«Der Wolf darf nicht siegen»

Alien, Godzilla – wir sind unersättlich nach immer neuen Monstergeschichten. Warum? Psychotherapeut Gérald Personnier gibt Antwort.

«Das rationale Weltbild ist eine Verlockung. Aber es reicht nicht aus», sagt der Psychotherapeut Gérald Personnier. (Bild: Hansjörg Walter)

Alien, Godzilla – wir sind unersättlich nach immer neuen Monstergeschichten. Warum? Psychotherapeut Gérald Personnier gibt Antwort.

Monster ziehen. Der neue Godzilla ist bereits die 30. Verfilmung des japanischen Saurierstoffs, unser Bedürfnis nach immer neuen Grusel- und Katastrophengeschichten ist unersättlich. Woran liegt das? Oder anders gefragt: Wie macht man ein Monster so gut, dass es die Menschen nicht mehr loslässt?

Das wollten wir vom Schweizer Künstler H.R. Giger wissen, der für seine Alienfigur, die Ridley Scott 1978 verfilmt hat, bei Fans göttlichen Status erlangt hat. Satt einer Antwort erreichte uns die Nachricht seines Todes am 12. Mai.

Wo der Riesensaurier Godzilla eine Katastrophe gleich einem Bombeneinschlag verkörpert, ist der Alien gerade darum grauenhaft, weil er dem Menschen so nah ist. Er benutzt ihn als Brutstätte und bricht in einer unfassbar ekligen Geburt aus ihm heraus. Er hat menschenähnliche Gliedmassen, die er jedoch ausschliesslich dafür verwendet, Menschen zu zerstören. Pervertierte Ähnlichkeit – das dürfte der Grund sein, aus dem zwar jeder Gigers Alienfigur kennt, aber lange nicht jeder es drauf hat, den Film fertigzuschauen.

Diese Unerträglichkeit verwundert umso mehr, wenn man sich für einen Menschen mit aufgeklärtem Weltbild hält: Die Überzeugung, dass es keine übernatürlichen Phänoneme gibt, schützt nicht vor der Angst davor.

Herr Personnnier, kaum ein Erwachsener hat eine ernsthafte Furcht vor dem Übernatürlichen. Trotzdem kennt wohl jeder die Angst vor der dunklen Leere unter dem Bett. Wie kommt das?

Es gibt einen massgeblichen Aufsatz von Sigmund Freud, mit dem sich diese Angst erklären lässt. Etwas widerfährt einem, von dem man glaubt, dass es überwunden ist. Wir leben mit dem Selbstverständnis vernünftige Kulturmenschen zu sein, während wir die Angst der Kindheit zuschreiben. Wenn einem so eine Angst widerfährt, zeigt sich jedoch, dass man immer noch Träger der kindlichen Gefühle ist. Manche Prägungen überwindet man nie. Die Frage ist: Warum ist es so schwierig, diese Ängste zuzulassen?

Warum?

Es gibt eine Tyrannei des Logos. Es liegt eine grosse Faszination darin, alles rational zu erfassen und das Unheimliche auszuschliessen. Selbst bei Freud ist es noch so und er wurde dafür kritisiert: Indem er es versteht, hat er das Unheimliche überwunden. Auch bei ihm ist der rationale Mensch noch der bessere. Das Ergebnis ist, dass erwachsene Menschen über kindliche Ängste sagen: Das gehört nicht zu mir.

Warum bringt unsere Kultur dauernd Filme und Geschichten hervor, in denen immer neue Monster erfunden werden?

Die meisten Filmmonster sind mir nicht unheimlich.

Warum nicht?

Meist sind die Filme so fiktional, die Prämissen dieser Welt sind so klar, dass der Film nicht zu einer Täuschung der Realität wird. Daher lösen die Monster keine Unheimlichkeit aus. Unheimlich wäre etwa eine Fiktion, in der die Maschinen die Macht über die Menschen erlangen. Diese Möglichkeit liegt real in der Luft. Unsere Weltordnung würde auf den Kopf gestellt. So wie bei Ridley Scotts Film «Blade Runner». Am Schluss blitzt die Möglichkeit auf, dass der Held Harrison Ford selber eine Maschine ist. Das ist unheimlich, denn es ist plötzlich nicht mehr klar, was der Held für ein Wesen ist.

Harrison Ford scheint «heimlich», also vertraut, zu sein, doch weil er möglicherweise eine Maschine ist, wird er unheimlich.

Genau. Für junge Leute wäre es wahrscheinlich weniger unheimlich, wenn sie erfahren würden: Es gibt Wesen, die sind halb Mensch, halb Maschine. Sie wachsen in einer Zeit auf, in der diese Möglichkeit sehr viel näher liegt. Wer sagt uns, das es nicht in 200 Jahren so weit ist? Oder Schönheitschirurgie. Das wäre vor 50 Jahren vielen unheimlich gewesen. Heute ist das ein normaler Wunsch einer 18-jährigen Amerikanerin.

Das Unheimliche wandelt sich.

Ja. Doch einiges bleibt. Wenn sie an Freud denken: Der Tod bleibt immer unheimlich. Das ist ein undenkbarer Ort. Der Tod kann kein «Heim» sein.

Die aufgeklärte Überlegung, dass nach dem Tod einfach Schluss ist, reicht also nicht aus?

Im Gegenteil. Dass es mich nach dem Tod nicht mehr geben soll, ist eine narzistische Verletzung. Der Glaube an Reinkarnation, oder das esoterische Fernsehen, das seit einiger Zeit wieder boomt, das sind die Kontrapunkte zum rationalen Weltbild. Nicht der Tod ist beängstigend, sondern die Überlegung, dass nach dem Tod einfach Schluss ist. Diese Leere ist zu unbekannt.

Nochmal: Warum haben wir so grosse Lust an unheimlichen Geschichten?

Wenn es eine pathologische Angst wäre, die wir beim Lesen oder Filmschauen empfinden, würden wir uns das nicht antun. Wenn das Beängstigende aber lustvoll ist, dann ist es ein Spiel. Die meisten Filme mit Monstern, oder solche, wo die Zivilisation bachab geht, haben ein Happy End. Sie sind eine Form der Bestätigung, dass ich doch in einer sicheren Welt lebe. Am Schluss siegt nicht der Wolf. Und dieses Wissen ist wieder «heimlich».

Nicht der Tod ist unheimlich, sondern die Überlegung, das nach dem Tod einfach Schluss ist.

Was ist aber zum Beispiel mit dem Film «No Country for Old Men»? Der Mörder, von dem niemand weiss, was ihn antreibt, wird nicht gefasst. Obwohl ein Mensch, ist er ebenfalls ein Monster, das von keiner Ordnung besiegt wird.

Ja. Und denken Sie an «Funny Games» von Michael Haneke. Das ist grauenhaft. Die beiden Jungs töten aus Spass eine Familie, und der Film endet, wie sie einfach zur nächsten gehen. Es nimmt kein Ende, und das ist unerträglich. Ich habe im Kultkino eine Filmreihe gemacht und auch solche Filme gezeigt. Sie wurden kaum besucht. Oder bei Pasolini, da verlassen die Leute scharenweise das Kino. Wenn uns eine solche Form der Unmenschlichkeit begegnet, die sich nicht als Fiktion oder Traum zu erkennen gibt, wird es unerträglich. Es gibt kein Schlupfloch zum sich verstecken. Und dann kommen auch keine jungen Leute und sagen: «Geil, es gibt Haneke, den gehen wir schauen.»

Wenn Fiktion und Realität verschwimmen, ist das noch nicht notwendig unheimlich. Es kann auch fantastisch sein. Oder lustig.

Es muss ein Geühl angesprochen werden, von dem man glaubt, man müsste es als Erwachener überwunden haben. Ein Beispiel wäre auch, wenn sich ein Mann in meinem Alter in ein 16-jähriges Mädchen verlieben würde. Er ist sicher, dass das nicht passieren wird, da er 55 ist und in einer gewissen Ordnung lebt, in der so etwas nicht passiert. Aber wenn es doch passieren würde und das Begehren einer Person, die für ihn noch ein Kind ist, ihn nicht mehr loslässt: Es wäre ihm unheimlich.

Monstrare heisst zeigen. Sie zeigen Dinge, die vielleicht gar nicht so weit weg sind von unseren Gefühlen, die wir verbergen, weil wir nicht mehr zu ihnen stehen. Warum sind Ihnen Monster nicht unheimlich?

Das stimmt, es gibt Monster, in denen wiederkommt, was wir glauben überwunden zu haben. Und es ist gut, wenn wir Unheimlichkeit empfinden. Sie zeigt uns, dass es Gefühle gibt, die wir nicht überwunden und auch nicht vollständig verdrängt haben.

Das Unheimliche hat also eine Funktion?

Natürlich. Wir können uns dann fragen, was wir damit machen wollen.

Gérald Personnier betreibt eine Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse in Basel. Im Kultkino veranstaltet er regelmässig die Filmreihe «Hinter dem Bild» mit offenem Gespräch im Anschluss an die Vorführungen.

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