint bewusst zur Schau gestellt. Die Businessmänner sind hier vertrauenswürdiger, die Hipster tätowierter, die Mädchen stolzer. Alle sagen damit: Schaut her, ich kann es mir leisten, hier zu leben und bin doch nicht zufrieden. Stockholm ist eine hungrige Siegerin.

Das sagt grob zusammengefasst auch Harvard-Ökonom Edward Glaeser in seinem Buch «Triumph of the City»: Städte seien viel geeigneter für einen ökologischen Lebenswandel als das Land. Wer die Natur liebt, der lasse sie möglichst in Ruhe. Die Stadt als Park für den Menschen also, das Land als Park für Tiere wie den Wolf, dessen Rückkehr eine im Stockholmer Stadtzentrum umsonst zugängliche Ausstellung mit Namen «Wild Wonders of Europe» feiert. Sie bezeichnet ihn als «legendarisch scheu» und erhebt ihn als Vorfahren aller Hunderassen zum Vertreter einer «starken und wertvollen Biodiversität». Der schwedische Wolf ist nicht bloss ein Raubtier. Er steht hier als Teil der Artenvielfalt für alle Arten.

Diese Artenvielfalt zu bewahren, dürfte in Schweden einfacher sein als anderswo. Der Theologe Carl Reinhold Bråkenhielm vertritt die These, dass die Natur in Schweden den Stellenwert einer starken Volksreligion eingenommen hat. Sie hat ihre Wurzeln in der Tiefenökologie des norwegischen Philosophen Arne Naess und vertraut wie das Christentum auf eine stark apokalyptische Erzählung: Des Menschen Sünden führen zur Zerstörung seiner eigenen Lebensgrundlage. Bråkenhielm stützt sich dabei auch auf den Eurobarometer, eine Meinungsmessung, wo sich die Schweden beim Umweltschutz deutlich über dem Durchschnitt der EU-Länder positionieren. Knapp vier Fünftel sind der Ansicht, dass man «die Ordnung der Natur unabhängig davon, wie sie den Menschen beeinflusst, respektieren muss.»

Besuch im «Wolfsgürtel»

Dort, wo ich die Wilderer nun zu finden hoffe, ist der Respekt vor den Ordnungen und Mächten der Natur gross. Die mittelschwedische Region Dalarna ist eine malerische Gegend dicht bewaldeter Hügel und zahlloser Seen, die im Sommer vom Tourismus, ganzjährig jedoch vom Wald lebt. Dalarna ist Teil dessen, was die Leute hier den «Wolfsgürtel» nennen. Nachdem sie Mitte der 1960er-Jahre beinahe vollständig ausgerottet waren, kamen die Tiere Ende der Achtziger zurück. Mittlerweile haben sie sich in ganz Mittelschweden, von der norwegischen Grenze bis an die Ostsee ausgebreitet. 

Heute gibt es hier keine Gemeinde, die nicht von einem Wolfsrevier berührt wird, das die Leute in Gute und Böse spaltet. Polizisten und Beamte äussern sich in den Medien nur noch anonym, zu zahlreich sind die bösen Zuschriften, die nächtlichen Telefonanrufe geworden. Ein Wolfsbeauftragter der Lokalbehörden kauft seine Autopneus im Grosshandel, Tierschützer wie auch Jäger erhalten anonyme Morddrohungen, ein lokaler Rapper jagt in seinem Musikvideo demonstrativ Jäger.

Ich fahre nach Furudal in Dalarnas Norden. Das Dorf liegt knapp vier Autostunden nordwestlich von Stockholm, gut 400 Einwohner, Tendenz sinkend, Durchschnittsalter über 50, Tendenz steigend. Hier in Furudal sind viele der Ansicht, die Wölfe gehörten nicht hierher. Einige von ihnen tragen T-Shirts mit dem Aufdruck «Ich hasse Wölfe» oder «Null-Vision Schweden», bezogen auf die Anzahl Wölfe im Land.

Hier muss es auch Leute haben, die noch weiter gehen. Sie «entfernen» aktiv Wölfe. Das Alphaweibchen mit dem Senderhalsband, welches das ansässige Revier bildet, gebar vorletzten Frühling keine Welpen. Zwar hatte es sich zwischenzeitlich mit einem Männchen angefreundet. Doch irgendwann zur Paarungszeit war dieses einfach weg, als hätte es die dicke Schneedecke verschluckt. Zudem pflückte die Polizei Ende letzten Winters einen Mann von seinem Schneescooter, der mit einer unregistrierten Waffe einer Wolfsfährte gefolgt war. Vorbereitung zur illegalen Jagd.

Im Winter kommen die Wölfe manchmal bis ins Dorf.

Kurz nach meiner Ankunft treffe ich einen im Dorf allseits beliebten Jäger, der mich freundlich empfängt und mir seinen Blick auf die Wolfsfrage darlegen will.
«Gibt es denn Wilderei hier oben?», frage ich ihn irgendwann.
«Das ist ja wohl kein Geheimnis.»
«Also gibt es Leute, die Fallen und Giftköder auslegen?»
«Das weiss ich nicht. Wahrscheinlich gibt es solche Idioten. Aber es gibt ja auch noch die Widerstandsbewegung.»
«Eine Widerstandsbewegung?»
«Ja, normale, vorsichtige Leute, die genau wissen, was sie tun und weshalb.»

Dann sagt er, es gebe bloss einen Mann aus der Bewegung, der mit mir sprechen wolle. Die anderen seien zu verängstigt. Sie hätten das Vertrauen in die Medien verloren.

Nicht alle in Furudal können verstehen, dass Nachbarn das Gesetz überschreiten. Sie leben hier gerade auch der Ruhe und des Friedens wegen. Im Dorfladen gibt es T-Shirts mit dem Aufdruck «Furudal – Weit genug von Stockholm» zu kaufen. Furudal, zwischen zwei Seen gelegen, erscheint als idyllisches Gegenstück zur lauten, schnellen Hauptstadt. Nur die donnernden Sattelschlepper des Sägewerks durchschneiden die Stille. Sie sind beladen mit Holz, tonnenschwer, aus den unendlich scheinenden, Furudal umgebenden Wäldern.
Dort – das finden hier die meisten, sogar die Stockholmer, die hochkamen und Ökotourismus betreiben wollten – dort sollte es doch Platz für die Wölfe haben. Ja, auch die Friedliebenden finden, dass es nicht gut ist, dass die Wölfe nun, da man sie nicht mehr jagen darf, ihre Scheu abgelegt haben.

Besonders im Winter kommen sie bis ins Dorf. Schöne, stattliche Tiere sind es, mit grau-weissem Fell. Grösser als man denkt. Bis zu zwei Meter lang, Schulterhöhe bis zu einem Meter. Die Zungen hängen ihnen seitlich über die Lefzen, ihr warmer Atem gefriert in der eisig kalten Luft. Sie folgen den geräumten Strassen, den Scooterspuren, trotten vorbei an der Eishalle, über die stillgelegten Gleise der alten Eisenbahn zum Dorfladen, an der Bäckerei, der Bank, runter zum Supermarkt und der Tankstelle, dort duftet die Abfallsammlung.

Manchmal ziehen sie einen Kreis durchs ganze Dorf und streunen dabei um die stoppenden Autos mit den grellen Scheinwerfern. Ihr Hunger ist stärker als die Angst. Verwunderlich ist das nicht. Der Winter hier, wo es bis zu minus 40 Grad kalt werden kann, der Schnee sich meterhoch auftürmt, setzt auch den Menschen zu. «Was hier einfach ist, ist sehr einfach. Was schwierig ist, ist sehr schwierig», sagt der Jäger weiter. Im Winter räumen sie hier die Strassen selbst, sie bringen den Abfall weg. Manchmal statten sie sogar Hausbesuche ab, wenn sie hören, dass ein Mann seine Frau schlägt. Auch wenn es eine Akzeptanz gibt, den Alltag so zu bestreiten, wie er ist: Einfach ist er nicht.

Des Menschen bester Freund

Da hat es für die Menschen Platz. Aber nicht für den Wolf. Er erschwert das Schwierige zusätzlich und verkompliziert das Einfache. Es sind nicht nur die Schafe, deren Halter sie hier spöttisch fragen, ob sie denn in ihrem Garten wirklich Wolfsköder auslegen wollten. Es sind auch nicht nur die Grundstückspreise, die sinken, das Elchfleisch, das im Kühler fehlt, oder dass die Wölfe nachts auch schon derart laut geheult haben, dass man kaum schlafen konnte. Das Problem sind zuerst die Hunde. Fast alle Menschen haben mindestens einen. Wenige gehen hier mit dem Hund raus in den Wald, kaum jemand lässt ihn je von der Leine. Nicht mal im eigenen Garten. Für diejenigen, die jagen – und das sind hier immer weniger – sind die Beagle, Bracken oder Bassets mehr als Familienmitglieder. Die vom Wolf abstammenden Tiere, über Jahrhunderte durch Züchtungen domestiziert, sind hier draussen den Menschen bewusst geformte Erweiterungen ihrer selbst.

Seit hier Menschen im Wald leben, haben sie mit Hunden gejagt. In den alten Holzhütten auf einer Sommeralp hoch über Furudal gibt es Einritzungen, die jagende Männer mit Hunden zeigen. Sie stammen aus dem 17. Jahrhundert. Heute trainieren sie die Hunde, um nach frühestens drei Jahren zu erfahren, ob sie auch wirklich für die Jagd taugen. Wenn hier Jäger während der Bärenjagd ein Tier erlegt haben, dann ist danach nicht der Schütze das Gesprächsthema. Sie sprechen vielmehr bewundernd von den tüchtigen, nun ausgepumpten Hunden, die zuerst Witterung aufgenommen, dann die Spur während Stunden verfolgt und zum Schluss den Bären mit ihrem Gebell gestellt haben. Ohne sie wäre die Jagd kein effizientes Nachsetzen von Stunden. Sie wäre ein mühseliges Lauern von Tagen.

Biologische und kulturelle Vielfalt: Im Fall des Wolfes geht das nicht zusammen.

Der Mann aus der Widerstandsbewegung, der mit mir sprechen will, wohnt irgendwo im Dorf in einem Haus mit gepflegtem Rasen, davor ein sauberes Auto. Als ich ankomme, ist seine Frau im kleinen Gemüsebeet beschäftigt. Er bittet mich rein, offeriert mir Kaffee in der Küche. Da steht das abgewaschene Geschirr zum Trocknen, da sind die Blumen im Fenster, da ist ein grosser Küchentisch. Ein Laptop, ein Stapel Zeitungen. Wie viele andere hier im Dorf kennt er sich aus im Wald, ist darin aufgewachsen. Wie viele andere hier hielt er Tiere, war gerne im Wald mit ihnen. Bis in den 1990ern die Wölfe kamen. «Fantastische Tiere», die er für ihre Kraft und Intelligenz bewundert. Tiere, die für ihn jedoch verklärt werden. «Der Wolf ist ein Raubtier, das darf man nicht vergessen.»

Am meisten beschäftigt ihn jedoch, dass es so viele Leute gibt, die glauben zu wissen, wie sie hier oben leben sollten. Leute, die ihm sagen, er habe nicht hier auf seinem eigenen Grund und Boden zu leben, wenn er den Wolf nicht wolle. Leute, die vielleicht ein paar Mal im Jahr hochkommen und den Alltag hier nicht kennen. «Ich bestimme ja auch nicht über das Roadpricing in Stockholm.» Doch wenn man den Menschen hier die Freude nehme, wenn sie keine Tiere mehr halten sollten, keine Hunde mehr haben könnten, dann nehme man den Dörfern auf dem Land das Leben. Dann wollten die Jungen nicht mehr jagen, dann sterbe die Kultur der Waldbauern langsam aus, die alles über den Wald wissen und die Natur lieben, gerade weil sie jagen. Dass man das in den Städten nicht versteht, will ihm nicht in den Kopf. Biologische und kulturelle Vielfalt: Im Fall des Wolfes gehe das einfach nicht zusammen.

In Furudal, wie in nahezu allen schwedischen Landgemeinden, geschieht das in aller Stille. Die Jungen ziehen weg, die Alten altern. Es gibt nur wenige Zuzüger, die hochkommen, um ganzjährig hier zu leben. Das Dorf schrumpft. Kürzlich schloss das Restaurant gegenüber der Bäckerei. Auch der Betreiber des Dorfladens, ein studierter Ökonom aus dem Süden, hat nach acht Jahren genug. Er kam mit seiner Frau der Jagd wegen hierher. Sie haben keine Kinder, aber zwei Hunde. Das geht hier nicht. Nun ziehen sie weiter in den Norden, wo es weniger Wölfe hat. Wenn niemand mehr hier ganzjährig leben will, so wissen sie, dann wird irgendwann auch niemand mehr im Sommer hier seine Ferien verbringen wollen.

Ganz normale Leute

Ich erzähle dem Mann, dass ich gerne mit jemandem sprechen würde, der aktiv etwas gegen den Wolf unternimmt. Das könnte alles anonym geschehen. Ich müsse ja nicht einmal einen Namen wissen, ein Gesicht sehen. Ich hätte gehört, es seien – das wird mir später auch noch ein Polizist bestätigen – ganz normale Leute, Familienväter. Mich würde interessieren, weshalb sie ihre Freizeit opferten, ihre Freiheit aufs Spiel setzten.

Er meint, dass diejenigen, die hier Wölfe jagen, wohl in der Tat ganz besonnene Leute seien. Ich bräuchte aber jemanden, der mir konkret davon erzählen würde, um mich davon überzeugen zu können, dass sie keine hasserfüllten Chaoten seien, antworte ich ihm.

Irgendwann blickt er vielsagend über die Schale mit den Berliner Pfannkuchen und raunt: «Möglicherweise gibt es hier jemanden, der mit dir sprechen würde. Jemanden, der glaubt, dass er ohnehin nicht mehr so lange zu leben hat.» Er bittet mich um meine Schweizer Adresse, meine Telefonnummer, und ich ahne, dass er sich selbst meint.

Draussen hat es zu regnen begonnen und seine Frau kommt rein zu uns. Sie setzt sich an den Tisch, fragt, ob ich etwas Milch in meinen Kaffee wolle. Auch sie beginnt zu erzählen. Dass sie nicht verstehen könne, dass die Helikopter sofort kämen, wenn man anruft und sagt, dass jemand einen Wolf geschossen habe. Doch dass man mehrere Stunden warten müsse, wenn man sich oben im Wald ein Bein gebrochen habe. «Die Ressourcen sind sinnlos verteilt. Es kann nicht sein, dass sie gleichzeitig beim Wolfsschutz aufrüsten und beim Gesundheitssystem sparen.» Sie meint damit auch das Geld, welches das Amt für Umwelt in den vergangenen Jahren in ein Wolfsweibchen – den Junsele-Wolf «Susi» – steckte, das als genetisch wertvoll galt: 1 Million Euro. Insgesamt viermal hatten die Behörden das Tier eingefangen und 500 Kilometer weiter südlich wieder ausgesetzt, weil es den Rentieren der Sami zu nahe gekommen war. Jedesmal war es wieder nach Junsele in Lappland zurückgekehrt.

Die Widerstandsbewegung ist anonym organisiert: Niemand kennt mehr als drei Leute.

Ich entschuldige mich und suche die Toilette auf. Sie ist sauber geputzt, die Glasverkleidung der Dusche glänzt im künstlichen Licht der Deckenlampe, da sind die Zahnbürsten beim Lavabo, da ist die Mundspülung, Listerine. Das ist nicht der Haushalt krimineller Chaoten, sondern das gepflegte Heim eines schwedischen Mittelstandspaars. Aus der Küche höre ich die Stimme der beiden.

«Ich habe eben mit meiner Frau gesprochen», meint der Mann, als ich mich wieder an den Küchentisch gesetzt habe. «Sie glaubt doch nicht, dass es hier jemanden gibt, der dir was erzählt.» Das sei also nur wegen der hohen Strafe, die auf illegale Raubtierjagd steht, wegen der 4 Jahre Gefängnis. Die Polizei hier verfügt über grosse Mittel zur Bekämpfung von Jagdverbrechen. Helikopter, Kriminaltechniker, Umweltpolizisten. Das Risiko ist zu gross.

Wenig später, ich habe mich von den Leuten verabschiedet, höre ich wieder vom Jäger. Es seien drei Wölfe aus dem Norden auf dem Weg Richtung Furudal. Meldung der Gruppe, die sich um das dortige Gebiet kümmert, sagt er mir. Er hatte mir bereits erzählt, dass die Widerstandsbewegung anonym organisiert ist. Niemand sollte mehr als drei Leute kennen. Die Gruppen stünden nur mit ihren Nachbarn in Kontakt und kümmerten sich um ein definiertes Landstück. Davon haben sie eine Karte mit dutzenden Kontrollpunkten, wo Wolfsspuren besonders einfach auszumachen sind. Feuchter Boden, Orte wo die Wölfe urinieren oder Schneescooterwege, welche die Männer hier im Sommer mit Sand füllen. Sie kontrollieren regelmässig, wo die Tiere sind, um allenfalls verhindern zu können, dass das Rudel wächst oder sich gar ein neues etabliert. Dies könnte im Fall dieser drei Wölfe geschehen.

Für die meisten Wilderer ist bereits die Anwesenheit dieser Tiere hier ein Straftatbestand. Denn neben dem Schutz der Hunde geht es ihnen auch um Gerechtigkeit. «Der Wolf kann nichts dafür», versichert man mir wiederholt. Die Widerständler – der Name sagt es – wehren sich gegen den eigenen Staat. Gemäss einer Studie glauben fast drei Viertel der Jäger in Dalarna, dass «die Behörden während vieler Jahre zu vertuschen versucht haben, dass der Wolf angesiedelt wurde.» Sie betrachten die schwedische Wolfspopulation als illegal und argumentieren, dass die Wölfe nach ihrer Ausrottung in den Sechzigern nicht auf natürlichem Weg zurück nach Schweden gefunden haben.

Verschwörungstheorien

Dabei stützen sie sich auf die Publikation einer Gruppe von Forschern und Tierschützern von 1971, die festhielt, dass der Wolf künstlich angesiedelt werden müsse, wolle man ihn wieder in den schwedischen Wäldern antreffen. Die Gruppe schlug auch gleich eine stark bewaldete Region an der Grenze zu Norwegen vor, die sich für eine Ansiedlung einigen würde. Dort registrierte man Anfang der 1980er auch die ersten schwedischen Wolfswelpen seit langer Zeit, die mittlerweile geschützten Tiere verbreiteten sich schnell. Die im Projekt involvierten Teilnehmer wiesen rasch jede Verantwortung von sich, und der Fokus entfernte sich von ihnen hin zur grössten schwedischen Industrie: den privaten und staatlichen Holzunternehmen.

Diese, so die Theorie, hätten ein besonderes wirtschaftliches Interesse an der Wiederansiedlung der Wölfe als kostengünstige Jäger gehabt, weil die mittlerweile stark angewachsene Elchpopulation das Wachstum ihrer Jungbäume bedrohte. Die Forstunternehmen hatten in den Sechzigern mit Entlaubungsmitteln flächendeckend wilde Blattgewächse auf ihren Holzäckern entfernt und somit den Elchen die Nahrung genommen. Fast gleichzeitig hatten starke Herbsstürme grosse Waldflächen vernichtet. Tausende hungriger Elche bedrohten nun die frisch gepflanzten Jungwälder und somit das Geschäft.

Handfeste Beweise für diese Erzählung gibt es allerdings keine. Mögliche Verantwortliche haben bis ins Grab geschwiegen und ein Eintrag beim Landwirtschaftsministerium, wonach das Amt für Forstwirtschaft 1984 Wölfe «zu Einfuhr und Verkauf» importiert habe, wurde wenige Tage nachdem ein schwedischer Journalist eine Kopie des Dokuments angefordert hatte, gelöscht. Das gesetzliche Verbot der Aussetzung von Raubtieren wurde 1994 ebenfalls kommentarlos entfernt. Die schwedische Regierung hat bisher trotz parlamentarischer Anfragen auf eine offizielle Untersuchung verzichtet. Sie stützt ihre gegenläufige Theorie stattdessen auf die DNA-Analysen der staatlichen Forscher, welche besagen, dass drei russisch-finnische Tiere den schwedischen Wolfsstamm begründeten. Wie diese Tiere in die Wälder Värmlands – über tausend Kilometer von der finnischen Grenze entfernt – fanden, bleibt eine Glaubensfrage.

Im Dezember hat das schwedische Parlament beschlossen, den Wolfsbestand mittelfristig zu halbieren.

Dies trägt dazu bei, dass sie hier in der Wolfsfrage das Gesetz nicht respektieren. Der Wolf ist auch für viele Menschen hier mehr als bloss ein Raubtier. Er ist eine kräftige Fessel ohne klaren Ursprung, welche die Leute auf dem Land langsam und still zu ersticken droht. Er verkörpert die staatliche Vernachlässigung der Landbevölkerung wie kein anderes Tier – gerade auch weil er durch den Staat geschützt ist.

Im Fall der drei streunenden Wölfe stehen sie in Furudal nun kurz vor einem Gesetzesbruch. Um herauszufinden, was die Tiere hier wollen, muss jemand in den Wald, muss Wolfsspuren suchen und verfolgen. Doch bereits das ist strafbar und gilt als Vorbereitung zur illegalen Jagd. Mindestens 6 Monate, maximal zwei Jahre Gefängnis. Deswegen haben die Männer hier Listen mit Automodellen, Fahrzeugnummern und Namen der Behörden oder Tierschützer. Wenn jemand einen aufgelisteten Wagen sieht, passiert nichts. Es gilt vorsichtig zu sein.

Ich unternehme einen letzten Versuch: «Meinst du, jemand würde mich mitnehmen, raus in den Wald?», frage ich den Jäger zwei Tage vor meiner Abreise.
Als Antwort zeigt er mir am Tag darauf eine anonyme SMS: «Abgeblasen. Sie sind zurück im Norden, teilen die Leute da mit. Pause :-)». Die Wölfe hätten sich wieder entfernt. Es bestehe kein Handlungsbedarf.

10 Millionen Euro Busse

Zurück in der Schweiz prüfe ich Online, wo sich das Furudaler Alphaweibchen zuletzt aufgehalten hat. Doch da ist kein Signal. Auf dem Wahlbutton der staatlichen Website Wolfs-Web steht bloss: «Siljansring, gefunden_tot Revier». Laut Medienberichten soll es wenige Tage zuvor in einem Nachbardorf Furudals den Jagdhund «Jacko» fast totgebissen haben. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft. In Furudal beteuern sie, nichts damit zu tun zu haben und bedauern den Verlust des Alphaweibchens. Mit ihm und seinem Sender sei etwas Kontrolle über die ansässigen Wölfe verschwunden.

Zur selben Zeit bildet der APU neue ehrenamtliche Rangers wie Günter aus. Es sind mittlerweile um die 30. Sie planen, ihre Patrouillen auf Dalarna auszudehnen. Auch das schwedische Parlament bleibt nicht tatenlos. Im Dezember beschliesst es, den Wolfsbestand mittelfristig halbieren zu wollen. Dafür sollen nun im Februar 30 Tiere geschossen werden. Die Schutzverbände haben bereits Einsprache erhoben. Sie sind fest entschlossen, bis vors EU-Gericht zu gehen, wo im Fall einer durchgeführten Jagd eine Busse von bis zu 10 Millionen Euro droht – für die schwedischen Steuerzahler.

_
*Pascal Sigg ist freier Journalist in Zürich (www.pascalsigg.ch). Die Reportage entstand in Kooperation mit dem Magazin «Reportagen».

Nächster Artikel