15 Jahre lang bewegte sich der Basler Anton Kohler als schwuler Familienvater in zwei getrennten Welten. Dann befreite er sich. Eine Geschichte aus dem Darkroom.
In der Schweinebucht stehen drei Typen, darunter der kahlrasierte Franzose in der Securite-Uniform. Uringeruch klebt an den Kacheln. Er scannt die beiden anderen im Raum, die um die Badewanne stehen und warten, dass einer auf dasselbe Lust hat wie sie. Sie schauen den Franzosen an, prüfen seinen Blick und damit sein Interesse. Er dreht ab, geht raus. Blicke sind die einzige Verbindlichkeit im Darkroom des «Rage».
Um Sex pur gehe es im Darkroom, hat Anton Kohler gesagt. «Um das Testosteron und um den Kick». Das war, als wir gegen Mitternacht das «Rage» im Zürcher Vorort Schlieren betreten haben. Kohler steckte in einer Lederkluft, er sagte, er finde schon seinen Spass, und wenn nicht, sei das halt Pech. Dann war er weg, vom Darkroom aufgesaugt.
Wie ihn das Leben dort hingeführt hat, das ist seine Erzählung. Kohler ist 59 Jahre alt, hat eine Ex-Frau und zwei Söhne. Er war scheu und unauffällig, ging überall so durch. Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren.
«Bürgerliche Fassade»
Kohler wohnt im Basler Gundeli, arbeitet in Bern beim Bund im Kommunikationsbereich, zuvor war er lange Jahre als Journalist tätig. «Aber das ist irgendwo nur bürgerliche Fassade», sagt er.
Die verschlossene Welt des Darkrooms ist ihm näher, dieses Labyrinth aus Käfigen, Lederschaukeln und Gynäkologiestühlen, wo man sich in muffigen Kämmerchen, lichtscheuen Ecken und Nischen verliert. Ein Spielhaus, wo alles passiert, was Sex sein kann. Es riecht schon danach, nach Körper, nach qualligem Leder – und nach Poppers, jener lösungsmittelähnlichen Droge, die viele bei sich haben, weil sie, im richtigen Moment eingeatmet, die Gefässe weiten lässt.
Nacht der harten Jungs
Das «Rage» ist einer Fabrik nachgebaut, viel schweres Metall, wo Stahl sich biegt. Einer der aufregendsten Schwulenclubs in Europa, hat Kohler gesagt. Im Sector C, dem Obergeschoss, ist die Nacht der harten Jungs. Full Fetisch. Ohne vorgeschriebene Kleidung kommt keiner rein.
Im Barbereich steht ein stämmiges Männlein, die kurzen Beine hat er in hohe Reitstiefel versenkt, die Brust in Hosenträger eingespannt. Im rötlichen Gesicht ein strenger, weisser Kaiser-Wilhelm-Schnauz, ein dicker Ring geht durch die Nase. Vom vielen Testosteron muss er alle Haare verloren haben, kahl auf der Platte ist er jedenfalls. Vor ihm kauert sein Partner, der Kaiser drückt ihn sich an die offene Hose.
Das Spiel im «Rage»: Macht ausüben und dominiert werden. Einer gibt, einer nimmt. Lust und Freiheit, ans Andreaskreuz gefesselt zu sein und sich herzugeben.
Heirat nach Schwangeschaft
Anton Kohlers Entfesselung liegt gut zehn Jahre zurück. Um die Jahrtausendwende liess er sich scheiden und zog aus dem Haus der Familie aus. Zwanzig Jahre war er mit seiner Frau zusammen, sie ist die einzige Frau, mit der er je geschlafen hat. Kennengelernt hatten sie sich an der Universität, Kohler studierte in Basel deutsche Geschichte und Philosophie. Sie wurden ein Paar, sie bald schwanger, also heirateten sie.
«Wenn ich zurückblicke», erzählt Kohler, «ist klar, dass ich da schon schwul war, es eigentlich immer war.» Er konnte sich das nicht vorstellen, wollte es auch nicht. Es passte nicht in sein Wertesystem, das vorsah, dass er irgendwann die richtige Frau findet, die grosse Liebe für den Rest seines Lebens.
Erotischer Kitzel
Kohler wuchs in Muttenz auf, in einem Milieu, das er kleinbürgerlich nennt. Erwachsen wurde er in einem katholischen Internat in der Westschweiz. Schon früh fühlte er sich von Männern angezogen. Kohler erinnert sich: «Mit 14 oder 15 sah ich in einem Reiseprospekt einen Fischer mit nacktem Oberkörper, der aus dem Wasser steigt, die Badehose eng um die Hüfte, alles abzeichnend.» Ein erotischer Kitzel durchfuhr ihn, er schnitt das Bild aus, klebte es sich ins Tagebuch – und dachte sich nichts dabei.
«Es war faszinierend und abstossend zugleich.»
Das nächste prägende Erlebnis hatte er in der Toilette des Badischen Bahnhofs, einem der Treffpunkte für Schwule in Basel in den 1970er- und 1980er-Jahren. Kohler, vielleicht 18-jährig, traf auf Männer, die sich gegenseitig beim Masturbieren zusahen. «Es war faszinierend und abstossend zugleich.» Immer wieder suchte er die Toiletten auf.
Dann, nachdem er die Szene hundertfach ausgemalt hatte, folgte er einem nach Hause, es war ein dicklicher Deutscher, der in Lörrach wohnte. «Ich fand den nicht mal toll, doch prickelnd war es», erzählt Kohler. Sie küssten sich, berührten sich, masturbierten. «Das war ein Durchbruch, ich fand heraus, dass es mit Männern viel schöner ist.»
Parallelwelten
Schritt für Schritt baute er sich eine zweite Welt auf. «Dabei hatte ich nie das Gefühl, meine Frau zu betrügen, es gab einfach diesen Bereich, der nur mir gehörte.» Behutsam tastete er sich hinein. Seine Frau verliess er nicht, auch wenn er längst wusste, dass er woanders hingehörte.
Schritt für Schritt baute er sich eine zweite Welt auf.
Die Kontakte mit anderen Schwulen waren einzelne, oft zufällige. Kohler scheute sich vor mehr: «Ich hatte den Mut nicht. Es ist einfacher, wenn du nichts erklären musst, auch gegen aussen nicht.»
Er wusste von seiner Arbeit für die UNO im Kongo und Sudan, wo er nach seiner journalistischen Karriere tätig war, dass es unabdingbar, die Aussenwelt, damals jene voller Elend vor der Türe des UN-Compounds, von sich fernzuhalten. Er lernte: «Bringe die zwei Welten ja nicht in Verbindung, das hältst du nicht aus, da verjagt es dich.»
Sie weiss von nichts
Kohler zog auch in seinem Leben eine Mauer hoch, weil es müheloser war, als alles abzureissen und neu aufzubauen. Seiner Frau erzählte er nie, dass er schwul ist. Bis heute nicht. Kohler glaubt aber, dass sie es gewusst haben muss, sie sei eine kluge Frau. Sie trennten sich schliesslich, weil es auf anderen Ebenen zerfallen war.
Mit der Trennung fiel auch die Mauer. Den letzten Ziegelstein entfernt er erst jetzt, indem er seine Geschichte erzählt. Er tut das als Botschafter der Aufklärungskampagne «Break the Chains», Durchbrich die Kette, die propagiert, im Monat April nur geschützten Sex zu haben. So sollen HIV-Infektionen zurückgehen. Die Idee dahinter: Wenn in einem einzigen Monat Neuansteckungen verhindert werden, senkt das die Gefahr auch für jene, die ungeschützten Sex haben, langfristig, weil die Anzahl der Viren in der Bevölkerung zurückgehen. Die Aktion wird international aufmerksam verfolgt.
«Ich bin das grösste Risiko.»
Kohler weiss, wovon er spricht, wenn er andere ermuntert, vorsichtig zu sein. Weil ihm der Gebrauch des Kondoms selber schwerfällt, aber er es zumindest einen Monat lang durchziehen will. Kürzlich hat er versucht, die Zahl seiner Sexualpartner durchzuzählen, er kam auf weit mehr als er sich eingestanden hatte, weit mehr. Im Internet fand er beliebig viele Kontakte, später ging er in Clubs, wie das «Rage». Heute hat er regelmässig andere Männer bei sich, oft ohne Kondom. Kohler räumt ein: «Ich bin das grösste Risiko.»
Sex sei eine Vereinbarung zwischen zwei Männern, die wissen, was sie tun. Es sind rationalistische Aussagen, die nicht einfach nachzuvollziehen sind. Der frühere Journalist Kohler ist sich dessen bewusst, er weiss, wie seine Worte wirken, dass sie befremden können.
Er sagt: «Erwische ich das Virus, nehme ich Medikamente.» Die Therapien seien mittlerweile so gut, dass die Lebensqualität nicht sinke. Andere würden rauchen, sagt Kohler, er tauche, fahre Motorrad, schlafe mit Männern ohne Kondom. «Das Risiko ist immer mit dabei, aber es ist eingrenzbar.» So wie Kohler denken viele Schwule seiner Generation.
Keine Angst vor Aids
Es sind Männer in seinem Alter, die ins «Rage» an die Fetisch-Nacht gehen. Sie wollen sich von der Bedrohung der Krankheit nicht mehr einschränken lassen, nachdem sie alle Schranken losgeworden sind – vielleicht ist das der tieferliegende Grund, weshalb sie Risiken eingehen.
Im Darkroom ist jetzt Betrieb. Kohler ist in den Windungen des Labyrinths verschwunden. Irgendwo unterbricht ein Gefängnisgitter die Seitenwand. Dahinter sind zwei ältere, bauchige Männer mit sich selber beschäftigt, der eine sitzt gespreizt im Gynäkologiestuhl, der andere hantiert an ihm herum.
Dann taucht Anton Kohler wieder auf. Ein Abend als Episode seiner Entfesselung, er sagt: «Bereue, was du nicht getan hast.»
Dahinter steckt die Erkenntnis, dass die meisten Ansteckungen durch Männer geschehen, die ihren eigenen HIV-Status nicht kennen und kurze Zeit nach der Ansteckung, während der so genannten Primoinfektion, das Virus weitergeben. Dann ist die Virenlast um ein Vielfaches höher.
Wenn sich einen Monat lang niemand ansteckt, kann die Kette der HIV-Übertragungen unterbrochen werden.