«Die direkte Demokratie war ein Mittel, um das Stimmrecht hinauszuzögern»

1966 führte Basel-Stadt als erster Deutschschweizer Kanton das Frauenstimmrecht ein. Ob ein Mann dafür oder dagegen war, hing auch von dessen Selbstbewusstsein ab, sagt Historikerin Regina Wecker im Interview.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Regina Wecker, die Basler Männer können sich auf die Schulter klopfen – sie gaben ihren Frauen 1966 das Stimmrecht, als erster Deutschschweizer Kanton.

Ja, das war ein wichtiger Schritt. Viele Stimmbürger sahen das aber als Akt der Ritterlichkeit, nicht als demokratisches Recht der Frauen. So zeigte eines der Abstimmungsplakate einen Ritter mit einer Rose im Mund und den Text: «Wir Basler sind ritterlich und stimmen für unsere Frauen.» 

Oh, die Männer waren so nett sich herabzulassen und ihren Frauen Mitsprache zu gewähren?

«Herablassen» gefällt mir da nicht! Aber die Mehrheit der Männer empfand es lange nicht per se als Unrecht, dass Frauen nicht abstimmen konnten. 1966 hatte sich das offensichtlich geändert.

Was hat sich geändert?

Das Stimmrecht hatte in Basel zwar nicht als demokratisches Recht, aber als Ritual und als Zeichen der Männlichkeit an Bedeutung verloren. Das liegt auch daran, dass der Kanton im Wesentlichen eine Stadt ist. In ländlichen Kantonen hingen die Männer viel länger am Männerstimmrecht.

Was war denn so männlich am Abstimmen?

Es war in ein Ritual eingebunden. Die Männer gehen am Sonntagmorgen abstimmen, dann mit den anderen Männern an den Stammtisch und nachher steht das Mittagessen auf dem Tisch.

Es ging den Männern also in erster Linie um ihr Bier und ihren Sonntagsbraten.

So einfach ist es nicht. Aber ein richtiger Mann fühlte sich als Bürger, der seine Pflichten wahrnimmt. Frauen traute man das nicht zu. Hätten die Frauen auch abstimmen dürfen, hätte man das als Abwertung empfunden.

Wird etwas weiblich, verliert es an Wert: sehr nett.

1945 diskutierte der Nationalrat über das Frauenstimmrecht. Ein Nationalrat sagte, ich zitiere: «Wenn dann ein Mann, Ratsherr, Gemeinderat oder gar Nationalrat ist, hat bis jetzt die Frau einen gewissen Stolz gehabt. ‹Mein Mann ist etwas›. Wenn aber nun die Frau Gemeinderat würde, der Mann aber nicht, das würde den Mann geradezu erniedrigen.»

Hatten die Männer so grosse Angst davor, ein Niemand zu werden?

Nicht nur, sie argumentierten auch mit der Gefahr für die Gesellschaft. Es war klar: Frauen, die politisieren, vernachlässigen ihre Mutterpflichten. Ein Basler Abstimmungsplakat aus dem Jahr 1927 zeigt einen Stubenwagen mit einer Katze drin, das Baby liegt schreiend auf dem Boden. Auf einem anderen Plakat kommt ein Knabe mit zerrissenen Kleidern und schlechtem Zeugnis nach Hause.

Die beiden angesprochenen Plakate: schlechte Mütter, ritterliche Männer.

Die berühmte Rabenmutter. Heutzutage sind es Frauen, die anderen Frauen vorwerfen, sie würden ihre Kinder vernachlässigen.

Ist das so? Auch damals waren sich jedenfalls nicht alle Frauen einig. Der katholische Frauenbund etwa sprach sich 1929 gegen das Frauenstimmrecht aus, deshalb gründeten katholische Befürworterinnen einen eigenen Verein.

So viel zur Frauensolidarität.

Man kann nicht erwarten, dass alle Frauen einer Meinung sind. Daher war es für die Gegner leicht zu behaupten: «Ihr Frauen wollt ja gar nicht abstimmen.» In Basel führte man deshalb 1954 eine Probeabstimmung nur unter Frauen durch. 72 Prozent der Baslerinnen sagte Ja, und das bei einer Stimmbeteiligung von 60 Prozent!

Aber die Männer warteten dann trotzdem nochmals 12 Jahre, bis sie die Frauen an die Urne liessen. War der Kanton bürgerlich dominiert?

Die parteipolitischen Linken waren für das Stimmrecht, die Bürgerlichen zunächst nicht. Aber es gab auch linke Wähler, die gegen das Frauenstimmrecht waren und bürgerliche Männer, die dafür stimmten. Es hing auch von der Persönlichkeit, dem Selbstverständnis eines Mannes ab.




«Männer, die Töchter hatten, waren auch eher dafür. Bei den eigenen Ehefrauen waren sie vielleicht noch skeptisch, aber den Töchtern wollten sie das Recht gewähren.» (Bild: Alexander Preobrajenski)

Hatten selbstbewusste Männer weniger Angst vor dem Machtverlust?

Ja, das kann man vielleicht so sagen. Und Männer, die Töchter hatten, waren auch eher dafür. Bei den eigenen Ehefrauen waren sie vielleicht noch skeptisch, aber den Töchtern wollten sie das Recht gewähren.

Das Baselbiet zog im Jahr 1968 gleich. Folgte das Land der Stadt?

Ja, das ist sicher ein wichtiger Grund. Sie sahen, dass die Welt trotz Frauenstimmrecht nicht untergeht.

Und 1971 kam das nationale Frauenstimmrecht. Es hatte zwar ein Jahrhundert gebraucht, aber dann waren immerhin 66 Prozent der Schweizer dafür.

Aber kennen Sie den Grund für die erneute Abstimmung?

Ehrlich gesagt, nein.

Die Schweiz wollte damals der UNO-Menschenrechtskonvention unter Vorbehalt des Frauenstimmrechts beitreten. Da gingen die Frauen auf die Barrikaden und kämpften für eine neue Abstimmung.

Und auf Gemeinde- und Kantonsebene verweigerten sich die Männer weiterhin.

Ja, in Graubünden oder im Aargau gab es zahlreiche Gemeinden, die den Frauen das Stimmrecht noch jahrelang vorenthielten. Und den Kanton Appenzell Innerrhoden musste man 1991 bekanntlich per Bundesgericht dazu zwingen, das kantonale Stimmrecht zu gewähren.

Also waren auch die direkte Demokratie und der Föderalismus schuld daran, dass die Schweiz so spät dran war.

Nicht nur. Die direkte Demokratie war auch ein Mittel der Gegner, um das Frauenstimmrecht hinauszuzögern. In der Bundesverfassung steht: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetz gleich.» Nationalrat Peter von Roten fand schon in den 50er-Jahren, dass die Frauen mitgemeint seien und man deshalb das Frauenstimmrecht auf Gesetzesstufe einführen könne – ohne zwingend das Volk zu befragen. Doch die Mehrheit des Nationalrates bestand darauf, dass es dafür eine Verfassungsänderung braucht.

Und heute streiten wir über Vaterschaftsurlaub, gleichen Lohn und Frauenquoten in Chefetagen.

Ja, die Wirtschaft ist bis heute am resistentesten, wenn es um gleiche Rechte für Frau und Mann geht. Wer nicht Vollzeit arbeitet, gilt als schlechte Arbeitskraft.

Aber jetzt komme ich auch mit dieser leidigen Frage: Wollen Frauen Vollzeit arbeiten und Chefin sein? Wollen sie nicht lieber ihre Kinder aufwachsen sehen?

Frauen fühlen sich wohl immer noch stärker verantwortlich für Kinder, das hat ja auch etwas Schönes. Für Männer ist der Beruf heute immer noch wichtiger. Aber es gibt immer mehr Männer, die ihren Kindern ebenfalls nahe sein wollen. Man gleicht sich an.




«Es ist kein Zufall, dass das Parlament Vaterschaftsurlaub und Lohnkontrollen abgelehnt hat. Das ist ein Grund, wachsam zu bleiben.» (Bild: Alexander Preobrajenski)

Dann haben wir am Schluss eine Gesellschaft aus Teilzeitlern?

Das wäre sinnvoll – wenn alle weniger arbeiten, gibt es mehr Arbeit für alle. Aber ich glaube, es gibt auch in 20, 30 Jahren immer noch Männer und Frauen, die lieber Karriere machen. Die Trennlinie zwischen denen, die Karriere wollen und denen, die das nicht wollen, wird vielleicht schärfer und sie verläuft dann nicht unbedingt entlang der Geschlechtergrenze.

Dann ist die Gleichstellung wirklich bald erreicht?

Nicht wenn wir es einfach laufen lassen. Denn immer wenn die Wirtschaftssituation sich verschlechtert, formiert sich Widerstand gegen die Gleichstellungspostulate. Es ist kein Zufall, dass das Parlament Vaterschaftsurlaub und Lohnkontrollen abgelehnt hat. Das ist ein Grund, wachsam zu bleiben.

Die wichtigsten Schritte zum Frauenstimmrecht

1872/74:Schweizerinnen fordern Frauenrechte im Rahmen der Verfassungsrevision.
1919: Deutschland führt das Frauenstimmrecht ein.
1919/20: Frauen reichen Petitionen beim Bundesrat ein, erste Vorstösse werden im Nationalrat überwiesen, verschwinden aber in der Schublade. Erste Kantone stimmen über das Frauenstimmrecht ab und lehnen es mit grosser Mehrheit ab.
1959: Erste nationale Abstimmung über das Frauenstimmrecht (33% Ja, 66% Nein).
1959: Waadt nimmt als erster Kanton das Frauenstimmrecht an, es folgen Neuenburg und Genf.
1966: Basel-Stadt nimmt das Frauenstimmrecht an.
1968: Baselland nimmt das Frauenstimmrecht an.
1971: Die Schweiz nimmt das nationale Frauenstimmrecht an.
1981: Die Gleichstellung von Frau und Mann wird in der Bundesverfassung verankert.
1990: Frauen in Appenzell Innerrhoden reichen Beschwerde ein, weil sie nicht abstimmen dürfen, und erhalten vor Bundesgericht recht.

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