Die kleine Erfolgsgeschichte eines Hashtags

Am Anfang steht eine Notlösung. Und wie so oft im Leben entwickelt sich ein Provisorium zur dauerhaften Einrichtung. Mit «rotblaulive», dem Twitter-Hashtag für die Berichterstattung der TagesWoche über den FC Basel verhält es sich nicht anders.

Der Twitter-Hashtag #rotblaulive: In der Redaktion der TagesWoche 2011 für die Berichterstattung über den FC Basel ersonnnen und etabliert.

(Bild: Nils Fisch/Grafik)

Am Anfang steht eine Notlösung. Und wie so oft im Leben entwickelt sich ein Provisorium zur dauerhaften Einrichtung. Mit «rotblaulive», dem Twitter-Hashtag für die Berichterstattung der TagesWoche über den FC Basel verhält es sich nicht anders.

Ende Oktober 2011 steht die TagesWoche in den Startlöchern und eine Redaktion scharrt mit den Hufen. Die Sportabteilung ist noch gar nicht offiziell besetzt. Die Kündigungsfristen. Einer aber drängt. «Wir brauchen einen Hashtag», sagt David Bauer, und was damit gemeint ist, weiss der Kollege, den man schlicht und hochachtungsvoll den Onlinestrategen nennt, natürlich genau. Die beiden designierten Sportredaktoren jedoch haben von Tuten und Blasen wenig bis keine Ahnung. Zwar von Twitter schon gehört, aber noch nicht so richtig begriffen, was der in den Untiefen des Internets bewanderte Kollege genau will.

Dieser Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe der TagesWoche: Alles zu unserem 5. Geburtstag in der Übersicht.

Die Gefechtslage ist diese: Natürlich wird auch bei der TagesWoche der FC Basel als Königsthema der Sportabteilung definiert. Das ist auch nicht schwer. Über den FCB zu schreiben, das haben die beiden Kollegen jahrelang eingeübt am Aeschenplatz und auf vielen Tribünen dieser Fussballwelt. Jetzt kommt als neue Herausforderung das Netz dazu. Wie also, so die Frage, wollen wir bei den Spielen des FCB nebst gepflegter Vor- und Nachbetrachtung aktuell nicht nur dabei sein sondern mittendrin?

Die Interaktion mit FCB-Fans als Mehrwert

David Bauer

Darf als Vater von #rotblaulive gelten: David Bauer, inzwischen in leitender Stellung bei der NZZ.

Einen klassischen Ticker von Fussballspielen, wie er auf diversen Plattformen betrieben wird und auch eingekauft werden kann, gibt es (noch) nicht. Will man auch nicht unbedingt. Aber etwas in ähnlicher Form und das am besten interaktiv. Was liegt also näher, schlägt David Bauer vor, als über Tweets und eine in die TagesWoche eingebettete sogenannte Timeline die Spiele des FCB zu begleiten und dabei mit den Nutzern eines Hashtags im besten Fall zu interagieren.

Tolle Idee finden die Kollegen, aber wie nennen wird das Kind? Alles, was mit FCB zu tun hatte, ist im Internet begrifflich längst belegt. Von den anderen FCBs dieser Fussballwelt, vom FC Barcelona und vom FC Bayern München. Deshalb gebührt David Bauer der Titel des Vaters von #rotblaulive.

26. Oktober 2011, 12:52 Uhr: Die Geburtsstunde

Und so erblickt, vom @tageswoche-Account gezwitschert, am 26. Oktober 2011 um 12:52 Uhr der erste Tweet unter #rotblaulive die digitale Welt:

Weil es die erste Reaktion auf diese Ankündigung ist und weil sie uns gleichzeitig schmeichelt, sei Twitter-Nutzerin Jacqueline L. mit ihrem Tweet um 16:28 Uhr am gleichen Tag zitiert:

«Dann haben wir es einfach gemacht», erinnert sich Florian Raz. Während sein Kollege Christoph Kieslich die Sache als ziemlich exotisch erachtet, was bei aller Offenheit für technischen Fortschritt wohl eine Generationenfrage ist, stürzt sich @razinger in den, wie es so schön heisst, «Mikrobloggingdienst», der seinerzeit gerade die Marke von 200 Millionen Nutzern weltweit überschritten hat.

Acht Tweets vom ersten Spiel in Sion

Radio Basilisk mit Redaktor Benjamin Bruni schliesst umgehend sich der Bewegung sogleich an:

Und vom Auswärtspiel in Sion am 26. Oktober 2011 kann man immerhin acht Tweets unter #rotblaulive zurückverfolgen. Nach dem 1:0-Sieg des FCB schreibt Cedric Meury:

Heiko Vogel – wer sich erinnern mag: seinerzeit Interims-Chefcoach beim FCB.

«Toooor! Shaqiri. Waunderbar»

Seinen ersten Tweet unter #rotblaulive setzt Raz vom Spiel FC Basel–Grasshoppers am 29.10.2011 ab. Um 19:55 Uhr schreibt er: «Toooor!! Freistoss Shaqiri mit links von ihm aus gesehen rechts oben ins Tor. Wunderbar.» Um 21:18 meldet @razinger in typischer Manier:

Die Partie mit 4:1 für den FCB, und in der Timeline lässt sich ordentlich Betrieb unter #rotblaulive nachvollziehen.

Originell, lustig und manchmal doof

Auch wenn @razinger von seiner frühzeitlichen Mühsal berichtet, also aus erdgeschichtlichen Epochen, «als Handys noch keine zwei Quadratmeter grosse Tastaturen hatten» – rasch erfreut sich #rotblaulive einer kleinen, feinen Fangemeinde. Gespeist wird der Hashtag von vielen originellen, manchmal lustigen und natürlich auch doofen Tweets. Und stets befeuert von der klugen Schlagfertigkeit des Kollegen @razinger. Da werden auf hohem Niveau nicht nur Taktik und Tabellenstand verhandelt, sondern auch Frisuren und andere Nebensächlichkeiten.



Der eine muss sich aufs Spiel konzentrieren, der andere spammt Twitter zu: Christoph Kieslich (l.) und Florian Raz.

Der eine muss sich aufs Spiel konzentrieren, der andere spammt Twitter zu: Die TaWo-Redaktoren Christoph Kieslich (l.) und Florian Raz, der inzwischen beim Tagesanzeiger arbeitet.

Der schöne Nebeneffekt: Andere Medien übernehmen den in der TagesWoche-Redaktionsstube geschaffenen Hashtag. Und genau dafür hat David Bauer #rotblaulive gedacht: ein Kanal, um vor, während und nach den Spielen seine Freude oder seinen Frust über den FC Basel zu teilen – oder handfeste Informationen zu bieten. Nebst Toren und Resultaten ist das beim Fussball vor allem die Verbreitung von tagelang geheimnisumwitterten Startaufstellungen.

Die Champions League elektrisiert die Twitter-Gemeinde

Quasi den Durchbruch schafft #rotblaulive in einer der elektrisierenden Champions-League-Nächte. Kaum installiert, erlebt der Hashtag beim 2:1 des FC Basel gegen Manchester United am 7. Dezember 2011 eine Frequenz, die alle überrascht – nur den Erfinder David Bauer nicht. Die Stadt und die FCB-Fans, die ganze Fussball-Schweiz und alle, die sich für Manchester United interessieren nehmen Anteil am sensationellen Rauswurf der Engländer und dem Einzug des #FCBasel in die Achtelfinals.

Unvergessen ist Heiko Vogels Kommentar zur spektakulären Rettungsaktion seines Verteidigers Markus Steinhöfer, der die Lattenunterkante des eigenen Tores trifft: «An einem guten Tag macht er den rein», sagt der FCB-Trainer dazu. Ein Satz, der auch unter #rotblaulive Karriere macht:

Der Twitter-Anchorman der TagesWoche in Sachen FCB ist @razinger, der die Fähigkeit besitzt, mehrere Tätigkeiten zur gleichen Zeit auszuüben, also Fussball zu schauen (und dafür bezahlt zu werden) und gleichzeitig Tweets zu schreiben, zu lesen und zu retweeten. Währenddessen Kollege @cokiesel jeweils noch an der korrekten Interpunktion, Gross- und Kleinschreibung eines Tweets studiert, brummt es in der Timeline.

Der grösste anzunehmende Twitter-Unfall

Die Schaffenskraft von @razinger führt am 11. April 2013 zum GATU – dem grössten anzunehmenden Twitter-Unfall. Es ist wieder Europacup, und einer der dramatischsten Europacup-Abende in der Geschichte des FCB nähert sich seinem Kulminationspunkt. Zu Beginn der Verlängerung zwischen dem FCB und Tottenham Hotspur meldet die Twitter Inc. mit Hauptsitz in San Francisco: «Ihr Account ist momentan gesperrt.»

Fünf Jahre FC Basel in Bilder: Auch das kann man unter #rotblaulive nachvollziehen.

Fünf Jahre FC Basel in Bilder: Auch das kann man unter #rotblaulive nachvollziehen.

Was ist passiert? Im Stakkato eines atemlosen Spiels hatte @razinger offenbar die Algorithmen überfordert. Weil Twitter einen Spamer vermutet, wird sein Account vorübergehend gesperrt. Es fühlt sich an wie eine völlig übertriebene Rote Karte des Schiedsrichters unten auf dem Platz.

Weil @cokiesel wie immer leicht überfordert ist, ein Spiel anzuschauen, das anschliessend journalistisch analysiert sein will, und gleichzeitig zu twittern, ist es der Anwesenheit des Kollegen @Renato_Beck zu verdanken, dass der Ticker via #rotblaulive weitergeht. Erst heisst es um 23:08 Uhr:

Der Abend gipfelt im ersten Elfmeterschiessen überhaupt für den FC Basel in einem internationalen-Spiel. Als Marcelo Diaz zum 4:1 verwandelt, steht der FCB erstmals in einem Europacup-Halbfinal und um 23:45 Uhr meldet die TagesWoche aus dem Joggeli: «Ja, und jetzt ist hier was los, liebe Leute. Die Muttenzerkurve hat gegen den #FCZ kein Feuerwerk mehr, das geht alles ab.»

Ungebetene Gäste

Mit Spams müssen #rotblaulive und die Fussballgemeinde leben, sobald der Hashtag zieht und zu den sogenannten Trending Topics gehört. Dann werden die Roboterprogramme hellhörig und spammen die Timeline schon mal mit überflüssigen Angeboten und anderen Unanständigkeiten voll. Oder die Politszene in Österreich diskutiert unter #rotblaulive Koalitionen zwischen den Roten (SPÖ) und den Blauen (FPÖ).

Inzwischen ist #rotblaulive etabliert, die Onliner beim FC Basel nutzen den Hashtag hin und wieder oder auch auf Twitter aktive FCB-Profis wie beispielsweise Marc Janko:

Spitzenplatz bei den Trending Topics

Durch die Decke schiesst #rotblaulive jeweils an den grossen internationalen Abenden, vor allem bei Champions-League-Partien. Dann wird der Hashtag bei «TT mobile CH» regelmässig unter den meistgenutzten in der Schweiz geführt und klettert dann, je länger ein Spiel dauert, im Chart. Zuverlässig in die Top 10 und manchmal bis auf Platz 1:

Das war auch jüngst beim Champions-League-Spiel des FC Basel in Paris zu beobachten. In dieser Nacht verdrängt #rotblaulive irgendwann einmal #PSGFCB und rangiert hinter #debatenight auf Platz 2. Was darauf hindeutet, dass es im Leben tatsächlich wichtigere Dinge gibt als Fussball.

Von all dem kann sich die TagesWoche nichts kaufen, aber es ist schön mit anzusehen, wie sich ein Idee, die einst aus der Not geboren wurde, zur kleinen Erfolgsgeschichte entwickelt.

Nächster Artikel