«Die Kameras richten sich zwar auf die Flüchtlinge, aber bei allem geht es im Grunde um uns Europäer»

Man kennt den Schauspieler Thomas Sarbacher unter anderem aus «Tatort»-Auftritten. Dass er ein engagierter Humanist ist, kann man heute Abend im Literaturhaus Basel feststellen: Er lanciert eine Lesereihe mit Literatur aus Fluchtländern. Warum, das sagt er im Interview.

«Man muss auch mit Pegida-Anhängern reden können»: Thomas Sarbacher sucht den Dialog – über die Literatur.

Man kennt den Schauspieler Thomas Sarbacher unter anderem aus «Tatort»-Auftritten. Dass er ein engagierter Humanist ist, kann man am heutigen Mittwochabend im Literaturhaus Basel feststellen: Er lanciert eine Lesereihe mit Literatur aus Fluchtländern. Warum, das sagt er im Interview.

Wer sein Gesicht gesehen hat, vergisst es nicht. Und gesehen haben es viele. Thomas Sarbacher, geboren 1961 in Hamburg, seit Jahren wohnhaft in Zürich, zeigte seine markanten Züge häufig in Fernsehkrimis, früher im Privatfernsehen, seit Längerem beim «Tatort» – aber auch seine Stimme bleibt in Erinnerung. Seit zwei Jahren liest Thomas Sarbacher regelmässig öffentlich vor, im Theater Winkelwiese in Zürich und im Literaturhaus Basel, zuletzt Klassiker der Weltliteratur. Flauberts «Madame Bovary», Dickens‘ «Great Expectations», Melvilles «Moby Dick». 

Vorlesen wird Sarbacher weiterhin, aber der Fokus hat sich verändert. Anstelle des grossen Kanons schaut er ab kommendem Mittwoch einmal pro Monat in die Literatur jener Länder, die sonst nur als Fluchtorte und Krisenherde in den Medien auftauchen: Nigeria und Sudan, Syrien und Ägypten.

Anstoss bot Sarbacher die amorphe Berichterstattung über die Flüchtlinge aus den südlichen und östlichen Mittelmeerstaaten seit Sommer 2014. Zunehmend als Strom, als Masse, als Welle vorgestellt, fallen die Einzelschicksale jener, die ihr bisheriges Leben hinter sich liessen, unter den Tisch. Um diese Geschichten geht es Sarbacher: nicht um eine neue Flüchtlingsliteratur, sondern um eine Vergegenwärtigung jenes Alltags, der für Hunderttausende von Menschen verloren ist. Die Reihe beginnt mit «Frühling in der Asche» des syrischen Autors Sakarija Tamer (1987 im Basler Lenos Verlag auf Deutsch erschienen) und wird monatlich fortgesetzt.

Herr Sarbacher, Syrien versinkt seit Jahren in einem Bürgerkrieg, ebenso lange fliehen Menschen aus dem Land. Warum beginnt Ihre Lesereihe gerade jetzt?

Im Sommer 2015 las ich anlässlich des Jubiläums des Basler Lenos Verlags, der bekanntlich über ein grosses Angebot arabischer Literatur verfügt – just zu jener Zeit, als die Bewegung der Flüchtlinge aus Syrien diese immensen Ausmasse annahm. Je öfter das Thema in den Medien auftauchte, desto unheimlicher wurde mir die Berichterstattung. So entstand der Gedanke, Geschichten aus den Ländern zu erzählen, wo diese Menschen herkommen und wo Zustände herrschen, die sie zur Flucht zwingen. 

Das Unheimliche der Berichterstattung – was meinen Sie damit?

Je länger je mehr war von den «Flüchtlingsströmen» die Rede, es ging meistens um Zahlen, nicht um die Menschen und ihre Schicksale. Die Fernsehkameras richten sich zwar auf die Flüchtlinge, aber bei allem geht es im Grunde um uns Europäer. Ob man nun die Willkommenskultur thematisiert oder die Ängste, schliesslich der Umschlag in Aggression – wir Europäer sind das Thema, die Flüchtlinge erscheinen als anonyme Masse. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach Geschichten gemacht, die nicht von Flucht handeln, sondern vom alltäglichen Leben, das meinetwegen auch in einem Teehaus spielen kann, und von den Hoffnungen und Träumen dieser Menschen – und davon, was sie alles zurücklassen mussten.

«Je länger je mehr war von den ‹Flüchtlingsströmen› die Rede, es ging meistens um Zahlen, nicht um die Menschen und ihre Schicksale.»

Das heisst, Sie stellen bewusst keine Literatur vor, die von Krisen und dem Drama der Flucht handelt. Deswegen auch der Start mit Sakarija Tamer, dessen Ruhm als Autor in den 1960ern begründet ist und der seit Jahrzehnten nicht mehr in Syrien lebt?

Ja. Aber völlig trennen lässt sich das nicht, und ich gehe davon aus, dass die Flucht irgendwann auch zum Thema wird. Tamers Geschichten sind zwar teilweise mehrere Jahrzehnte alt, aber auch sie handeln von einem Leben, das von Gewalt und Willkür durchdrungen ist. Trotz der expressionistischen Übersteigerung seiner Literatur ist ein Gefühl für das Leiden im Alltag vorhanden. Dem zugrunde liegt eine gängige, uns bekannte Sehnsucht nach einem normalen Leben und der Befreiung aus Armut. Damit lässt sich zumindest ansatzweise begreifen, was für ein Leben dort stattgefunden hat. 

Andere Fluchtländer wie der Irak oder Afghanistan sind vorläufig nicht auf dem Programm. Ist der Grund dafür, dass dort Krise, Krieg und Flucht seit Jahrzehnten Dauerzustand ist und Sie kaum auf Literatur gestossen sind, die vom verlorenen Alltag handelt? 

Das hat sich so ergeben. Ich unterschätzte am Anfang, dass eine Lesereihe über arabische Literatur ein uferloses Unterfangen ist. Dafür musste ich zuerst recherchieren – also lesen, lesen, lesen, das hört nicht auf, die Bücher stapeln sich weiterhin. Im Katalog der Verlage Lenos und Union stiess ich zuerst auf die Klassiker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, was mir anthologisch eine grosse Hilfe war. Zusätzlich hat mir der Journalist Ruedi Küng, der sich seit Jahrzehnten mit afrikanischer Literatur beschäftigt, wertvolle Unterstützung geliefert. Dadurch bin ich den Erzählungen begegnet, die ich instinktiv finden wollte. Lebens- und Alltagsgeschichten. 

Nach Syrien lesen Sie Literatur aus Nigeria, Sudan, Ägypten vor. Wie kam die Auswahl zustande?

Die Geschichten von Tajjib Salich aus dem Sudan erzählen zum Beispiel vom Leben am Nil, wie sich das in dörflichen Zusammenhängen abgespielt hat. Das gab mir ein Gefühl für die lokale Kultur, wie sie heute noch zu finden ist. Die Texte von Chimamanda Ngozi Adichie und Phebean Itayemi aus Nigeria haben einen anderen Zugang, und zwar über Einzelschicksale zweier Frauen aus verschiedenen Epochen: Einerseits handeln sie von einer jungen Frau, die als Kind zur Heirat versprochen wird und sich der Ehe verweigert, und andererseits von einer selbstbestimmten, modernen christlichen Frau mit akademischem Hintergrund, die in einen Aufstand gerät und sich mit einer Muslimin versteckt. In dieser Situation verändert sich ihre Wahrnehmung und damit auch ihr Denken. 

Was auffällt: Eritrea, ein Land mit einer hohen Zahl an Flüchtlingen, fehlt bisher in Ihrem Programm. Warum? 

Das ist auch ein Problem: die Verfügbarkeit von Literatur. Während man beispielsweise aus einer Unmenge ausgezeichneter ägyptischer Literatur auswählen kann, ist aus Eritrea wenig bekannt, das übersetzt ist – und gleichzeitig auch als spannend erzählbare Literatur taugt. 

«Während man beispielsweise aus einer Unmenge ausgezeichneter ägyptischer Literatur auswählen kann, ist aus Eritrea wenig bekannt, das übersetzt ist.» 

Ihr Heimatland Deutschland hat durch die NS-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg eine bedeutsame Flüchtlingsliteratur hervorgebracht. Stossen Sie in Ihren Recherchen darauf, dass auf die Krisen und Zäsuren in Nahost ähnliche literarische Reflexionen folgen?

So weit ich das beurteilen kann, gibt es in diesen Ländern sehr viele Autorinnen und Autoren, die die aktuellen Geschehnisse in ihren Arbeiten behandeln. Aber ich glaube, es muss Zeit vergehen, bis eine Literatur entstehen kann, die über die Aktualität hinausgeht. Auch in Deutschland brauchte es dazu den zeitlichen Abstand. Aber in der deutschen Flüchtlingsliteratur kann man nachlesen, wie wichtig das Schreiben für die Bewältigung und Aufarbeitung war. Mir fällt ein jüdischer Autor ein, der aus Deutschland geflohen war und dem es nicht möglich war, über den Nationalsozialismus und seine Flucht zu schreiben. Stattdessen schrieb er über seine Herkunft, über sein Leben, wie es vorher war. Nach so etwas suchte ich für die ersten Abende der Lesereihe.  

Sie haben erwähnt, wie der Diskurs über Flüchtlinge in ihrer Heimat Deutschland von einer vorsätzlichen Willkommenskultur in Ablehnung und Aggression umgeschlagen ist. Sie lesen und leben nun in der Schweiz – was ist Ihr Eindruck der hiesigen Flüchtlingsdebatte?

Ich kann sagen, dass mich das jüngste Abstimmungsresultat zur Durchsetzungsinitiative sehr gefreut hat. Ich habe den Eindruck, die Menschen sind im Vergleich zu früheren Abstimmungen zu Ausländerfragen nun aufgewacht und realisieren, dass man mehr gegen die Radikalisierung tun muss – und zwar mittels Debatten. In Deutschland, wo Ausländerfeinde wie die Pegida-Anhänger noch radikaler auftreten, ist das ein Problem: Man möchte mit ihnen nichts zu tun haben. Aber genau mit diesen Menschen muss man reden können, um ihren Diskursen nicht das Feld zu überlassen. In den Medien findet eine überbrückende Kommunikation nur verkürzt statt, aber auf gesellschaftlicher Ebene ändert sich das, glaube ich. Kräfte, die in ihrem Denken humanistische Überzeugungen bewahrt haben, gewinnen an Präsenz.

«Das jüngste Abstimmungsresultat zur Durchsetzungsinitiative hat mich sehr gefreut.»

Kann die Literatur in dieser Kommunikation mitreden? 

Das glaube ich – im Kleinen. 

Sie hoffen, an Ihren Lesungen nicht nur zu einem Publikum reden zu können, das Ihre Ansichten bereits teilt? 

Man ist immer etwas unter sich, das stimmt. Aber kleine Schritte geschehen: In Zürich fanden im Winter Benefiz-Leseabende für syrische Flüchtlinge statt, deren Einnahmen an ein Hilfswerk gingen. Natürlich tauchen vorwiegend die eigenen Leute auf, aber auch da erlebt man aufgerüttelte Reaktionen. Eine Besucherin klagte, wenn das so weitergehe mit den Lesungen zu Syrien, werde sie noch depressiv. Das zeigt, dass die Menschen berührt werden können. 
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«Übers weisse Meer, Syrien»: Sakarija Tamer, Lesung mit Thomas Sarbacher,
Mittwoch, 9. März, 19 Uhr. Literaturhaus Basel, Barfüssergasse 3, Basel.

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