Zwanzig Jahre nach dem Platzspitz sind Drogen kein Thema mehr. Verschwunden sind sie aber nicht – sie sind Teil unseres Alltags geworden.
Ob «Nordstern» oder «Borderline», auf dem «Schiff» oder an der After-Hour-Party im «Saxophon» – der Besuch einer gewöhnlichen Basler Party-Location zeigt: Zu vorgerückter Stunde sind praktisch alle Anwesenden «high». Auf Alkohol die meisten, bekifft viele, was und wie viel sonst noch konsumiert wird, hängt ganz von der Party ab.
In der Techno- und House-Szene, deren Anfänge vom Ecstasy-Konsum geprägt waren, ist Kokain nach Cannabis heute die meistkonsumierte illegale Substanz. Das zeigt auch die Statistik: 2011 wurden in Basel-Stadt rund 28 Kilogramm Kokain sichergestellt. Die Zahl ist leicht tiefer als in den Vorjahren, als es je rund 32 Kilo waren. Ecstasy war ein paar Jahre lang eher schwer erhältlich, Fälschungen tauchten auf, die mitunter gefährliche Wirkstoffe enthielten. Seit einiger Zeit ist der Lieferengpass behoben, und gemäss den Pillenwarnungen von saferparty.ch besteht das aktuelle Risiko vor allem im hohen MDMA-Gehalt der im Umlauf befindlichen Tabletten. Seither sind die Pillen wieder beliebter.
Stoff direkt in Clubs verkauft
Koks, Speed, Ecstasy: «Die nachgefragten Substanzen sind in ausreichenden Mengen verfügbar, und die Verlässlichkeit, dass man das bekommt, was man tatsächlich will, ist relativ gross», sagt Roger Liggenstorfer vom auf Drogenfachliteratur spezialisierten Nachtschatten-Verlag in Solothurn und ehemaliger Präsident der Szeneorganisation Eve & Rave. «Am Anfang des Abends bringt man sich mit Alk auf Touren, aber irgendwann wirst du davon müde, dann ist eine Linie (Kokain, Redaktion) gerade das Richtige», beschreibt ein Partygänger. Musste man in Basel früher eine Quelle kennen oder den Stoff beim Kügelidealer auf der Strasse holen, kriegt man ihn heute direkt im Club. «In den meisten Clubs hat es Leute, die regelmässig da sind und etwas rauslassen», sagt eine Szenekennerin. Dabei spielt eine gewisse soziale Kontrolle, denn die Clubs haben natürlich kein Interesse daran, dass sich ihre Gäste mit verschnittenen Drogen vergiften.
Rückblende: Vor 20 Jahren wurde in Zürich der Platzspitz geräumt. Um die 2000 Fixer pro Tag frequentierten die offene Drogenszene in der Zwinglistadt und versorgten sich in aller Öffentlichkeit und unter dem mehr oder weniger tatenlosen Zusehen der Polizei mit Stoff. Das Schandmal im Zentrum der reichsten Stadt der Schweiz, wenige Hundert Meter von Bahnhofstrasse und Paradeplatz entfernt, grauste und faszinierte die Weltpresse gleichermassen.
«Needle Park» nannte ihn die «New York Times», der «Blick» schrieb schlicht von Zürichs «Drogenhölle». Nach der einigermassen planlos durchgezogenen Räumung verlagerte sich die offene Szene mit all ihrem Elend zum Lettensteg. Zwei weitere Jahre vergingen, bis sie auch von dort vertrieben wurde. Die Zahl der Drogentoten lag damals bei über 400 pro Jahr und erreichte mit 419 im Jahr 1992 den Höhepunkt.
Die Duldung einer offenen Drogenszene hatte einen zentralen Grund: Die Schweiz hatte damals die meisten HIV-Fälle in ganz Europa. Hauptursache dafür war die mangelnde Verfügbarkeit von hygienischem Injektionsbesteck. In einer zentralen Szene, so die Überlegung, wären die Abhängigen besser erreichbar für niederschwellige Präventionsmassnahmen.
Die Überlebenshelfer auf dem Platzspitz verteilten pro Tag bis zu 16 000 sterile Spritzen. Das Ziel der Schadensminderung hatte offiziell Eingang in die Schweizer Drogenpolitik gefunden. Der Grundstein für das bis heute gültige Vier-Säulen-Prinzip (Prävention, Therapie, Überlebenshilfe, Repression), das der Schweiz international viel Beachtung und Anerkennung einbrachte, war gelegt.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Heute sind die offenen Drogenszenen weitestgehend verschwunden. Heroin ist out und will trotz regelmässigen Versuchen der Medien, sein Comeback herbeizuschreiben, einfach nicht mehr in Mode kommen. Wer es trotzdem noch konsumiert, findet Betreuung in Gassenzimmern, an deren Existenz und Anblick sich die Öffentlichkeit längst gewöhnt hat. Die Zahl der Drogentoten hat sich halbiert, das Durchschnittsalter der Heroinabhängigen wird auf über 40 Jahre geschätzt – nicht wenige leben mittlerweile in Altersheimen.
Statt der Abstinenz der Abhängigen wurde deren Überleben zum obersten Ziel erklärt, an die Stelle der abstinenzorientierten Therapie ist die Substitution durch Methadon und die Heroin-Verschreibung getreten. Die Sucht wurde medizinalisiert und bürokratisiert. Und damit auch entideologisiert. Das Thema Drogen, bis Mitte der 1990er-Jahre noch von 75 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten als «wichtig» eingestuft, ist längst aus den Top Ten des Sorgenbarometers gerutscht und wird heute gerade noch von zehn Prozent der Bevölkerung als wichtig bewertet.
Dabei werden mehr Drogen konsumiert denn je. Beschränkte sich die Palette der erhältlichen illegalen Substanzen zu Platzspitz-Zeiten auf Haschisch, LSD, Kokain und Heroin, kann man sie heute schon gar nicht mehr alle zählen. In der Partyszene spielen neben Kokain, Ecstasy und Amphetaminen auch LSD und Psilo-Pilze nach wie vor eine Rolle, wenn auch praktisch nur noch unter Anhängern der Goa-Kultur. Auch die als K.o.-Tropfen zu unrühmlicher Bekanntheit gelangten Substanzen GHB und GBL würden, auf niedrigem Level, nach wie vor konsumiert, berichtet Alex Bücheli von der Zürcher Jugendberatung Streetwork, die im Rahmen ihrer Präventionsarbeit auch Drogentests anbietet.
Seit einiger Zeit kommen unter den Namen «Legal Highs» oder «Research Chemicals» neue Substanzen wie Mephedron oder Methylon auf den Markt. Mephedron hat eine aufputschende Wirkung und ein ähnlich grosses Abhängigkeitspotenzial wie Kokain, Methylon wirkt eher wie Ecstasy. Bei beiden sind die Gefahr der Überdosierung sowie Nebenwirkungen und Langzeitfolgen die Hauptprobleme.
Kokain und Ecstasy liegen vorn
Da Kokain und Ecstasy heute zu tiefen Preisen und in guter Qualität verfügbar sind, setzen sich solche Exoten in der hiesigen Szene kaum durch. Eher ein Thema sind Amphetamine (Speed) und Methamphetamine – aber auch diese mehr in Städten wie Zürich und Berlin als in Basel. «Wozu sich mit Speed aufputschen, wenn morgens um vier die Party vorbei ist?», bringt es eine Szenekennerin auf den Punkt.
Streetworker Alex Bücheli wie auch Nachtschatten-Verleger Roger Liggenstorfer bescheinigen den Konsumenten heute «ein hohes Mass an Eigenverantwortung und Konsummündigkeit». Was natürlich auch damit zu tun hat, dass in den letzten 15 Jahren viel Aufklärungsarbeit geleistet wurde. Und was natürlich nicht heisst, dass es gerade bei Einsteigern immer wieder zu problematischen Konsummustern kommt. «Zu Exzessen kommt es vor allem bei Festivals», sagt Bücheli mit Blick auf die Sommersaison.
Eines der Hauptrisiken für die Konsumierenden liegt im verbreiteten Mischkonsum. «Ob Alkohol, Koks und Gras oder die Kombination mehrerer synthetischer Drogen – drei Viertel der Konsumenten nehmen mehr als eine Substanz», sagt Alex Bücheli. Ein weiteres Hauptrisiko ist der schwankende Wirkstoffgehalt der gehandelten Substanzen.
Gefährliche Streckmittel im Koks
Die Substanz, die das Drogeninformationszentrum Zürich (DIZ) am häufigsten testet, ist Kokain. Der Wirkstoffgehalt der analysierten Proben beträgt 0 bis 90 Prozent und liegt im Mittel bei 50 Prozent. «Ein Problem ist, dass der Gehalt stark schwankt und nicht deklariert ist», erklärt Streetworker Bücheli. «Dadurch kommt es zu ungewollten Überdosierungen.» Ein anderes Problem sind die Streckmittel. Fast alle der im DIZ analysierten Kokainproben enthalten Streckmittel. Das war schon immer so. Doch neben der klassischen Strecksubstanz Lactose enthalten heute 89 Prozent der Proben psychoaktive Streckmittel.
Ein Gramm Koks kostet heute zwischen 80 und 160 Franken. Eine durchgeschnupfte Nacht schlägt kaum stärker aufs Budget als ein Kinoabend mit der Freundin. Der tiefe Preis und die leichte Erhältlichkeit bleiben nicht ohne Wirkung: Die Bundeskriminalpolizei schätzt die Zahl der regelmässigen Kokainkonsumenten in der Schweiz auf rund 100 000 und die jährlich konsumierte Menge auf 3,7 bis 5,3 Tonnen.
So spektakulär solche Zahlen klingen, sie zeigen vor allem eines: dass die überwiegende Mehrheit der Kokaingebraucher ihren Konsum mehr oder weniger im Griff hat. Von einer Zunahme der Beschaffungskriminalität ist in den Medien jedenfalls so wenig zu lesen wie von einem signifikanten Anstieg kokaininduzierter Psychosen.
Geändert hat sich nicht nur der Umgang von Politik und Behörden mit dem Thema Drogen. Anders als früher beschränkt sich der Konsum heute nicht auf Nonkonformisten oder Gesellschaftsverweigerer. Vom Zürcher Drug Checking machen Leute aus unterschiedlichsten Kreisen Gebrauch. «Das Alter der Klientel reicht von 15 bis 71 Jahren, Schüler und Unternehmer sind ebenso darunter wie Hausfrauen und Pensionäre», erklärt Alex Bücheli. «Wobei das Interesse insbesondere der ganz Jungen an illegalen Drogen in den letzten Jahren tendenziell eher etwas rückläufig ist.»
Doping für alle Lebenslagen
Mit der Entideologisierung ist Drogenkonsum normal geworden. Für jede Party gibt es die passende Substanz, die einen punktgenau in Stimmung bringt. Das Gleiche gilt für alle anderen Lebenslagen – von der Diplomarbeit, die fertiggeschrieben werden muss, über den Marathonlauf bis hin zur Liebesnacht, in der Mann von seinem kleinen Freund nicht hängen gelassen werden will. Koffein ist heute nicht nur im Kaffee, Tee oder Red Bull vorhanden. In den Szenequartieren Berlins kann man den Wachmacher auch als Reinsubstanz in Beutelchen am Kiosk kaufen. Es versteht sich, dass es Schlaumeier gibt, die sich mehr als ein Beutelchen ins Fanta rühren.
«Neuro-Enhancement», wie sich das alltägliche Doping mit psychoaktiven Substanzen nennt, ist der Trend der Stunde. Ritalin hilft beim konzentrierten Arbeiten, bei Prüfungsangst greift man zum Betablocker, Aspirin beugt Schmerzen und schweren Beinen vor, gegen Versagen im Bett hilft Viagra. Und wenn der Hangover vom verkoksten Wochenende eher einer kleinen Depression gleicht als einem kommunen Kater, ist ein Stimmungsaufheller die richtige Wahl. Gegen den Sekundenschlaf auf dem Heimweg nach einer anstrengenden Schicht hilft eine Pille Vigil.
Der Absatz von Psychostimulanzien in der Schweiz stieg von 2009 bis 2011 um etwa ein Viertel auf rund 310 000 Packungen. Wie verbreitet etwa das Doping mit Ritalin ist, zeigt sich unter anderem daran, dass die Universitäten Basel und Zürich eine Studie durchführen, um den Ritalinmissbrauch ihrer Studierenden zu untersuchen.
Methadon für Fixer, Speed für Studierende: «Der Pharmaindustrie ist es gelungen, sich ein gutes Stück der Profite, die der Handel mit psychoaktiven Substanzen einbringt, zu sichern», sagt Drogenaufklärer Roger Liggenstorfer.
Keine grossen Würfe mehr
Die alte Forderung der Sozial- und Präventivmediziner, psychoaktive Substanzen unabhängig von ihrem rechtlichen Status zu betrachten, hat sich mittlerweile durchgesetzt. Was bis heute nicht geschafft wurde, ist den Drogenkonsum generell zu entkriminalisieren. Und obwohl sich die Fachleute einig sind, dass die Kriminalisierung und die daraus resultierende Repression kaum jemanden vom Drogenkonsum abhalten, sieht es auch nicht danach aus, als ob dies in absehbarer Zukunft bei auch nur einer Substanz gelänge.
Zuletzt versucht wurde es mit der Hanfinitiative, die am 30. November 2008 von zwei Dritteln der Stimmberechtigten abgelehnt wurde. «Die Ablehnung hatte verschiedene Gründe», sagt Liggenstorfer. So habe den Befürwortern die Bereitschaft gefehlt, sich im Abstimmungskampf zu engagieren und Koalitionen einzugehen. «Was wir aber nicht vergessen sollten: Am gleichen Tag stimmten zwei Drittel dem revidierten Betäubungsmittelgesetz inklusive der darin festgeschriebenen Heroinabgabe zu.»
Zu spektakuläreren Würfen hat es seit der Einführung der Vier-Säulen-Politik nicht mehr gereicht. «Der Leidensdruck ist weg», konstatierte der Präventivmediziner François van der Linde, der bis Ende 2011 die Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (EKDF) präsidierte und den Weg für die kohärente Schweizer Drogenpolitik ebnete (siehe Artikel auf Seite 11), in einem Interview auf Radio DRS.
Zuversichtlicher gibt sich Thomas Kessler, ehemaliger Drogendelegierter und jetzt Stadtentwickler in Basel. In der heutigen Zeit reiche es nicht, das Elend vor der eigenen Tür zu beseitigen. «Die Drogenpolitik der Schweiz hat ihre Wurzeln in der Zeit des Kalten Krieges. Heute haben wir einen heissen Krieg», sagt Kessler, der unlängst vom Bundesrat als Mitglied der EKDF bestätigt wurde. Der Krieg tobt zum Beispiel in Mexiko, wo seit 2006 rund 50 000 Menschen gestorben sind. Er ist nur der jüngste Beleg, dass der «Krieg gegen Drogen» nicht zu gewinnen ist. «Angesichts der Dramatik ist es zwingend, dass wir in alle Richtungen denken», so Kessler. «Und dabei wird die unaufgeregte, nicht von machtpolitischen Ansprüchen geprägte Perspektive der Schweiz eine wichtige Rolle spielen.»
Quellen
Informationsdienst Saferparty
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.07.12