Schwarze Schafe loswerden – das war das Versprechen der Ausschaffungs-Initiative. Seit gut einem Jahr wird die Vorlage umgesetzt. Doch geholfen ist damit niemandem. Das zeigt auch die Geschichte von Gabor, der vor dem «Fame» einen Menschen halb tot geschlagen hat.


Um halb vier Uhr morgens beginnt sich die Tanzfläche im «Fame» zu leeren. Der DJ spielt an diesem Abend im Mai 2017 noch einige letzte Tracks, doch die Party ist vorbei. Gabor* und sein jüngerer Bruder haben eine lange Nacht hinter sich, zuerst Vorglühen in der Steinen, danach mit Freunden tanzen und trinken an der «Big-Fameday»-Party.

Ein Foto zeigt Gabor Arm in Arm mit einem Kollegen, die Jeans modisch zerrissen, das Käppi in Tarnfarben, die Finger zu einem verdrehten Victoryzeichen geformt. Im Gesicht der Ansatz eines Schnurrbartes.

Gabors Freundin ist an diesem Abend zu Hause geblieben, er wollte Zeit mit seinem Bruder verbringen. Es war dem 19-Jährigen gelungen, diesen in den Club zu schleusen, obwohl er noch zu jung ist. Viele Whisky Cola gingen über den Tresen, die Drinks im «Fame» sind günstig. Sie sind beide angetrunken. Draussen, im Eingangsbereich des Clubs, teilen Gabor und sein Bruder ihre letzte Zigarette. Danach wollen sie sich auf den Weg nach Hause machen, in die Wohnung ihres Vaters.

Mit schwerer Zunge

Auch Javed* und sein Kumpel Milad* haben für heute genug vom «Fame». Javed hatte früher am Abend ein Date. Es lief gut und ihm war nach Feiern zumute. Nach ein paar Bier in der «Fassbar» hat sich Milad dazu überreden lassen, noch ins «Fame» weiterzuziehen. Zwar ist die Party dort nicht so toll, wie Javed sich das vorgestellt hat, aber er ist nicht der Typ, der sich von so was den Abend vermiesen lässt.

Beim Rausgehen will sich Javed für den Heimweg noch eine Zigi schnorren. So tut er das immer, fremde Leute ansprechen, Spässchen machen, gratis rauchen. Der Alkohol hat Javeds Zunge etwas schwer werden lassen, dennoch versucht er sein Glück bei Gabor und seinem Bruder.

Javed umarmt die beiden kumpelhaft, will seinen Charme spielen lassen. Bei Gabor kommt das nicht gut an, er stösst den fünf Jahre älteren und deutlich grösseren Javed von sich. Dieser zieht ab und steigt hinter Milad die Treppe rauf zum Claraplatz. Sie treffen sich bei der Clarakirche, um darüber zu beraten, ob die Nacht für sie beide wirklich schon zu Ende ist. Während Milad ein Selfie schiesst, läuft Javed plötzlich zurück in Richtung «Fame».

Gabor geht nach Hause, Javed bleibt blutend und bewusstlos am Boden liegen.

Mitten auf der Strasse begegnen sich Javed und Gabor zum zweiten Mal an diesem Abend. Javed fragt erneut nach einer Zigi, Gabor schlägt ihm die Faust ins Gesicht. Gabor geht nach Hause, Javed bleibt blutend und bewusstlos am Boden liegen. Sein Körper zittert.

Fünf Stunden später publiziert die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt einen Zeugenaufruf. Nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung sei eine Person aufgrund schwerer Kopfverletzungen in die Notfallstation gebracht worden. Gesucht werde:

Unbekannter, ca. 170 cm gross, korpulent, südländischer Typ, schwarze kurze Haare.

Die Zeitungen am Sonntagmorgen vermelden den Vorfall:

«24-Jähriger bei Streit vor Fame Club verletzt» («20 Minuten»)
«Schlägerei vor Fame Club – Mann erleidet Kopfverletzungen» («bz Basel»)

Und der Lokalsender Telebasel, aufgescheucht von der Häufung solcher Vorfälle im Umfeld des (mittlerweile aus wirtschaftlichen Gründen geschlossenen) «Fame», fragt wenige Tage später in der Talksendung: «Wer stoppt die Schlägereien vor dem Fame Club?»

Noch zwei Wochen dauert es, bis die Polizei Gabor als den Täter identifiziert. Er wird von den Beamten zu Hause abgeholt und ins Untersuchungsgefängnis gebracht.

Der Richter muss weniger darüber befinden, was genau passiert ist. Er muss entscheiden, ob Gabor zurück nach Ungarn muss.

Ende Oktober 2017, Saal 3 am Strafgericht. Gabor in Hemd und dunklem Anzug schlurft in Begleitung eines Polizisten zu seinem Platz, die Fussfessel behindert seinen Gang. Seine Schultern sind eingefallen, sein Gesicht so blass, dass der Flaum über seiner Lippe noch besser zu sehen ist.

Die Beweislage ist klar und Gabor im weitesten Sinne geständig. Gerichtspräsident Roland Strauss wird zusammen mit seinen Kollegen heute also weniger darüber befinden müssen, was an diesem Abend im Mai vor dem «Fame» genau passiert ist. Er wird vor allem darüber entscheiden, ob Gabor in der Schweiz bleiben darf oder zurück nach Ungarn muss. Schwere Körperverletzung ist ein sogenanntes Katalogdelikt, seit dem 1. Oktober 2016 muss ein Ausländer, der eines dieser Delikte schuldig gesprochen wird, zwangsläufig für mindestens fünf Jahre des Landes verwiesen werden.

Der Fall Gabor ist auch ein Fall Ausschaffungs-Initiative. Ein Beispiel dafür, wie es um die Umsetzung dieser Vorlage steht. Welche konkreten Folgen zeitigt ein politisches Geschäft im Alltag der Ermittler, der Gerichte, der Verteidiger, der Angeklagten? Wie funktioniert diese Maschinerie, die gemäss der Abstimmungspropaganda der SVP schwarze Schafe aus dem Land werfen soll, rund ein Jahr nach ihrer Inkraftsetzung?

Selten um eindeutige Antworten verlegen, sei der Fall auch noch so komplex, resümierte unlängst die «Sonntags-Zeitung» mit einer knackigen Zeile:

«Ausländer werden kaum härter angefasst.»

Belegt wird dieses Fazit im Blatt mit einer selbsterstellten Umfrage bei 17 Kantonen. Demnach seien in den zwölf Monaten seit Einführung des neuen Gesetzes rund 400 Ausschaffungen rechtskräftig geworden. Hochgerechnet auf alle Kantone geht die SoZ davon aus, dass der Wert zwischen 500 bis 800 Ausschaffungen liegt. Und sich damit auf ähnlichem Niveau bewege wie in den Vorjahren.

Zwar räumt die Zeitung ein, dass die Aussagekraft ihrer Umfrage mit Vorbehalten zu verstehen sei, doch ist diese Differenzierung weit unten im Text versteckt. Wenig überraschend sahen sich verschiedene SVP-Politiker in ihrer Befürchtung bestätigt, ihre Ausschaffungs-Initiative könnte in einer verwässerten Form umgesetzt werden. Nationalrat und Landwirt Toni Brunner bezeichnete sie als «joghurtweich», dies im Gegensatz zur in Aussicht gestellten «pfefferscharfen» Umsetzung.

Die Verfahren dauern an

Experten aber, also Richter, Strafrechtler, Staatsanwaltschaften und Migrationsbehörden, sind sich darin einig, dass es für ein Fazit noch zu früh sei. Das neue Regime gilt nur für Straftaten, die nach dem 1. Oktober 2016 begangen wurden, viele Verfahren dürften also immer noch andauern. Ausserdem werden die allermeisten Beschuldigten angesichts der Schwere der Sanktion eines Landesverweises den Rechtsweg ausschöpfen, viele Urteile sind also noch nicht rechtskräftig.

Und drittens ist ein Vergleich mit Vorjahreszahlen schwierig, weil vor der Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative nicht die Gerichte, sondern die Migrationsämter für die Wegweisung straffälliger Ausländer zuständig waren. Es fehlt belastbares Zahlenmaterial, die Grundlage für eine Statistik wurde vom Bundesrat erst auf den 1. März 2017 geschaffen.

So hat der Kanton Basel-Stadt etwa im Jahr 2016 66 «ausländerrechtliche Wegweisungen» verfügt, im Jahr zuvor waren es 69. Darunter fallen jedoch nicht ausschliesslich Wegweisungen aufgrund strafrechtlich relevanter Vergehen, so kann etwa auch eine hohe Überschuldung zu einer Wegweisung führen. Dann sagt diese Zahl auch nichts darüber aus, über welchen Aufenthaltsstatus der betreffende Ausländer verfügt hat. Sie erfasst Kriminaltouristen genauso wie Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung.

Wer des Landes verwiesen werden soll, hat jeden Grund, ein solches Urteil anzufechten.

Wer nun wissen will, wie viele Landesverweise in Basel seit dem 1. Oktober 2016 ausgesprochen worden sind, steht ebenfalls vor einem Problem. Zwar hat die Staatsanwaltschaft bis zum 20. Oktober 2017 insgesamt 83 Anträge auf Landesverweisung gestellt. Wie viele davon vom Strafgericht bis jetzt rechtskräftig beurteilt worden und welche noch hängig sind, ist beim Gericht direkt nicht zu erfahren. Wer des Landes verwiesen werden soll, hat jeden Grund, ein solches Urteil anzufechten, vor allem wenn diese Person ohnehin bereits in Haft ist.

Aufschluss gibt eine Präsentation, die Gerichtspräsident René Ernst am 29. September im Rahmen einer Weiterbildungsveranstaltung an der Uni Basel gehalten hat. Der TagesWoche liegen diese Folien vor. Ernst schreibt darin, dass zum Zeitpunkt seiner Erhebung insgesamt 48 Landesverweise ausgesprochen worden seien, 38 davon rechtskräftig.

Ernst listet weiter sämtliche Verurteilungen auf, gibt Nationalität, Aufenthaltsstatus in der Schweiz und Dauer des Landesverweises an. Es fällt auf, dass der allergrösste Teil der Verurteilungen Kriminaltouristen betrifft. Viele Osteuropäer etwa, die ohnehin nie die Absicht hatten, in der Schweiz zu bleiben.

Im Bereich des Kriminaltourismus findet sich eine direkt spürbare Folge der neuen Gesetze, wie Strafverteidiger Alain Joset erklärt.

«Früher wurden Kriminaltouristen mit einem Strafbefehl in der Hand an die Grenze gebracht. Damit hatte sich der Fall für die Schweiz erledigt. Heute verbringen diese Personen mehrere Monate in Untersuchungshaft, um ihr Verfahren abzuwarten.»

Gemäss der Liste von Richter Ernst wurde weiter fünf Personen die Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung entzogen. Bis 2030 des Landes verwiesen wurde vom Strafgericht unter anderem auch ein drogenabhängiger und vorbestrafter Italiener, der in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist und nur über eine «lose Bindung» nach Italien verfügt.

Im Nachbarkanton Baselland zählt die Staatsanwaltschaft nicht die Anträge, sondern bloss die Urteile, es waren Mitte Oktober insgesamt 25 seit Beginn der Umsetzung.

Die TagesWoche hat bei beiden Strafgerichten sämtliche Urteile angefordert, bei welchen der Verurteilte des Landes verwiesen wurde. In Basel-Stadt datiert das erste vom 20. Dezember 2016, das jüngste vom 31. Mai 2017. Die Delikte reichen von Diebstahl über Betäubungsmitteldelikte bis hin zu Körperverletzung und Schändung. Die Landesverweise gelten meist für fünf, in Einzelfällen aber auch für acht oder sogar zehn Jahre.

Früh aufstehen ist nicht Gabors Ding, er verschläft häufig, die vielen Absenzen führen zum Schulausschluss.

Zurück im Saal 3, Strafgericht Basel. Statistiken, verlässlich oder nicht, spielen hier keine Rolle, es zählt der Einzelfall. Gerichtspräsident Strauss befragt Gabor, will seine Vorgeschichte klären.

Gabor ist noch nicht lange in der Schweiz, erst 2012 ist er als 15-Jähriger gemeinsam mit seinem Bruder dem Vater nach Basel gefolgt. Die Kindheit verbrachten sie beide in verschiedenen Kinderheimen in Ungarn, die Beziehung zur Mutter ist seit frühester Kindheit zerrüttet. Gabor hat in seiner Heimat nur wenige Jahre eine Schule besucht.

Absenzen, Drogen, Delikte

In Basel angekommen, wird Gabor in eine Integrationsklasse eingeschult, später wechselt er in die WBS (Weiterbildungsschule). Doch zu einem Abschluss bringt er es auch hier nicht. Früh aufstehen ist nicht Gabors Ding, er verschläft häufig, die vielen Absenzen führen zum Schulausschluss. Ähnlich ergeht es ihm in mehreren Praktika, egal wie niederschwellig sie sind. Gabor beginnt zu kiffen und macht Bekanntschaft mit der Jugendstaatsanwaltschaft. Wegen Gewaltdelikten wie Raub sitzt er zwei Monate in Jugendhaft.

Was nur mit ihm losgewesen sei, in dieser Zeit, will Richter Strauss wissen.

«Ich weiss es auch nicht. Mein Kopf war wie in einer Wolke. Ich wusste nicht, wohin mit mir und meinem Leben.»

Am Wochenende geht Gabor gerne feiern. Mit Freunden, sie sind oft im «Fame», weil dort Eintritt und Getränke wenig kosten. Trotzdem, nicht gerade ein günstiges Hobby, wie Strauss bemerkt. Wie er sich das habe leisten können?

«Mit dem Sozialgeld und manchmal hat mir mein Vater etwas gegeben.»

Seit Gabor in U-Haft sitzt, hat er Zeit zum Nachdenken.

«Mir ist in den letzten Monaten klar geworden, dass ich einen Fehler begangen habe. Ich will meinem Bruder ein Vorbild sein, er soll sehen, dass man für seine Fehler geradestehen muss. Ich bin kein schlechter Mensch und schon gar kein Krimineller. Wenn ich meine Strafe abgesessen habe, will ich mein Leben auf die Reihe kriegen und endlich einen Beruf finden. Mein Traum ist es, irgendwann ein eigenes Restaurant aufzumachen.»

Für Gerichtspräsident Strauss und seine Dreierkammer sind alle diese Informationen deshalb wichtig, weil sie prüfen müssen, ob Gabor ein sogenannter Härtefall ist. Die Härtefall-Regelung sieht vor, dass ein Ausländer, der straffällig wird, unter ganz bestimmten Voraussetzungen doch nicht des Landes verwiesen wird. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Person hier geboren wurde, beruflich und sozial besonders gut integriert und finanziell unabhängig ist, Familie oder Kinder hat.

Ein Passus bleibt

Gerade an der Härtefall-Regelung störten sich SVP-Politiker besonders. Sie sahen damit den von der Initiative verlangten Automatismus ausgehebelt, dass jeder kriminelle Ausländer zwingend ausgeschafft werden muss, die Herde soll die schwarzen Schafe verstossen. Die Richter hingegen stellten sich auf den Standpunkt, dass dies genau jener Passus im neuen Gesetz sei, der es ihnen auch nach Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative noch erlaube, ihre eigentliche Arbeit zu machen: die Prüfung und individuelle Sanktionierung des Einzelfalles.

Doch nicht nur die Richter, sondern auch die Staatsanwälte können eine Härtefallprüfung durchführen. So hat die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz (SSK) im Mai eine Empfehlung erlassen, bei geringfügigen Vergehen, die mit höchstens sechs Monaten Haft bestraft werden, auf den Gang vor ein Gericht zu verzichten und solche Fälle mit einem beschleunigten Strafbefehls-Verfahren abzuwickeln. Dies ist gemäss einer SSK-Zählung zwischen Oktober 2016 und Ende März 2017 schweizweit 50-mal geschehen.

Die SVP-These von der Kuscheljustiz hält hier einer genauen Überprüfung nicht stand.

Natürlich hagelte es Kritik, als die SSK diese Zahlen veröffentlichte. Von rechts gibt es seither Bestrebungen, die Entscheidungshoheit der Staatsanwälte zu beschneiden. Doch wie sieht es in den beiden Basel aus. Werden wirklich so viele Härtefälle produziert? Dient diese Klausel dazu, die strenge Ausschaffungs-Initiative zu verwässern?

Die SVP-These von der Kuscheljustiz hält hier einer genauen Überprüfung nicht stand. Die Stawa Basel-Stadt gibt an, in den 13 Monaten seit Umsetzung gerade mal in einem einzigen Fall auf Härtefall entschieden zu haben. Zur Erinnerung: Im gleichen Zeitraum wurden 83 Landesverweise beantragt. Die Staatsanwälte im Landkanton verzichten sogar ganz darauf, Fälle über den Strafbefehl abzuwickeln und bringen jeden einzelnen Beschuldigten vor Gericht.

An den Gerichten präsentiert sich die Situation gleich. Das Strafgericht Basel-Stadt hat ebenfalls genau einmal auf Härtefall entschieden. Der Zufall will es, dass es wie bei Gabor auch eine Dreierkammer unter Roland Strauss war, welche dieses Urteil fällte.

«Es ging damals um einen Italiener, der in Basel eine fünfjährige Tochter hat und von der Kindsmutter getrennt lebte. Das Verhältnis zwischen den Eltern war zerrüttet und uns schien, dass die Beziehung zur Tochter stark leiden würde, wenn wir diesen Mann des Landes verwiesen hätten. In diesem Fall gewichteten wir das Interesse des Kindes höher und entschieden auf Härtefall.»

Strauss hat wenig Geduld für Schlagzeilen wie diejenige der «Sonntags-Zeitung» oder politische Vorwürfe, die Ausschaffungs-Initiative würde nicht genügend hart umgesetzt. «Wir wenden dieses Gesetz in aller Strenge an.»

Grosser Ermessensspielraum, keine Präzedenzfälle

Es liegt in der Natur einer neu eingeführten Rechtssprechung, dass die Gerichte zu Beginn im luftleeren Raum operieren. Werden Gesetzesartikel zum ersten Mal angewendet, ist der Ermessensspielraum gross. Noch gibt es keine Gerichtspraxis der obersten Instanz, keine Präzedenzfälle, in denen das Bundesgericht über die Auslegung der neuen Regeln befunden hat. Verteidiger, Richter und Behörden warten alle darauf, bis die ersten Fälle bis ganz nach oben durchgeklagt wurden.

Bis dahin liegt aber noch viel Arbeit vor allen Involvierten. Die SSK hat bereits im Mai vorausgesagt, dass,

«die neue Gesetzgebung über die Landesverweisung von straffälligen und kriminellen Ausländern […] zu höheren Kosten für die amtliche Verteidigung führt, Verfahren von teils geringfügiger Bedeutung verlängert und die Durchführung vereinfachter Verfahren erschwert».

Weil mit dem Landesverweis nun auch bei geringfügigen Delikten wie etwa einfachem Diebstahl oder Hausfriedensbruch eine schwerwiegende Strafe droht, gilt neu das Prinzip der «notwendigen Verteidigung». Erwischt also die Polizei beispielsweise einen Einbruchstouristen auf frischer Tat, sind die Beamten gezwungen, bereits bei der ersten Einvernahme des Verdächtigen eine Verteidigung aufzubieten.

Das geschieht manchmal sogar spätnachts, wie Michael Lutz bestätigt, Sprecher der Stawa Baselland. Pikettverteidiger müssen demnach regelmässig auch ausserhalb der Bürozeiten ausrücken. Solche – teuren – Einsätze würden meist in den knapp bemessenen Fristen begründet liegen, innerhalb derer eine Untersuchungshaft angeordnet werden müsse, sagt Lutz.

«Diese knappen Fristen erlauben es in der Praxis – beispielsweise an Wochenenden – nicht, auf den nächsten Arbeitstag zu warten.»

Doch nicht nur bei den Staatsanwälten und bei den Verteidigern häufen sich seit dem 1. Oktober 2016 die Pendenzen, auch die Gerichte klagen über mehr und langwierigere Verfahren. So gelangen heute etwa viele Fälle vor Gericht, welche früher schnell über einen Strafbefehl abgewickelt worden seien, sagt Roland Strauss. «Ebenso hat sich der Aufwand fürs Aktenstudium spürbar erhöht, seit wir auch die Migrationsakten berücksichtigen müssen.»

Mit der Ausschaffungs-Initiative wurde ein kompletter Verwaltungsablauf, die Wegweisung straffällig gewordener Ausländer, von den Migrationsbehörden auf die Justiz überwälzt. Die Maschinerie läuft am Limit.

Gabor wird des Landes verwiesen. Sein Opfer liegt noch immer in der Reha-Klinik.

Im Gerichtssaal 3 schreitet Roland Strauss zur Urteilsverkündung. Gabor sitzt auf seinem Stuhl, in den Zuschauerreihen wartet seine Familie. Ein junges Mädchen schluchzt hörbar.

Gabor wird zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten verurteilt. Die Dreierkammer unter Präsident Strauss spricht ihn der schweren Körperverletzung schuldig. Ausserdem soll er für fünf Jahre des Landes verwiesen werden. In Ungarn erwartet Gabor nichts. Keine Familie, keine Wohnung, keine Arbeit, kein Auffangnetz.

Javed, Gabors Opfer, liegt bis heute in einer Reha-Klinik. Wegen einer Schwellung des Gehirns musste seine Schädeldecke erneut geöffnet werden. Der 24-Jährige ist zwar geistig und sprachlich wieder auf dem Damm, kann sich an seine schicksalhafte Begegnung mit dem jungen Ungarn Gabor jedoch nicht mehr erinnern. Geblieben ist ihm hingegen eine Gehschwäche, einen Fuss schleppt er nach. Sein Jus-Studium musste Javed unterbrechen. Die Heilung braucht Zeit.

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* Namen geändert

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