Die Kunst des Gebens

Das Trinkgeldgeben ist eine perfekt unterdrückte Emotion – eine Ersatzhandlung, die immer wieder für Irritationen sorgt.

(Bild: Hans-Jörg Walter, Nils Fisch)

Das Trinkgeldgeben ist eine perfekt unterdrückte Emotion – eine Ersatzhandlung, die immer wieder für Irritationen sorgt.

Gewisse Basler sind bekannt dafür, dass sie nichts geben. Weil sie schon alles haben? Weil Geschenktes keinen Wert hat? Weil nur das selbst Erarbeitete der Zeit standhält? Weil nicht nur der Sand durch die Finger rinnt, sondern auch so manches zu schnell erworbene Vermögen?

Als wir eines Tages den alten Rollschrank eines verstorbenen Onkels aus bester Basler Familie von seinem Haus ins Auto hievten, kamen zufällig zwei fremdländisch aussehende Männer vorbei. Wir konnten gerade noch verhindern, dass unsere Tante sie aufforderte, uns behilflich zu sein. Ausländer sollten dankbar sein, hier leben zu dürfen, sagte sie immer, dafür könnten sie ruhig auch ein bisschen arbeiten.

Hätten die beiden Hand angelegt, wäre das der Augenblick gewesen, ein Trinkgeld zu geben. Unwahrscheinlich, dass meine Tante dazu bereit gewesen wäre. Ihr dürfte der Sinn des Trinkgelds ein ­Leben lang nicht eingeleuchtet haben.

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600 Euro seien das höchste Trinkgeld gewesen, das er je erhalten habe, erzählte mir kürzlich ein türkischer Taxifahrer in Berlin, der mich auf der Suche nach dem Steinway-Haus einmal ums Karree fuhr und dabei auf diverse Absperrungen traf; irgendein gefährdeter Politiker logierte in einem benachbarten Hotel. 600 Euro? Da habe er wohl einen reichen Geschäftsmann nach Anatolien chauffiert? Nein, gar nicht, erwiderte er; es habe sich um eine ganz normale Stadtfahrt für 17 Euro gehandelt. Ich staunte nicht schlecht. Der Mann, so erklärte er mir, sei wohl ziemlich betrunken gewesen. Das riesig bemessene Trinkgeld hatte der Taxifahrer trotzdem nicht abgelehnt.

Solches passiert eher selten und muss, wenn es ­geschieht, dem Empfänger jeweils wie ein unerwarteter Lottogewinn vorkommen. Wer weiss, vielleicht hatte der spendierfreudige Fahrgast tatsächlich einen Lottosechser gezogen an diesem Tag …

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Als wir – vier satte Gäste – vor ein paar Jahren ein Tel Aviver Restaurant verliessen, in dem wir gut gegessen hatten und von einem jungen Kellner äus­serst freundlich und umsichtig bedient worden waren, liessen wir ein bisschen Trinkgeld liegen und gingen. Kaum standen wir auf der Strasse, kam der Kellner angerannt und fragte stotternd, ob wir mit seinem Service nicht zufrieden gewesen seien. Im Gegenteil, beteuerten wir, wir waren äusserst zufrieden. Warum er das frage? Weil wir ihm nicht genug Trinkgeld gegeben hätten. Sein Chef habe ihn angewiesen, uns zur Rede zu stellen. Einzig und allein unsere völlige Unzufriedenheit mit seiner Leistung hätte die Verweigerung eines angemessenen Trinkgelds gerechtfertigt.

Wie in den USA leben die Kellner in Israel von dem, was der Gast «freiwillig» gibt, und das sind mindestens 20 Prozent der Rechnungssumme. Angesichts der Tatsache, dass es sich dabei meist um Studentinnen und Studenten handelt, die tagsüber zur Uni gehen, ist es nachvollziehbar, wie dringend sie auf dieses Trinkgeld angewiesen sind, das in Wahrheit ein Gehalt ist. Von den Ursprüngen des Trinkgelds haben wir uns hier weit entfernt.

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Über die erfahren wir einiges in J.G. Krünitz’ unverzichtbarer «Oekonomischen Encyklopädie der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft», die zwischen 1773 und 1885 in 242 Bänden erschien. Hier wird erläutert, was man im 18. Jahrhundert – und gewiss schon davor und noch lange danach – unter einem Trinkgeld verstanden hatte: ein kleines Geschenk, «welches man Dienstboten, Lehrlingen und andern zu geringen Arbeiten bestimmten Personen für eine geringe Bemühung giebt, um sich dadurch mit einem Trunke für die gehabte Bemühung zu erquicken; daher Jemanden ein Trinkgeld geben. Im gemeinen Leben auch Biergeld, im mittleren Latein Biberagium, im Italienischen Beveragio. In einigen Gegenden, z. B. in Franken, heisst das Trinkgeld, welches man einer Magd reicht, Nadelgeld. Man sagt hier: man wolle ihr etwas zu Stecknadeln geben; wenn sie dann bescheiden ist, so sperrt sie sich, und sagt: sie danke, sie finde deren so viel auf der Erde, als sie brauche. Dieses Nadelgeld ist aber von demjenigen, welches man vornehmen weiblichen Personen als eine Art Taschen- oder Spielgeld giebt, verschieden».

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Hier findet sich – bis hin zur Bescheidenheit, die man von der Almosenempfängerin erwartet – so ziemlich alles, was sich heute noch in Ansätzen ­unter dem Begriff Trinkgeld verstehen lässt. Das ­Wörterbuch der Gebrüder Grimm bringt es auf die knappere Formel: «Kleinere Geldsumme für ausser der Regel geleistete Dienstverrichtung, ursprünglich zum Vertrinken (bibale), auch Biergeld ­genannt.» «Biergeld» – auch im Französischen «pour boire» steckt diese Bestimmung und Wortbedeutung drin. Wir dürfen davon ausgehen, dass der türkische Taxifahrer in Berlin die 600 Euro Trinkgeld nicht «vertrunken» hat. Dass er es aus-serhalb seiner «geleisteten Dienstverrichtung» – der Fahrt von A nach B, für die er tarifgemäss bezahlt wurde – erhalten hat, ist ebenso zutreffend.

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In Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm «Der letzte Mann» landet der alte, von Emil Jannings ­gespielte Portier, der nicht mehr als Kofferträger taugt, weil ihm das Schleppen schwerfällt, als Wärter in der Gästetoilette, die sich im höllenschlundartigen Souterrain des Hotels befindet. Sprechender könnte ein Abstieg nicht dargestellt werden (der Film entstand 1924, fünf Jahre vor der Weltwirtschaftskrise, als die Arbeitslosigkeit in Deutschland allerdings noch relativ gering war).

Einer der Höhepunkte der von ihm durchlittenen Schmach ist die Entgegennahme eines Geldscheins, den ihm ein Kunde reicht. Solche Geldscheine hat er gewiss auch als Hotelportier eingesteckt, ohne sie als Erniedrigung zu empfinden. Im Dunstkreis der Toilette aber wird das Trinkgeld zum Almosen; es wird zum Eintrittsbillett ins Nichts, mit anderen Worten: in die Klasse der Deklassierten, die auf Knien herumrutschen, um Kloschüsseln zu reinigen.

Wenngleich der Film aufgrund von Jannings’ grotesk sentimentaler Darstellung heute nur schwer zu ertragen ist, bringt er doch – vermutlich unbeabsichtigt – auf den Punkt, wie unterschiedlich gewichtet das scheinbar gleiche «Geschenk» sein kann. Während zu ebener Erde, im Reich der Hotelhalle, das Trinkgeld vom Portier mit Stolz, vielleicht sogar etwas herablassend entgegen­genommen wird, wird es im Keller zum Kenn­zeichen seiner völligen Herabsetzung. Tiefer kann man nicht sinken.

Dass – je nachdem, in welchem Land wir uns ­befinden – eine Klofrau, seltener ein Mann, am ­Eingang zur Toilette neben einem Teller sitzt und erwartet, dass man sie für ihre schlecht bezahlte Reinigungsarbeit «über Gebühr» bezahlt, erscheint uns ebenso alltäglich wie die Tatsache, dass wir uns jeweils mit einem Trinkgeld vom Coiffeur ver­ab­schieden oder dem Postboten einen oder zwei Franken in die Hand drücken, wenn er ein schweres Paket die Treppe hinaufgeschleppt hat.

Genauso alltäglich und nicht der Rede wert scheint uns aber auch die Tatsache zu sein, dass wir selbst zu keiner Zeit ein Trinkgeld erwarten. Ich ­jedenfalls nicht. Und viele andere Leute, die ich kenne und die ganz andere Dinge tun als ich, ebenfalls nicht.

Wonach richtet sich die Aussicht auf ein Trinkgeld? Wer erhält es? Wofür? Tatsächlich für eine «geringe Bemühung», wie es noch bei Krünitz heisst? Wer erhält es nicht? Und warum? Warum die Männer von der Müllabfuhr, die einen in Paris kurz vor Neujahr frühmorgens gnadenlos aus dem Schlaf klingeln, um ihr Jahrestrinkgeld abzuholen, nicht aber die städtischen Angestellten, die den Schnee wegräumen, ohne dass wir anhalten und aus Dankbarkeit das Portemonnaie zücken? Warum der Milchmann, aber nicht ich? Warum der Klempner, aber nicht der Autor, der nach einer Lesung ­seine Bücher signiert? Warum bekomme nicht auch ich für jede Unterschrift einen Euro, zumal sie eines Tages hoffentlich mehr wert sein wird? Genügt es, eine Liste zu erstellen, um eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten? Gibt es sie überhaupt, wo ­Traditionen herrschen, die weder Gründe noch Logik brauchen, um eingehalten zu werden?

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«Wer Opel fährt, nimmt auch Trinkgeld», hiess es früher so ungerecht wie ungenau; der Volksmund pflegt bekanntlich unzimperlich zu sein, wenn es darum geht, Menschen in die Ecke zu stellen. Doch der Student, der an der Theatergarderobe (meist vergeblich) auf ein Trinkgeld hofft, fährt vermutlich ebenso wenig Opel wie die Reiseleiterin, die uns als Guide durch das Schloss von Schönbrunn führt und möglicherweise gar keinen Führerschein besitzt; das Trinkgeld, das man ihr in die Hand drückt, nachdem man sich lange genug überlegt hat, ob sie, die sich in den höheren Regionen der Kunst und Architektur zu bewegen scheint, den Batzen möglicherweise als Beleidigung auffassen könnte, steckt auch sie ein.

Sich zieren macht sich gut, zu abweisend aber sollte man sich nicht verhalten (schon gar nicht als Theatergarderobier), sonst steht man am Ende mit leeren Händen da.

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In China gibt man im Restaurant kein Trinkgeld, in Frankreich nur wenig, in Italien kaum, in Deutschland und in der Schweiz üblicherweise mindestens zehn Prozent und mehr, und dies, obwohl das ­Trinkgeld im Preis der Speisen und Getränke in­begriffen ist, wie auf jeder Speise- und Getränkekarte deutlich zu lesen ist.

Was hat der Kellner der Angestellten eines Reisebüros voraus, dass er, aber nicht sie, mit Trinkgeld rechnen kann, obwohl sie um unser Wohl nicht ­weniger besorgt ist als er? Warum drückt man dem Getränkeauslieferer Geld in die Hand, während man das Fräulein am Postschalter, das einem eine Briefmarke aufklebt, leer ausgehen lässt – wie es ­früher, als Griechenlands korrupte Finanzpraktiken noch nicht in aller Munde waren, auf griechischen Postämtern durchaus üblich war? Solange man nichts zusteckte, wurde nichts herausgerückt …

Liegt es im Fall des Kellners an der fast intimen Nähe, die wir für kurze Zeit entwickeln oder vielleicht doch am kaum bewussten schlechten Gewissen, das uns heute – anders als in früheren Zeiten – heimsucht, wenn wir von jemandem bedient werden, den wir nicht kennen (wohingegen wir uns bekanntlich von Nahestehenden sehr gern und unentgeltlich bedienen lassen)? Ist es die unbezahl­bare Aufmerksamkeit, die er uns schenkt, die wir bezahlen? Sein ungezwungenes Lächeln? Seine Hingabe? Ein Mehr, ein Überfluss an Arbeit, das im Grunde mit Geld nicht aufzuwiegen ist? Luxus, den wir uns nur leisten können, wenn wir Trinkgeld «geben»? Das Trinkgeld wäre demnach ein symbolisches Zeichen für Dankbarkeit, eine perfekt unterdrückte Gefühlsregung, ein Ersatz. So wie wir den unfreundlichen Kellner durch das Ausbleiben eines Trinkgelds «bestrafen» können, belohnen wir ihn durch ein grosszügiges, wenn er nett war.

Zumindest am Rand sollte noch eine andere, nicht zu unterschätzende aggressivere Art des Trinkgelds erwähnt werden, die zweifellos aus der harmlosen Variante hervorgegangen ist, sich aber durch bedeutend höhere Summen auszeichnet: gemeint ist das, was man ein vorsorgliches Trinkgeld nennen könnte, das den unschönen, aber zutreffenden Namen «Bestechung» trägt und vom Schmier- bis zum Schweigegeld, von der Begünstigung zur Vergünstigung alle möglichen Aufgaben erfüllt, die weit über die beschränkten Möglichkeiten eines Trinkgelds hinausgehen, das sich daneben wie ein Trostpflaster ausnimmt.

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Nach dem nächsten Haarschnitt werde ich das tun, was ich eigentlich schon seit Jahren tun wollte; ich werde meinen Coiffeur fragen, wie es eigentlich kommt, dass ich ihm – ja, selbst ihm, dem Besitzer des Salons – Trinkgeld gebe. Ich fürchte allerdings, dass auch er mir keine befriedigende Antwort wird geben können.

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Fast hätte ich es vergessen: Es gab doch eine Zeit, in der auch ich Trinkgeld erhalten habe. Es waren meist bescheidene Beträge, die ich als halbwüch­siger Apothekenausträger in Riehen erhielt. Ich stieg vom Fahrrad, klingelte, und meist öffneten mir alte Menschen, die einen Kranken im Haus hatten oder selbst krank waren.

Ob sie in mir stets den Überbringer einer heil­samen Sendung sahen, weiss ich nicht. Je nachdem erhielt ich fünfzig Rappen, einen Franken und einmal sogar fünf, daran erinnere ich mich, weil es eine Sensation war, mit der man sich damals ein ­Taschenbuch kaufen konnte. Kaum wiegte ich mich in der Hoffnung, auch in Zukunft überdurchschnittlich viel Trinkgeld zu bekommen, wurde ich wieder enttäuscht. Es gab eben keine verlässliche Regel, es gab sogar Kunden, die gar nichts herausrückten und mich schweigend und wütend abziehen liessen.

Ich selbst empfand mich abwechselnd als Störenfried und als netten Kerl, als Götterboten und Fussabstreifer; so etwa ergeht es wahrscheinlich auch heute noch den meisten Kellnern oder Fahrrad­kurieren bei der täglichen Arbeit. Auf nichts ist Verlass. Am wenigsten auf ein anständiges Trinkgeld.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.12.12

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