Massgeschneiderte Therapien sind eine Chance. Doch die Behandlung hat ihren Preis. Und oftmals nicht den erhofften Effekt.
Viele Patienten setzen grosse Hoffnungen auf neue Behandlungen, die auf ihre individuelle Situation angepasst. Auch Fachleute sehen die neuen personalisierten Therapieformen als Chance, namentlich im Krebsbereich.
So sagt Hermann Amstad, der Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in Basel: «Bisher hatten wir eine Art Schrotschussverfahren. Man hat bei allen Patienten mit einer bestimmten Erkrankung die gleiche Behandlung angewendet, obwohl vorher schon klar war, dass sie nur bei einigen wenigen wirken würde.» Bei welchen, wusste man allerdings nicht. «Die anderen hatten nur die Nebenwirkungen, und das war verständlicherweise sehr unbefriedigend.»
Doch er betont auch: «Heute ist es noch so, dass viele neue Medikamente das Überleben nur um wenige Monate verlängern – manchmal um den Preis grosser Nebenwirkungen.» Als Problem sieht Amstad, dass sowohl Ärzte als auch Patienten zum Teil nicht ausreichend informiert seien. Es sei wichtig, die neuen Medikamente nur dort anzuwenden, wo sie auch wirken. Und dem Betroffenen klar zu machen, wo die Grenzen sind.
Grosse Chancen – überhöhte Erwartungen
Nach Amstads Erfahrung ist ein Patient meist dann bereit, seine Lebensqualität einzuschränken, wenn im Gegenzug eine Besserung eintritt. Daher, so der Ärztevertreter «ist es wichtig abzuklären, ob der Patient möglicherweise lieber weniger lang leben möchte, mit dafür besserer Lebensqualität.»
Manche Kritiker sprechen bei den personalisierten Therapien von einer Mogelpackung: Oftmals kann zwar ein vorübergehender Stillstand oder Rückgang von Tumoren bewirkt werden, doch die Patienten überleben dadurch nicht länger.
Alex Gamma, Biologe und Wissenschaftsphilosoph von der Universität Zürich erläutert, was es seiner Meinung nach für Patienten trotzdem schwer macht, sich gegen die neueste Therapieform zu entscheiden: «Immer wieder werden falsche und überhöhte Erwartungen geschürt, was den zeitlichen Rahmen der personalisierten Medizin angeht, auch von Seiten der Wissenschaft.»
Worte wie «Durchbruch», «Revolution» oder «wir stehen kurz davor, Krebs zu heilen» würden einen falschen Eindruck erwecken über die realen Möglichkeiten. Wenn Betroffene mit grossen Hoffnungen zum Arzt kommen, werden sie vielleicht nur die Informationen hören wollen, die sie sich erhofft haben und anderes gar nicht aufnehmen. Oder sie glauben, sie müssten nur die eine Klinik oder Studie finden, die ihnen die erlösende Therapie anbieten kann.
Das Immunsystem gegen den Krebs
Im Februar 2014 sendete das Schweizer Radio und Fernsehen beispielsweise eine Dokumentation über den «Durchbruch des Jahres», eine neue Immuntherapie bei metastasiertem Schwarzen Hautkrebs. Die Behandlung mit einem Antikörper ermöglicht dem Immunsystem, die Metastasen des Melanoms anzugreifen.
Im Film berichtet ein Patient, der so behandelt wird, dass seine Geschwülste verschwunden seien. Eindrucksvoll wird der Röntgenschirm gezeigt, auf dem vor der Behandlung hunderte davon zu sehen waren. Doch die Therapie mit dem neuen Wirkstoff hatte ihren Preis: Der Patient musste sich einer Not-Operation unterziehen, weil sein Darm aufgrund schwerer Nebenwirkungen versagte. Trotzdem sagt er, es hätte sich für ihn gelohnt. Man weiss als Zuschauer nicht genau, ob er davon ausgeht, geheilt zu sein; und auch der Zuschauer wird im Unklaren gelassen, was das Verschwinden der Tumore nun eigentlich bedeutet.
Der behandelnde Arzt, Roger von Moos vom Kantonsspital Chur, berichtet der TagesWoche auf Nachfrage, dass der im Film gezeigte Patient bereits seit drei Jahren keiner weiteren Behandlung bedarf. Seine Tumore seien verschwunden und nicht wieder aufgetaucht – eine seltene Komplettremmission, wie es im Fachjargon heisst. Was aber nicht einer Heilung gleichzusetzen ist, auch wenn Patienten das verständlicherweise immer hoffen.
Das Risiko, dass der Krebs wieder kommt, ist bei den Betroffenen erhöht, beim malignen Melanom sogar wahrscheinlich. Noch ist unklar, ob die Therapie beim malignen Melanom eine dauerhafte Heilung bewirken kann. Bislang geht es darum, den Krebs so lange wie möglich aufzuhalten.
Komplettremission gleich Heilung?
Das neue Hautkrebsmedikament kann die Lebenszeit einiger Patienten tatsächlich deutlich verlängern. Früher seien die Betroffenen nach sechs bis zwölf Monaten gestorben, berichtet Roger von Moos. Auch mit dem neuen Medikament gebe es immer noch eine grosse Anzahl an Patienten, die nicht profitierten und sehr schnell versterben. «Nur 15 Prozent der Patienten verzeichnen ein Tumorschrumpfen um mehr als 30 Prozent. Eine Komplettremission ist noch seltener. Umso erstaunlicher ist es, dass das Überleben derart verlängert werden konnte. So sind nach 3 Jahren immer noch 22 Prozent der behandelten Patienten am Leben», so Von Moos.
Und die Nebenwirkungen? Die seien anderes als bei der Chemotherapie, sagt von Moos, und könnten durch erfahrene Zentren in der Regel gut beherrscht werden.
Ärzte sehen Gesamtzahlen, Patienten leiden individuell
Aus einer Veröffentlichung von Daten in einem angesehenen Fachjournal (New England Journal of Medicine 2011, online nicht verfügbar) geht hervor, dass etwas mehr als die Hälfte der Patienten schwerste Nebenwirkungen erleiden. Das erklärt sich aus dem Umstand, dass das entfesselte Immunsystem nicht nur den Tumor angriff, sondern auch Haut, Darm und die Leber attackiert.
Es ist aus Sicht eines Onkologen verständlich, dass er ein neues Medikament als Innovation sieht, das es einigen seiner Patienten ermöglicht, noch drei oder fünf Jahre nach der Diagnose zu leben.
Doch die Psychoonkologin Bianca Senf vom Universitätsklinikum in Frankfurt am Main weist darauf hin, dass sich die Wahrnehmung von Medizinern und Patienten unterscheiden kann. Sie hat Patienten erlebt, die mit dem neuen Wirkstoff gegen das maligne Melanom, also bösartigen Hautkrebs, behandelt wurden. Sie berichtet: «Im Vergleich zur Chemotherapie haben sich die Nebenwirkungen tatsächlich stark gewandelt: Es sind nicht mehr Übelkeit, Erbrechen oder Haarausfall, mit denen die Patienten zu kämpfen haben. Stattdessen leiden manche Behandelte unter gravierenden Hautveränderungen oder Darmreaktionen.»
Auch Nebenwirkungen, die Ärzte als handhabbar beschreiben, belasteten diese Patienten zum Teil erheblich. «Ein Mann, der eine Immuntherapie gegen schwarzen Hautkrebs bekam, hatte so schlimme Akne im Gesicht, war so entstellt, dass er sich nicht mehr aus dem Haus getraut hat. Dieser Patient sagte: Ich will so nicht mehr weiterleben», erzählt Senf. Andere berichten ihr von starken Durchfällen, die verhindern, dass sie die Wohnung verlassen. «Diese Patienten erleben ihr Leben nicht mehr als lebenswert und da kann man sich schon fragen, was der Gewinn ist», fährt die Psychologin fort.
Nutzen gegen Nebenwirkungen
«Die Patienten kommen mit grosser Hoffnung auf Heilung», sagt Senf. Die Immuntherapie gebe viel Anlass für Hoffnung. «Dennoch sind die Ansprechraten noch sehr gering und für viele Tumore auch noch nicht dokumentiert», betont sie. Es sei immer zu schauen, wie viel Nutzen der individuelle Patient hat. Nebenwirkungen, die zum Teil sehr gravierend sind, sollten auf keinen Fall verschwiegen werden, da die Patienten dann häufig in eine psychische Krise gerieten und nur schwer wieder heraus kämen.
Es wird eifrig geforscht, verschiedene Kombinationen von Wirkstoffen versucht. Und Mediziner arbeiten daran, wie man die Patienten, die von einer Behandlung profitieren werden, schon vorher identifizieren kann. Roger von Moos spricht von noch neueren Antikörpern gegen metastasierten Schwarzen Hautkrebs, die jetzt auf den Markt kämen. Die seien noch effektiver, hätten weniger Nebenwirkungen. Unter der Therapie lebten die Hälfte der Patienten noch 20 Monate nach der Diagnose, viele dieser Patienten hätten ein Langzeitüberleben. Das lässt Patienten und Ärzte hoffen.
Vor lauter Hoffnung kein Platz für Abschied
Wissenschaftsphilosoph Gamma sieht die Sache kritisch: «Es stimmt nicht, dass wir in ein paar Jahren für jeden Patienten das richtige Medikament haben werden, um ihn zu heilen. Diejenigen, die die personalisierte Medizin in der Öffentlichkeit vertreten, müssen zurückhaltender formulieren, nicht in eine Revolutionsrhetorik verfallen.» Sie sollten nicht wie Marketingleute agieren, die etwas verkaufen wollen, auch wenn es auch in der Wissenschaft den Druck gebe, neue Gelder für die Forschung anzuwerben.
Auch Psychologin Senf warnt: «Letztendlich besteht immer die Gefahr, dass man durch unrealistische Versprechungen auch die Verarbeitung der Erkrankung und die Auseinandersetzung mit dem möglichen Lebensende verhindert.» Dies sei besonders dramatisch, wenn beispielsweise Kinder involviert seien und der Prozess der Verabschiedung vom nicht mehr heilbaren Elternteil versäumt werde.
Wir haben den Krebs noch nicht besiegt
Auch führende Krebsexperten wie Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, weisen darauf hin, dass Tumore ähnlich wie Viren lernen, sich dem Angriff der Wirkstoffe zu entziehen – das führt häufig zur Resistenz gegen die Medikamente. Es sind also kleine Fortschritte.
Was auch immer die Forschung in den nächsten Jahren erreichen wird: Die personalisierte Medizin ist bereits in der Praxis angekommen. Wenn Betroffene wüssten, wie wenig Zeit sie mit einer Behandlung manchmal gewinnen, würden viele darauf verzichten. Denn auch die Nebenwirkungen der neuen Therapien können stark belasten.
In einem sind sich Befürworter und Gegner der personalisierten Therapie weitestgehend einig: Je individueller die Therapieverfahren werden, umso wichtiger ist, dass ein Patient vollständig und empathisch aufgeklärt wird. Und dass der Betroffene kritisch bleibe und nachfrage, ergänzt Alex Gamma. Nur so kann der Einzelne eine Therapieentscheidung treffen, die auf seine persönlichen Situation zugeschnitten ist.
Ansatz der personalisierten Medizin ist es, für die verschiedenen Untergruppen einer Krebsart eine gezielte Therapie zu finden. Noch ist es so, dass es für viele Krebsarten eine Standardtherapie gibt, auf die Patienten unterschiedlich gut ansprechen. Krebszellen unterscheiden sich in ihrem Verhalten und damit in ihren biologischen Abläufen von gesunden Zellen. Sie nutzen vorhandene Stoffwechselvorgänge, verändern sie aber so, dass sie sich immer weiter vermehren können und sich der körpereigenen Kontrolle entziehen.
Jede unserer Zellen besitzt eine Kopie unseres Erbgutes. Hierauf befindet sich eine Anleitung für alles, was eine Zelle an Aufgaben zu erfüllen hat. Wird das Erbgut einer Zelle geschädigt, wird diese Anleitung fehlerhaft. Im schlimmsten Fall werden Schutzmechanismen ausser Kraft gesetzt. Die erste Krebszelle entsteht. Um gezielter therapieren zu können, müssen einerseits die Stellen aufgespürt werden, die im Erbgut der Krebszellen verändert sind. Zudem muss verstanden sein, was das an molekularen Mechanismen in der Zelle auslöst. Dann können Medikamente entwickelt werden, die gezielt an den veränderten biologischen Abläufen angreifen.
Für einige Krebsarten sind die unterschiedlichen Entstehungs- und Wachstumsmechanismen bereits identifiziert. Mit Biomarker-Tests können Mediziner nach den typischen zellulären Veränderungen im Tumorgewebe eines Patienten suchen. Die An- oder Abwesenheit dieser Biomarker hilft den Wissenschaftlern vorauszusagen, welche Art von Medikament bei diesem Menschen wirkt, ob er das Medikament gut vertragen wird und sogar, wie hoch die geeignete Dosis ist. In den Genen von Tumorzellen finden sich ausserdem Hinweise darauf, wie aggressiv ein Karzinom ist. Das Erbgut kann aus einem kleinen Stück Tumorgewebe isoliert werden. Das hilft bei der Therapiewahl: Weiss der Arzt, dass es sich um einen gefährlichen Krebs handelt, wird er unter den wirksamen Medikamenten besonders starke auswählen. Bei einem niedrigeren Risiko greift er auf Arzneien mit weniger Nebenwirkungen zurück.
Forscher haben es sich zum Ziel gesetzt, alle Gene zu entschlüsseln, die an der Entstehung und dem Wachstum einzelner Krebsarten beteiligt sind. Aus den vielen gefundenen Veränderungen soll dann eine Art Fehlerkatalog für jede Krebsart erstellt werden. Der Einsatz üblicher Chemotherapeutika gleicht im Vergleich zur personalisierten Krebstherapie einem Flächenbrand: Die Wirkstoffe greifen alle Zellen an, die sich gerade in Teilung befinden. Das bedeutet, nicht nur Krebszellen sterben ab, sondern beispielsweise auch Haarwurzel- oder Hautzellen. Personalisierte Medikamente hingegen richten sich im besten Fall nur gegen den Tumor. Bislang machen personalisierte Therapien etwa 20 Prozent aller Krebsbehandlungen aus.