Die Magnete von Petrila

Als die ersten Bergleute aus dem siebenbürgischen Schiltal 1997 entlassen wurden, meinte die Regierung, aus den Abfindungsgeldern liessen sich Kleinunternehmen gründen. Bis heute sind die damals recycelten Arbeiter nicht zu Firmeninhabern geworden, doch sie arbeiten fleissig von früh bis spät – an dem grossen Recycling ihrer Region.

(Bild: George «Poqe» Popescu)

Als die ersten Bergleute aus dem siebenbürgischen Schiltal 1997 entlassen wurden, meinte die Regierung, aus den Abfindungsgeldern liessen sich Kleinunternehmen gründen. Bis heute sind die damals recycelten Arbeiter nicht zu Firmeninhabern geworden, doch sie arbeiten fleissig von früh bis spät – an dem grossen Recycling ihrer Region.

Kurz vor dem Ortsschild von Petrila hält der Kleinbus aus Petroșani an einem Bahnübergang. Täglich fahren hier nur noch zwei Züge, also nehmen die Fussgänger den Bahntunnel, der gleich am Strassenrand anfängt, als Abkürzung. Es ist dunkel, und die Menschen laufen im Gänsemarsch über die Schwellen oder durch den Kohlenstaub, zwischen Schienen und Wand. Die Züge bringen die Steinkohle von den Minen in Petrila und Lonea erst zum Bahnhof in Petroșani und dann weiter zu den Abnehmern. Jenseits des Hügels, am anderen Ende des Tunnels, wird gearbeitet.

Vor der Wende gehörten die Bauten hier dem Bergwerk. Vorne steht ein gelbliches, vierstöckiges Gebäude, das früher als Lagerraum diente. Aus einem Fenster werfen zwei Jungen mit Kapuzenpullis einen vier Meter langen Metallträger, der mit einem dumpfen Geräusch im Schutt landet. Drei weitere Jungen übernehmen und schmeissen ihn neben die anderen fünf Balken, in den kleinen Anhänger eines gelben Dacia. Aus dem Gebäude dröhnt das monotone Aufschlagen der Hammer auf Beton, und ab und an auf Metall. Durch die Öffnung, die einst der Eingang war, steigt Staub auf, der zwischen den Zähnen knirscht. Drinnen arbeiten 15 bis 20 Menschen. Sie sind Alteisensammler, «Magneten», wie die Einheimischen sie nennen. Sie kommen früh, um acht oder neun, und bleiben hier bis es dunkel wird und die Recyclinghöfe zumachen.

An Recyclinghöfen mangelt es in Petrila nicht: Allein auf dem Weg von der Mine hierher liegen drei oder vier. Alle kaufen Altmetall an, vor allem Eisen und Kupfer, aber auch Plastikbehälter, «Kanister», wie die Einheimischen sagen. So kommt es, dass der sich andernorts in Rumänien am Stadtrand, in Bächen und auf ehemaligen Industriegeländen aufhäufende Plastikmüll hier im Schiltal nur selten vorkommt. Nichts bleibt ungesammelt in Petrila. Diese Aneignung ist eine Rache nicht ohne Ironie: Die Arbeitskräfte, die Rumänien in den neunziger Jahren entsorgte, statt sie zu recyceln, haben sich selber an die Arbeit gemacht und sammeln alles, was im Schiltal noch verwertbar ist.

Müll in Bächen und am Strassenrand, wie in Rumänien überall zu sehen ist, kommt hier im Schiltal nur selten vor. Nichts bleibt ungesammelt in Petrila.

Die Recyclinghöfe übernehmen die Ware, ohne viele Fragen zu stellen. Letztes Jahr hat die Regierung die Auflagen für solche Unternehmen verschärft, nachdem an mehreren Orten der Zugverkehr immer wieder wegen geklauter Kabel, Einfahrtssignale und anderer Metallteile lahmgelegt worden war. Betreiber von Wertstoffsammelstellen sind jetzt verpflichtet, die persönlichen Daten ihrer Alteisen- und Kupferlieferanten aufzunehmen. Die Behörden argumentieren, dass die Täter auf diese Art und Weise identifiziert werden können, doch niemand kann genau sagen, inwieweit die neuen Bestimmungen in abgelegenen Orten jenseits der Grossstäte tatsächlich eingehalten werden.

Ob klein oder gross, die Alteisengeschäfte in Rumänien scheuen die Öffentlichkeit. Der Grund liegt nicht nur darin, dass die Herkunft des Materials nicht immer legal ist, sondern vor allem in der seit Jahren belegten Tatsache, dass die ganze Branche massive Steuerhinterziehung betreibt. Doch die Regierung und die Mainstream-Medien zeigen immer wieder mit dem Finger auf die Magneten, das letzte Glied in der Kette.




(Bild: George «Poqe» Popescu)

Das in Rumänien gesammelte Alteisen wird zum grössten Teil exportiert. Für jedes angekaufte Kilo zahlen die Recyclinghöfe im Schiltal zwischen 13 und 16 Cent und sie verkaufen das Metall doppelt so teuer an Grosshändler. Der Schrott wechselt dann mehrmals die Hände, bevor es in Constanța auf Schiffe geladen wird und bei den Schmelzwerken in der Türkei und in Deutschland ankommt. Das Geschäft ist sehr lukrativ vor allem für den grössten Spieler auf diesem Markt, die schwäbische Scholz AG, die in Rumänien 1000 Menschen beschäftigt und 75 Filialen unter den Namen Remat Holding und Remat Invest betreibt.

Unbeherrschbares Phänomen

In Siebenbürgen, wo historisch der Industrialisierungsgrad höher war und es deshalb heute nicht an Alteisen mangelt, geniesst der Konzern eine faktische Monopolstellung. Das gelbliche Gebäude, das die Magneten abreissen, hat die Mine nach der Wende veräussert, es gehört jetzt einem insolventen Unternehmen. Der Hauptgläubiger, die rumänische Sparkasse, hat vor Kurzem eine Vertreterin vor Ort geschickt. Sie musste feststellen, was mit den Werten aus der Insolvenzmasse passiert. Sie hat die Polizei gerufen, aber die Beamten erklärten, dass der magere Haushalt der Kommune keine grossangelegten Dauereinsätze ermöglicht. Und das Phänomen sei so oder so unbeherrschbar.

Vorne wartet der gelbe Dacia darauf, dass die Jungen mit Kapuzenpullis die letzten Träger für heute Abend herunterwerfen. Drinnen knallen weiter die Hämmer. Eine Betonplatte, breit wie ein Zimmer, gibt nach, und ein dumpfes Grollen hallt durch den ganzen Körper nach. Die Menschen bedecken ihre Augen und Gesichter mit den Armen, als das Monstrum einen Stock tiefer zerbirst. Die ersten Staubkörnchen schiessen empor und stechen wie Splitter.

Das Aufbereitungswerk von der Mine in Petrila, bei dem früher viele Menschen aus der Gegend arbeiteten, wurde letztes Jahr abgerissen. «Wenn du auf Kupfer stösst, machst du mehr Geld. Aber auch mit dem Eisen kannst du Glück haben. Vor zwei Jahren habe ich riesige Zahnräder ausgegraben. Da hatte ich über 100 Euro in einer Stunde.»

Das Problem ist, dass bei den Recyclinghöfen die Waagen manipuliert sind, sagt der Mann. Und dass die Polizei die Magneten schikaniert. Obwohl sie die Situation «unbeherrschbar» nennt, kommt sie ab und zu und verteilt Strafzettel, die niemand zahlen kann. Dementsprechend können die Magneten keine Bankkonten mehr eröffnen, weil sie unbezahlte Geldstrafen angesammelt haben.

Gegenüber dem gelblichen Gebäude klopfte Dorel Ciuci an einer Baracke aus Backstein, als sein Glück ihn verliess. Er hatte einen zwölf Meter langen Betonbalken gefunden und versuchte, das Eisen herauszubekommen. Die Frau, bei der er wohnt, hatte ihn beim Verabschieden gefragt, wohin er wohl gehe, es war ja Feiertag. «Unser Essen reicht für heute, was ist denn mit morgen?», hatte er erwidert. Jetzt freute er sich, dass er mehr Geld nach Hause bringen konnte. Knapp einen halben Meter war es noch bis zum Ende des Trägers, als das Betonstück plötzlich nachgab und auf ihn fiel.

Das Handy rettete Ciuci

Sein Arm, seine Rippen und Beine sind steckengeblieben. Er fing an, vor Schmerz zu schreien, «wie ein Verrückter». Die anderen Magneten, die in der Nähe arbeiteten, sind weggelaufen, aus Angst, dass jemand kommen und Fragen stellen würde. «Hätte ich dieses Handy nicht dabei gehabt, wäre ich jetzt tot», erzählt der Mann zwei Wochen später. Noch unter dem Betonbalken hatte er es hinbekommen, die Notrufnummer 112, danach auch die Frau, bei der er wohnt, anzurufen.

Fünf oder sechs Jungen waren schnell mit einem Auto angefahren und hatten ihn herausgezogen, ehe der Krankenwagen kam. Sie brachten ihn ins Krankenhaus in Petroșani, wo er drei Tage später operiert wurde. Er bekam eine Metallstange in den Arm implantiert und eine andere oberhalb des Knies, das andere Bein wurde in Gips gelegt. Die Frau klopfte mit den Jungen das Eisen aus dem Balken frei, fand dort noch ein Kabel aus Kupfer und brachte alles zum Recyclinghof, wo sie für 80 Kilo Metall knapp 11 Euro einkassierte.




Ein gefährlicher Job: Dorel Ciuci versuchte einen Betonbalken vom Eisen zu befreien – als er plötzlich nachgab. Euro hat der Einsatz eingebracht (Bild: George «Poqe» Popescu)

Nach der OP, als Ciuci wieder wach war, fragten der Arzt und die Chefkrankenschwester, ob er eine Versicherung hätte. Er antwortete, dass er keine hätte, und auch kein Geld für die Behandlung. Sie sagten ihm, dass er das Krankenhaus verlassen müsse, wenn er nicht zahlen könne. «Wie soll ich jetzt gehen, wenn ich nicht aus dem Bett aufstehen kann?», fragte er. «Ihr hättet ein Implantat aus Alteisen nehmen sollen, da wäre es billiger gewesen.»

Schliesslich gewährten sie ihm einen zweiwöchigen Aufenthalt. Sie sagten ihm, dass er jeden Tag eine Spritze mit einem Medikament gegen Blutgerinnung bekommen müsse, sonst sterbe er. Eine Dosis kostet zwei Euro, und die Kosten der dreimonatigen Behandlung werden nicht vom Krankenhaus übernommen. «Sie werden mich wahrscheinlich verklagen und in den Knast stecken, weil ich den Krankenhausaufenthalt nicht bezahlen kann», befürchtet der Mann. «Vielleicht ist es auch besser so, denn aus dem Knast kann man nicht rausgeschmissen werden.»

Eine Woche später besorgte ihm seine Schwester einen Rollstuhl, in dem er schliesslich entlassen wurde. Er rollte zur Agentur für Arbeitskräfte und meldete sich offiziell arbeitsunfähig. Das Geld von diesem Amt reicht ihm für 14 Spritzen im Monat. Die Kollegen, die in der Nähe des Tunnels graben und klopfen, bringen ihm ab und zu etwas zu essen oder ein paar Lei. Aus dem gelblichen Gebäude haben die Magneten, fleissig wie die Ameisen, das ganze Alteisen abtransportiert.

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