Der Täter von Rupperswil wird zur Bestie gemacht. Es ist erschreckend, wie leicht das Konzept der Rache, der Glaube an Monster und die Bekämpfung des Bösen durch die vermeintlich Guten Fuss fasst.
«Bei Kindsvergewaltigern gibts nur eine Therapie: Stellt sie an die Wand und feuert!» Dieser Satz stammt aus der Rütlirede des Schweizer Pnos-Präsidenten von 2012. Das Publikum reagierte mit Jubel und Zuspruch.
Nun, nach den Morden von Rupperswil stehen solche oder ähnliche Sätze in den Kommentarspalten unter Artikeln über diesen Thomas N. Die Bestie von Rupperswil! Das fleischgewordene Böse! Schaut ihn euch an. Ein Fremdkörper stört unsere friedliche Gesellschaft. Abscheulich!
Gibt es irgendwo einen noch detaillierteren Bericht seiner Taten? Was müssen die armen Eltern denken? Gibt es schon Aussagen von direkten Verwandten? Dieses Scheusal! Wie kann man nur so krank sein! Wir müssen diese Elemente aus unseren Reihen entfernen. Mörder, Vergewaltiger, Psychopathen – böse Menschen. Monster. Biester. Tiere. Gefährlich. Abknallen sollte man die.
Ich will hier weder Gräueltaten legitimieren, noch die Lynchjustiz wieder einführen. Ich versuche aufzuzeigen, wie schnell wir bereit sind, Mord zu akzeptieren, solange derjenige, der gemordet wird, selbst ein Mörder oder Schlimmeres ist.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Hassreden gegen den Verbrecher im selben Abgrund wurzeln wie das Verbrechen.
Mord und Vergewaltigung sind schreckliche Verbrechen, vor allem wenn sie sich gegen Kinder richten. Würde mein (noch zu zeugendes) Kind oder meine Frau Opfer eines solchen Verbrechens, ich hätte wohl furchtbare Rache-Visionen. Ich verstehe alle Opfer und deren Angehörige, die sich für ihre Peiniger Höchststrafen wünschen.
Was ich weniger gut verstehe, ist die übertriebene kollektive Trauer begleitet von grausamen Rache-Fantasien gegenüber dem Täter von aussenstehenden Menschen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Hassreden und Folter-Fantasien im selben Abgrund wurzeln, wie das schreckliche Verbrechen selbst.
Der Täter wird zur Bestie gemacht, zum Tier. Wenn ein Mensch erst einmal auf der Stufe Tier angelangt ist, darf man mit ihm scheinbar machen, was man will. Mitleid gegenüber diesen Hunden ist unangebracht. Dass genau dieses Denkschema Voraussetzung für Unterdrückung, Folter und Genozid weltweit war und ist, scheint dabei nicht zu stören.
Gerade Vergewaltiger waren als Kind oft selbst Opfer von Gewalt. Wie konsequent muss also Opferschutz sein?
Was vor lauter Empörung fast vergessen geht: Es gibt viele Beispiele von Angehörigen von Opfern, die keinen Hass auf den Täter haben, diesem sogar verzeihen und dadurch die Tat oft besser verarbeiten können.
Natürlich sind solche Worte leicht geschrieben – ich selbst bin ja kein Opfer. Mir fällt aber auch auf, wie leicht in diesem Land und in der Öffentlichkeit das Konzept der Rache, der Glaube an Monster und die Bekämpfung des Bösen durch die vermeintlich Guten Fuss fasst.
Wie können denn die Guten selbst Mörder oder Kerkermeister sein? Vergessen die Leute, die scheinbar berechtigt gegen Mörder, Vergewaltiger und anderes «Gesindel» kämpfen, dass die Täter oft selbst einmal Opfer waren? Dass gerade Vergewaltiger als Kind oft selbst Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen waren? Wie konsequent muss also Opferschutz sein?
Es scheint ein menschliches Bedürfnis zu geben, den inneren Schweinehund auszulagern.
Das Hauptziel der Bestrafung sollte die Verhinderung erneuter Straftaten sein und nicht die Rache am Täter. Keine Rache, keine Folterung und keine menschenunwürdige Behandlung eines Täters wird diesen zu einem besseren Menschen machen. Das Ziel der Justiz sollte nicht Rache sondern Gerechtigkeit sein – auch für den Täter.
Es scheint ein menschliches Bedürfnis zu geben, den inneren Schweinehund auszulagern. Und was gibt es in unserer gewinnorientierten Gesellschaft Schöneres, als ein Bedürfnis. Wo ein Bedürfnis ist, wird auch jemand die Stillung dieses Bedürfnisses anbieten und versuchen möglichst viel Profit daraus zu schlagen. Auch wenn er dabei ein bisschen lügen und manipulieren muss. Hey, das ist doch ein legitimes Mittel, um in diesem kapitalistischen Spiel konkurrenzfähig zu bleiben.
Überzeichnen, vereinfachen, eintrichtern: Hier habt ihr euren kranken Menschen, euren schwarzen Mann, euren Sündenbock. Guckt ihn euch genau an, erkennt seine Abartigkeit und dann sperrt ihn in ein dunkles Loch oder vertreibt ihn oder noch besser – tötet ihn. Damit wieder Frieden herrscht und natürlich auch ein bisschen, um euch zu vergewissern, dass ihr nicht seid wie er. Indem ihr das Böse aus der Gesellschaft verbannt, verbannt ihr das Böse aus euch selbst.
Die Shitstorm-Fackeln brennen schon. Bald werden multimediale Scheiterhaufen brennen.
Das ist es, was ich momentan auf sozialen Medien im politischen Wahlkampf und in den immer gleich erzählten Geschichten in Videos und Filmen sehe. Das Ausstellen des Kranken und Bösen und die Inszenierung eines Kampfes von uns Guten gegen dieses von aussen kommende Böse.
Ich fürchte, dass immer mehr Menschen an die Macht kommen, die dieses Spiel von Gut und Böse ausnützen. Dass bald noch mehr Menschen in Europa nach der Todesstrafe schreien werden. Dass wir ironischerweise im aufgeklärtesten, bestinformierten und vernetztesten Zeitalter der Menschheitsgeschichte eine Renaissance des Mittelalters erleben werden – nur eben mit den Möglichkeiten der Moderne.
Die Shitstorm-Fackeln brennen schon. Bald werden multimediale Scheiterhaufen brennen. Die Pranger stehen online bereit. Und so dreht sich die Spirale der Empathielosigkeit weiter. Die Skrupellosigkeit des Psychopathen spiegelt sich im Hass der empörten Massen.
Ich glaube, wir sollten aufhören aufeinander zu schiessen, den eigenen und den gesellschaftlichen Schwächen in die Augen sehen und uns in Empathie üben. Das wird auf lange Sicht mehr schreckliche Taten verhindern als jeder Versuch der Vergeltung.