«Die Revolution sagten wir 1976 bei einem Eiskaffee ab»

Peter Niggli wird pensioniert. Doch Altersmilde kennt der Experte für Entwicklungszusammenarbeit keine. Seine Analysen zur Schweizer Innenpolitik sind noch immer so scharf wie präzise. Und den Zustand der Welt findet er noch immer empörend.

Die Empörung über den Zustand der Welt begleitet ihn in den Ruhestand: Peter Niggli.

(Bild: Raffael Waldner)

Die Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Peter Niggli spricht heiser, er geht leicht gebückt. An der Geschäftsstelle von Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Organisation sechs grosser Schweizer Hilfswerke, öffnet der scheidende Geschäftsleiter selber die Tür.

In seinem Büro türmen sich Bücher und Papier, das Interieur sieht nach Auszug aus, alles ist ein bisschen durcheinander. Gemäss zuverlässigen Quellen sieht es allerdings an Nigglis Arbeitsplatz immer so aus. Und wenn man ihn argumentieren hört, dann zweifelt man nicht, dass er sich in diesem Gebirge aus Papier problemlos zurechtfindet. Er gehört zu den Menschen, die Zahlen, Jahre und Namen jederzeit und ohne zu zögern präsent haben.

Kein Wunder, ärgert sich der 65-Jährige, der seit 40 Jahren selbst publiziert, über die mangelnde Dossierkenntnis heutiger Journalisten. Den TagesWoche-Journalisten empfahl er, die Fragen vorgängig zu schicken – nicht weil er sich vorbereiten müsse, sondern, um seine Argumente zu portionieren: «Ich habe die Tendenz, in der ersten Antwort bereits alle weiteren Fragen zu beantworten.»

Im Jahr 2000 formulierte die UNO acht Millenniums-Entwicklungsziele zu Themen wie Bildung, Gesundheit und Nachhaltigkeit – dieses Jahr sollten diese Ziele erreicht sein. 

Darum gehe ich ja jetzt in Pension (lacht).

Was bringen solche Übungen?

Das war die erste solche Übung im UNO-Rahmen. Niemand glaubte am Anfang an einen Erfolg. Das Erstaunliche war, dass sich unter den Staaten eine Art Schönheitswettbewerb entwickelt hat.

Wie das?

Schlicht deshalb, weil die UNO jedes Jahr festhielt, wie weit man von den Zielen noch entfernt ist. Die Zahlen zeigten: Da ist zu wenig Investition in die Bildung, da ist zu wenig Investition in die Gesundheit. Diese Staaten haben mehr gemacht als jene, die haben mehr erreicht und diese weniger. Den Industrieländern konnte man schwarz auf weiss darlegen, dass sie ihr Versprechen, mehr Entwicklungshilfe zu leisten, nicht eingelöst hatten. All das bewirkte, dass mehr erreicht wurde, als die meisten erwartet hatten.

Peter Niggli: «Die alten Industriestaaten behaupten, sie hätten kein Geld mehr, nun sollen die Konzerne zahlen. Ein privates Unternehmen wird aber niemals für öffentliche Güter aufkommen, ausser es wird dafür bezahlt.»

Sie selber gehörten in den frühen 70ern zu den Gründern der Revolutionären Aufbauorganisation Zürich (RAZ). Wollten Sie die Schweiz in den Kommunismus führen?

Unser Ziel war die Überwindung des Kapitalismus durch eine proletarische Revolution. Wir nannten uns aber bewusst nicht kommunistisch. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, in der keiner Kommunist sein wollte. Sie wählten aber brav Sozis und fanden, man könnte schon noch was machen für die Büezer. Wir nannten uns deshalb revolutionär, denn das klang attraktiv. Damals fing man ja auch an, «Revolution» als Slogan auf T-Shirts zu drucken. Dahinter stand das Verlangen nach einem Neuanfang. Wir waren der Ansicht, dass es weder Lehrbücher noch Vorbilder gab für das, was wir anstrebten.

Sie werden demnächst Stiftungsrat beim Fastenopfer, einem katholischen Hilfswerk. Von der Revolution in eine kirchliche Institution – wie konnte das passieren?

Die Revolution hat für mich zwischen 1970 und 1976 stattgefunden, also in meinen frühen 20ern. Jetzt bin ich 65 und gehe in den Vorstand von Helvetas und zum Fastenopfer, mit denen ich als Trägerorganisationen von Alliance Sud seit 1998 zu tun habe. Die Revolution sagten wir 1976 bei einem Eiskaffee im Zürcher Café Boy ab.

Warum?

Der Mangel an Erfolg war eklatant. Wir wollten die Massen der Arbeiter gewinnen. Doch in der Schweiz regte sich fast nichts, im Unterschied zu den Streikwellen in den Nachbarländern. Zudem beschäftigte ich mich schon während jener Zeit stark mit der Geschichte der Sowjetunion und Osteuropas. Ich fragte mich, warum die Sache so katastrophal herausgekommen war. Ende der 70er bezeichnete ich mich nicht mehr als Kommunist, blieb aber dem revolutionären Impuls treu. Ich war der Ansicht, die westliche Welt habe das emanzipatorische Versprechen nicht eingelöst, das der Menschheit mit der französischen Revolution gegeben worden war.

Und dann?

Ich wurde Journalist beim «Fokus», das war ein unabhängiges, linkes Monatsmagazin. Mein Geld verdiente ich bei der ropress, einer selbstverwalteten Druckerei. Dann wollte ich aus Zürich weg, weil ich mich im vertrauten linken Milieu zu langweilen begann. Ich wollte reisen und dachte, das als freier Journalist finanzieren zu können. Damals verdienten freie Journalisten noch Geld. Mich interessierten Konflikte, die nicht dem Schema des Kalten Krieges folgten. So kam ich nach Äthiopien, wo linke «1968er-Guerillas» gegen eine sowjetisch gestützte Militärdiktatur kämpften. Ich wollte wissen, welche Lehre sie daraus zogen.

«Als der Club of Rome in den 70ern von den Grenzen des Wachstums sprach, kicherten viele. Jetzt wird es langsam ernst.»

Heute haben wir in allen Berufsfeldern – auch bei Hilfswerken und NGOs – Leute, die ihr Handwerk gelernt haben in entsprechend ausgerichteten Studiengängen. Das sind Profis in Themenfeldern, die Sie sich damals selber angeeignet haben. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Die Professionalisierung haben Sie überall. Als ich damals in den Journalismus ging, wollten die Leute wissen: Hast du schon was geschrieben? Gottlob hatte ich das Buch «Die unheimlichen Patrioten» mitverfasst. Der Rest ergab sich aus der Qualität deiner Texte. Es gab damals viele Journalisten mit unkonventionellen Lebensläufen. Heute sieht man das kaum noch, was schade ist.

Wenn Sie zurückblicken: Ist es ein guter Moment für Sie, um in Pension zu gehen?

Es ist ein guter Moment, ja. Wir haben mit Mark Herkenrath, der schon seit Jahren bei Alliance Sud arbeitet, einen guten Nachfolger gefunden. Und wir haben unsere Strategie für die nächsten Jahre entwickelt.

Und wenn Sie den Zustand der Welt betrachten?

Ich betrachte die Dinge gern historisch. Nehmen wir den Zustand der Welt 1939: Da sah es rabenschwarz aus. Im Vergleich dazu wirkt die Situation heute geradezu erfreulich. Es gibt aber sehr ernsthafte Probleme. In absehbarer Zeit wird unser Wirtschaftssystem an geophysikalische Grenzen stossen. Als der Club of Rome in den 70ern von den Grenzen des Wachstums sprach, kicherten viele. Jetzt wird es langsam ernst. Ein breites Bewusstsein dafür, geschweige denn Strategien für den Umgang damit, sehe ich aber nicht. Der Zustand der Welt ärgert und empört. Das ist aber kein Grund für Pessimismus, sondern für Engagement. 

Peter Niggli
Revolutionär, Journalist, Stadtzürcher Gemeinderat, entwicklungspolitischer Experte und Meinungsmacher – so liesse sich sein Berufsleben in wenigen Stichworten zusammenfassen. Als Co-Autor von «Die unheimlichen Patrioten» war er an einem Standardwerk über die alte Rechte in der Schweiz beteiligt. Mit «Rechte Seilschaften» über den Aufstieg der SVP (wieder mit Jürg Frischknecht in Co-Autorschaft) legte er knapp 20 Jahre später nach. Daneben publizierte er über Nord-Süd-Beziehungen, Entwicklungszusammenarbeit, den Schweizer Sozialstaat und innere Sicherheit. In diesen Tagen geht er in Teilzeit-Pension und wird Stiftungsrat von Fastenopfer, dem Hilfswerk der katholischen Kirche.

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