Die Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

Wie verliebt man sich heutzutage? Die Antwort ist leider: immer schwerer. Eine Abhandlung über die Liebe im digitalen Zeitalter.

Diese Zeiten sind vorbei: Mr. Darcy gesteht Elizabeth Bennet seine Liebe im Regen.

Wie verliebt man sich heutzutage? Die Antwort ist leider: immer schwerer. Eine Abhandlung über die Liebe im digitalen Zeitalter.

Vor ein paar Wochen stand ich vor unserem Haus und kramte in meiner Handtasche nach dem Schlüssel für mein Fahrrad. «Hey», sagte plötzlich jemand hinter mir. Ich schreckte auf und drehte mich um. «Ich hab dich schon ein paar Mal gesehen und wollte fragen, ob du vielleicht einen Kaffee mit mir trinken willst?»

Der Mann sah ganz sympathisch aus. Dunkle Haare, herziges Lachen. Ich konnte trotzdem nicht. «Ich muss leider sofort los.» Eilig schloss ich mein Schloss auf. «Gibst du mir deine Nummer, und dann ruf ich dich mal an?» Entsetzt blickte ich ihn an. «Tut mir leid, aber ich kann nicht», stammelte ich. Dann fuhr ich so schnell es ging davon.

Was war passiert? 

Man hatte auf offener Strasse Interesse an mir bekundet. Unter freiem Himmel, von Mensch zu Mensch. Es war zu viel für mich. Mit so viel Direktheit kann ich nicht umgehen. Wie viele meiner Generation bin ich ein Opfer des digitalen Zeitalters (und werde auch nicht müde, ihm für all meine verqueren Persönlichkeitsstörungen die Schuld in die Schuhe zu schieben): Du möchtest mich kennenlernen? Dafür gibt es den digitalen Raum. Facebook, Whatsapp, SMS, E-Mail, Snapchat. Klar, die Suche nach der Liebe hat immer Hochkonjunktur. Aber einen Fremden auf der Strasse ansprechen und auf einen Kaffee einladen? Da nimmt doch jeder gleich Reissaus.

Das musste auch Tom Greaves erfahren:

Der Brite fragte Frauen auf der Strasse, ob sie sein Date für den Abend sein wollten. Die Reaktionen fielen meist gleich aus: Thank you but no thank you. Schnell weg. 

Auch wenn es für die Anmacher alter Schule unter uns eine traurige Botschaft sein mag: Social-Media-Kanäle, Apps und andere digitale Werkzeuge sind die Kuppler der Generation Y. Neue Bekanntschaften schliessen sich heute selten in schummrigen Bars, an Partys oder am Kassenband der Migros. (Gibt es Menschen, die sich am Kassenband der Migros kennengelernt haben? Ich hoffe es.) Neue Bekanntschaften werden am Bildschirm geschlossen.

Was aber bedeutet das für unsere Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen? Und wie ernst kann es überhaupt werden? Man ist umso aufrichtiger, je direkter man jemanden anspricht. Im Internet hingegen kann man sich eine Identität zusammenschustern, die nicht viel mit der Realität gemeinsam haben muss. Was bedeutet das für die späteren analogen Stunden zu zweit? Ist Authentizität möglich, wenn schon das Kennenlernen nicht der Real Deal war?

Kennenlernen ist immer ein Risiko, eins, das man früher eingehen musste: Wer der Person von Interesse nicht klarmachte, dass sie von Interesse ist, der ging leer aus. Heute sind die Regeln aufgehoben, Zweisamkeit läuft nicht mehr nach dem Schema «Kissing in a Tree – Love – Marriage – Baby Carriage» ab, wie das berühmte amerikanische Kinderlied einst frohlockte. Es bleibt oft beim «Kissing in a Tree», bei der Annäherung, bevor es dann bereits wieder zackzack Richtung Trennung geht.

Das ist nicht unbedingt ein Problem, schliesslich ist der nächstmögliche Partner nur einen Klick entfernt. Dating-Apps wie Tinder sorgen dafür, dass wir dabei möglichst wenig tun oder einstecken müssen. Die Anmache geschieht bequem vom Sofa oder der Badewanne aus, ohne jegliche Korb-Gefahr. Das Prinzip ist einfach: App runterladen, Profilfoto raufladen, Fingerkuppe aufsetzen und Wischbewegungen jeweils nach rechts (hot) oder links (not) vollziehen. Sobald zwei bei einander nach rechts gewischt haben, kommt eine Mitteilung («It’s a Match!») und eine Chatfunktion geht auf. 

Ein Wisch und alles ist weg

Partnersuche läuft bei Tinder nach der Online-Shopping-Methode ab: Gut genug? Dann rein in den Warenkorb! Nein? Zeit für das Zewa-Prinzip: ein Wisch und alles ist weg. Ein Kennenlernen per Casting, das zwar nur besteht, wer ein bestechendes Profilfoto hat, aber auch jeder gewinnt, weil die sichtbare Ablehnung nicht vorhanden ist. Einen Korb kriegt man nie, weil man nicht mitbekommt, wer einen alles abserviert. 

Wir wollen alle Möglichkeiten und keine Ablehnung, viele Likes, aber keine Verbindlichkeit. Da passen Tinder und Co. gut. Aber: Je einfacher die Suche nach der Liebe, desto schwieriger wird es für uns, sie zu finden. In meinem Umkreis wird das Wort «Beziehung» wenn überhaupt, dann zögerlich gebraucht. Man hat keine Lust sich festzulegen. Die meisten haben irgendjemanden, den sie öfters sehen, als Freund oder Freundin würden sie diese Person aber nicht bezeichnen. Beziehung? Nein danke. Heiraten? Auf gar keinen Fall, viel zu kompliziert.

Es fällt uns schwer, uns auf andere zu konzentrieren, wobei gerade das die Basis einer Beziehung ausmachen würde. Natürlich gibt es auch eine Gegenbewegung, Paare, die sich über das «Wir» definieren und gerne möglichst früh und traditionell heiraten. Das ist grundsätzlich schön, nur beschleicht einen ein seltsames Gefühl, wenn eben diese Paare dann ihr gemeinsames Leben auf Facebook zelebrieren müssten. Schau nur, wie toll wirs haben!

Der Schriftsteller Sven Hillenkamp sieht das Problem in der grenzenlosen Freiheit, die wir heutzutage erfahren. In «Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit» schreibt er: «Die Freiheit, jemanden zu küssen, ist tatsächlich der Zwang, jemanden zu küssen. Die Menschen, die ihre Freiheit nutzen, müssen sie nutzen.» Er beschreibt den paradoxen Druck, den uns unsere Freiheit auferlegt: Wenn wir schon in der Multioptionsgesellschaft leben, dann fühlen wir uns auch dazu verpflichtet, ihr zu entsprechen, sie sinnvoll zu nutzen. Weil wir gelernt haben, dass alles einen Nutzen haben muss. Auch die Liebe. 

Die Liebe aber hat weder einen direkten Nutzen, noch können wir sie kontrollieren. Sie ist wie ein ungezogenes Kind, das sein eigenes Spiel spielt, meinte die israelische Soziologin Eva Illouz vor ein paar Monaten in der Sendung «Sternstunde Philosophie». Diesen Kontrollverlust gehen wir ungern ein. Sogar im Falle einer Trennung wird versucht, ihr mit Scheidungspartys und «Conscious Uncoupling» einen Namen zu geben, sie dingfest und kontrollierbar zu machen.

Hat die loyale, kompromissbereite, eindeutige Liebe da überhaupt noch eine Chance? Vielleicht müssen wir andersrum denken: Ist es an der Zeit, die Kassenband-Liebe zu den Akten zu legen und umzudenken? Für eine Liebe, die unserem Lebensstil entspricht, schnelllebig und vielfältig ist? Die hübsche Mami-Antwort «Das muss jeder für sich selbst herausfinden» gilt hier nicht, denn je mehr moderne Technologien jungen Menschen weismachen, dass «Liebe» auch mit weniger Aufwand und mehr sofortiger Befriedigung geht, desto mehr wird sich auch unser Beziehungsverhalten ändern. Wie sagt die Tinder-Werbung so schön: «It’s like real life. But better.»

Die Frage ist also, wie wir damit umgehen. Wer die klassische erfüllende Liebe sucht, ist nicht mehr länger kompatibel mit den heutigen Möglichkeiten des Kennenlernens. Vielleicht müsste sich ein dynamisches Tech-Start-up diesem Problem mal annehmen. Oder vielleicht sollten wir eben doch öfters mit Absichten einkaufen gehen. Mit dem Velo davonfahren ist auf jeden Fall keine Lösung. Das weiss ich jetzt.

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