«Die Schweiz ist mein Dorf geworden»

Ibrahim Gezer ist ein kurdischer Flüchtling. Deutsch spricht er kaum, einen grossen Schweizer Freundeskreis hat er trotzdem. Die Verfilmung seiner Geschichte läuft jetzt im Kino. Wir trafen «Den Imker» in seinem Wohnort Laufen.

Film der Imker (Bild: Basile Bornand)

Ibrahim Gezer ist ein kurdischer Flüchtling. Deutsch spricht er kaum, einen grossen Schweizer Freundeskreis hat er trotzdem. Die Verfilmung seiner Geschichte läuft jetzt im Kino. Wir trafen «Den Imker» in seinem Wohnort Laufen.

Ibrahim Gezer trägt einen lila Plastiksack von Vögele in der Hand. Er benutzt ihn schon so lange, dass der Kunsstoff unter seinem Handgriff ganz geschmeidig geworden ist. Mano Khalil, der über Gezer den Dokufilm «Der Imker» gedreht hat, will ihm zur Premiere einen Rucksack schenken. «Überraschung», sagt er, «Ibrahim weiss von nichts.» Khalil hat den kurdischen Flüchtling vor sechs Jahren kennengelernt. Während der dreijährigen Dreharbeiten begleitete er den Imker, der es auch als mittelloser Flüchtling zu einigen Bienenkästen geschafft hat, in seinen Alltag und seine Erinnerungen. Seither ist Khalil im Grunde ein Familienmitglied. Zu unserem Treffen ist er als Übersetzer gekommen. Gezer spricht kaum ein Wort deutsch, Khalil sprudelt wie ein Brunnen. Bevor wir ins Gespräch kommen, hilft er dem Freund mit Amtsbriefen. Krankenkasse, Versicherung. Dann übersetzt er für Gezer noch ein Telefongespräch (siehe Video). Als wir unseren Kaffee längst ausgetrunken haben, kann es losgehen.

Gezer und Khalil sind ein gutes Paar, der Schüchterne und der Vermittler. In Wahrheit sind sie ähnlicher, als es scheint. Auch Gezer ist ein Beziehungskünstler. Er hat in der Schweiz, wo er seit seiner Flucht aus Kurdistan lebt, ein breites Bekanntschaftsnetz geknüpft. In Laufen wird er oft gegrüsst. «400 Meter diese Strasse hinunter und ich komme an vier Türen vorbei, an die ich jederzeit klopfen könnte.» In einem Hochtal über Andermatt (Uri) hat Gezer eine Reihe Bienenkästen stehen. Im halben Tal hat er Freunde. Ein kurdischer Flüchtling, der drei Worte Deutsch spricht, hat es in die Herzen der Bergler geschafft – das hat man noch nicht oft gehört. Wie macht er das?

Sprechen ohne Worte

«Ich habe gelernt, ohne Sprache zu kommunizieren», sagt Gezer. «Aber solche Begegnungen brauchen Zeit. Ich kann nicht einfach zu jemandem hingehen und ihm mit Hand und Fuss die Freundschaft antragen.» Doch Gezer hat viele getroffen, die sich diese Zeit nehmen. Im Film ist das zu sehen. Ein Zusammensitzen bei Zwiebel und Brot (die Lebensbedingung der Kurden), Gespräch im Minutentakt, Gesten und Mimik, minimalistische Themen. Gezer bringt den Freunden Honig mit, im Gegenzug schenkt ihm einer ein Schweizer Militärmesser. Das Messer hat einen Zahnstocher, wie es Gezer immer vermisst hat. Er bedankt sich ausgiebig und drückt dem Freund mehrmals die Hand, dabei bleibt er schlicht und unaufgeregt. Dann fährt das Messer in die Zwiebel.

Auf dem Weg vom Bahnhof zu Gezers Stammcafé in der Altstadt schweigen wir. Khalil sucht inzwischen einen Parkplatz. Versuche einer Konversation mit Hand und Fuss führen nicht weit. «Nachher», bedeutet Gezer, «wenn Khalil übersetzt». Warum spricht er eigentlich nach all den Jahren kein Deutsch? «Mein Kopf ist voll», sagt er später. Ja, die Begegnung mit Gezer braucht Zeit. Ob es ihm eigentlich recht ist, dieses Interview? Schwer zu sagen. Während wir auf Khalil warten, wirkt Gezer wie bestellt und nicht abgeholt. Er wurde fortgerissen aus seiner Heimat, nun liegt die mediale Aufmerksamkeit auf ihm. Anteilnahme mit Notizblock, die immer etwas abstrakt bleibt.

Es brauchte Vertrauen, bis Gezer sprechen konnte

Khalil sagt: «Die Arbeit an dem Film war wie eine Therapie für Ibrahim.» Zunächst dachte der Imker, Khalil wolle einen Film über seinen Bienen drehen. «Hier musst du filmen», sagte er dann und hielt ihm eine Wabe vor die Kamera. Langsam machte Khalil ihm klar, dass es um ihn selbst gehen soll. «Ibrahim ist meine Biene», sagt er selber. Zunächst fiel es Gezer schwer, überhaupt über seine Vergangenheit zu sprechen. «Respekt und Vertrauen waren die Voraussetzung dafür, das Ibrahim seine Geschichte vor der Kamera erzählte. Ich sagte ihm: Erzähl sie nicht der Linse. Erzähl sie mir.»

Als Gezers Familie mit Aktivisten der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) in Kontakt kam und mit ihren Gedanken sympathisierte, musste er das Dorf und seine Familie verlassen. Er versteckte sich während sieben Jahren in den kurdischen Bergen. Währenddessen starben zwei seiner elf Kinder im Kampf für die PKK (ein weiterer Sohn starb 2011). Seine Frau, die nichts über seinen Verbleib wusste, nahm sich aus Kummer das Leben. «Der Selbstmord einer Ehefrau ist eine Schande für einen Kurden», sagt Khalil, «wenn möglich wird er verschwiegen.» Seit Gezer sich soweit geöffnet hat, seine Trauer in einem Film zu teilen, ist er aufgeblüht.

Gezers Kinder sind bereits Individualisten

Trost ist das natürlich nur bedingt. Wie geht es ihm in Laufen? «Es muss gehen», sagt er. Er schätzt die Schweiz sehr. Dass die Bauern ihre Waren an den Wegrand stellen und die Käufer das Geld einfach hinterlegen: «Das ist ein Zeichen von Vertrauen und Ehrlichkeit, von dem wir in der Türkei unendlich weit entfernt sind», sagt er im Film. Seine verbliebenen sieben Kinder leben alle in der Schweiz, Gezer sieht sie regelmässig. «Die Schweiz ist ein Stück weit mein Dorf geworden», sagt er. Trotzdem ist es nicht das gleiche. Für einen Kurden ist die Familie die Lebensversicherung, sie wird für ihn sorgen, wenn er alt ist. Gezers Kinder leben hier bereits im westlichen Individualismus. Er wird eines Tages in ein Altersheim gehen. «Im Dorf in Kurdistan waren wir eine Seele und ein Körper.»

«In der Türkei ist es verboten, ein Kurde zu sein»

Der Friedliebende, der aus der Heimat vertrieben wurde, weil er die Freiheit liebt – es drängt sich die Frage nach seiner Haltung zur PKK auf, die aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft von vielen Ländern als Terrororganisationen eingestuft wird. «Es liegt in der Natur des Menschen, sich zu verteidigen», sagt Gezer. Dann, einmal angestochen, erzählt er die Geschichte der Völkermorde in den 20er- und 30er-Jahren unter Kemal Atatürk. Er erzählt vom Zwang, türkischsprachige Schulen zu besuchen. «Selbst ein Hund darf in seiner Sprache bellen. Doch in der Türkei ist es verboten, ein Kurde zu sein.» Es ist eine Antwort, die viele Kurden auf diese Frage geben. «Wer ist hier der Terrorist?» fragt Gezer.

Es ist schwer, sich mit westlichem Blick ein Urteil über diese archaische Form des Widerstandes zu bilden. Khalil verzichtet auf diese Frage nach dem Krieg. «Mein Film will niemanden beurteilen», sagt er. Nicht zuletzt dadurch stellt der Film die Intimität her, in der sich Ibrahim Gezers ansteckende Menschlichkeit mitteilt.

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