Die Ohnmacht im Sitzungszimmer

Der Film «Assessment» von Mischa Hedinger dokumentiert die Sitzungen zwischen Arbeitslosen und den Sozialdiensten – und legt dabei bedrückende Fragen offen. Dieses Wochenende läuft er im Neuen Kino Basel.

Der Film «Assessment» von Mischa Hedinger dokumentiert die Sitzungen zwischen Arbeitslosen und den Sozialdiensten – und legt dabei bedrückende Fragen offen. Dieses Wochenende läuft er im Neuen Kino Basel.

«Wir haben unsere Strukturen», sagt einer der Sozialfachleute, als Herr Strässle für ein Time-Out vor die Tür geschickt wird, «und da müssen sie rein passen. Und wenn sie anders sein wollen, auf Gedeih und Verderben, ist das nicht mehr mein Problem.»

Herr Strässle ist 54 und hatte vor Jahren einen Motorradunfall. Seither ist sein Leben nicht mehr dasselbe. Den Einstieg in den Beruf fand er nicht mehr, sein Sozialleben ist versandet. Doch die Invalidenversicherung attestiert ihm eine Arbeitsfähigkeit von 91 Prozent, und das heisst: er muss irgendwie zurück in den Arbeitsalltag.

Dazu ist das Assessment da: Sechs Leute, die mit ihm beraten, was er tun soll. RAV-Betreuer und Sozialarbeiter, Therapeuten und Fachstellenvertreter. Alle wollen sie das Beste – und doch nicht dasselbe. «Es ist ihre Aufgabe, ein Stück weit, soweit es möglich ist, zu ihrem eigenen Leben zu schauen. Ökonomisch, aber nicht nur, sondern auch sonst irgendwie einen Sinn, ein Ziel zu haben», kriegt Herr Strässle zu hören. Und er entgegnet: «Soll ich um des Friedens willen einfach eine Arbeit verrichten, bei der ich todunglücklich bin, ohne dass ich die geringste Form von Befriedigung habe?»

Mischa Hedingers Dokumentarfilm «Assessment» legt beklemmende Fragen offen. Zum Sinn der Existenz ausserhalb des Arbeitsprozesses. Zur Ohnmacht des Einzelnen vor dem Behördenapparat. Zu einem Sozialdienst, der Beschäftigungsprogramme, Zielvorgaben und Reintegrations-Tools entwirft, um Betroffene möglichst schnell in die Arbeitswelt zurückzuschleusen. Kommt dann einer wie Strässle, der von sich sagt, er sei kein einfacher Mensch, und er müsse nicht der Beschäftigung willen beschäftigt werden, gerät das durchrationalisierte System an seine Grenzen.

Teaser «Assessment» from Mischa Hedinger on Vimeo.

«Diese Schnittstelle hat mich an der Assessment-Situation interessiert», sagt Hedinger. «Die Betroffenen sind den Experten ausgeliefert. Auf der anderen Seite führen auch die Vertreter des Staates nur eine Politik aus, die nicht sie bestimmt haben, die sie jedoch ausführen müssen.» Seit jeder bekannte Fall von Sozialmissbrauch in den Medien ausgiebig verhandelt wird und die kollektive Empörung entsprechend kocht, steht der Sozialstaat unter erhöhter Beobachtung.

Aber «Assessment» ist weder eine absichtsvolle Kritik, die rechtsliberalen Polemiken über «Sozialschmarotzern» oder die «Sozialindustrie» Stoff gibt, noch ein wohlfahrtsstaatliches Bekenntnis. Sondern vielmehr ein Abbild der bedrückenden Resultate, die diese Kampagnen hervorgebracht haben. Der Dokumentarfilm des jungen Filmemachers Hedinger kommt mit einer formalen Austerität aus, die auf kommentierende Off-Stimmen, Schauplatzwechsel und Protagonisten verzichtet. Zentraler Ort ist ein nüchternes Sitzungszimmer, das Drehbuch legen die anwesenden Sozialbetreuer und Betroffene selbst fest. Die Kamera sitzt nur dabei und schaut zu. Weniger Zurückhaltung wäre auch nicht nötig: die Szenen sprechen für sich.

Seit jeder Fall von Sozialmissbrauch in den Medien ausgiebig verhandelt wird und die kollektive Empörung entsprechend kocht, steht der Sozialstaat unter erhöhter Beobachtung.

Da ist der ehemalige Maurer, der von gesundheitlichen wie privaten Problemen gezeichnet, bereits seit einigen Jahren aus der Arbeitswelt ausgeschieden ist und mit eingeübter Demut sagt, er wolle «schaffen können» und seinen Kindern zeigen, dass man auch in düsteren Zeiten kämpfen muss – und der euphorische Dankbarkeit demonstriert, als ihm die Sozialdienste das Ausbildungsmodul zum Gabelstaplerfahrer offerieren.

Da ist die alleinerziehende Mutter, die nach einer Tumoroperation Job und Mann verloren hat und auf ihre Bewerbungen lauter Absagen erhält, und der ein Mitarbeiter der Sozialdienste bescheiden lässt, sie müsse «doch irgendwas machen».

Und da ist die gehörlose junge Frau, die wieder bei den Eltern lebt, am liebsten im Internet chattet, ihre Haustiere um sich hat und jede äussere Veränderung als Bedrohung empfindet – und die in Tränen ausbricht, als ihr im Assessment eröffnet wird, sie solle ein sechsmonatiges Beschäftigungsprogramm absolvieren. Die Frage, was sie zu Leistung motiviere, versteht sie nicht.

Von solchen Missverständnissen handelt der Film unterschwellig: die Sozialdienste bemühen sich, ihre Fälle menschlich zu erfassen und fragen nach Lebenszielen und Sinnvorstellungen – und die Betroffenen spielen entweder mit oder empfinden den Persönlichkeitscheck als fremdbestimmende Zumutung, die suggeriert: erst in der Beschäftigung findet der Mensch seine Bestimmung – mag die Tätigkeit noch so sinnentleert sein.

«Assessment» nicht an,interpretiert nicht – er ermöglicht einzig einen Einblick.

«Die Gespräche erinnerten manchmal an ein Casting», sagt Hedinger. Wer das richtige sagte, erhielt eine Chance. Bezeichnend ist, dass sich laut Hedinger fast alle Angefragten nach einem ersten Gespräch damit einverstanden zeigten, vor der Kamera zu sprechen – und dass am Ende niemand Änderungswünsche vorgebracht hatte. Wo sich jeder entweder im Recht wähnt oder nach den Regeln spielt, ist wenig Anlass für Retouchen.

Dennoch, der Film sorgt in Fachkreisen bereits für Gesprächsstoff: «Der Film ist nicht primär für Mitarbeitende in den Sozialdiensten und -versicherungen gedacht», sagt Hedinger, «aber dort hat er bisher am meisten Resonanz. Manche hat der Film dazu gebracht, ihre Arbeit zu hinterfragen, andere haben sich schlicht dafür bedankt, dass ich die Komplexität ihrer Arbeit realistisch darstelle.»

Darin liegt der besondere Wert von «Assessment»: er klagt nicht an, er interpretiert nicht. Sondern ermöglicht einzig einen Einblick, was dabei herauskommt, wenn der politische Diskurs über den Sozialstaat von den Vorgaben der Effizienz und der Kontrolle geprägt wird.

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Neues Kino, Basel: 18. und 19. September, 21 Uhr. Regisseur Mischa Hedinger ist am Donnerstag, 18. September, nach dem Film für ein Publikumsgespräch vor Ort. Der Film wird ausserdem am 19. November auf SRF1 ausgestrahlt und ist via assessment-film.ch als DVD beziehbar.

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