Raum ist knapp in der Stadt. Gerade die Knappheit macht aber kreativ – auch beim Sport. Unser Autor hat die Stadt-Turner aufgesucht, entstanden ist das Porträt einer ganz besonderen Szene.
Viele Menschen erobern Basel als Spiel- und Trainingsort. Beim Sport in der Stadt verschmelzen zwei Welten miteinander: das Internet und der urbane Raum. Die Trendsportler suchen nach Inspiration im Netz und laden ihre persönlichen Trainings hoch. Basel ist zur Bühne und Spielfeld geworden, drei Geschichten aus dem sportlichen Leben der Stadt: Der Reiz der Stange – Streetworkout / Läufer der Stadt – Traceure / Der Traum von der Slackline über den Rhein.
«Eigentlich sind wir ja Turner»
Der junge Mann heisst Chaiya. Er dreht die Boxen auf und seine Schultern warm. Danach legt er sich auf den Boden und beginnt sein Aufwärmprogramm. Es besteht aus unterschiedlichen Liegestützen, die er rhythmisch der Musik anpasst. Das Ganze geschieht so schnell, dass ich mir das Video immer wieder anschaue, um die Liegestützenabfolge selbst zu versuchen.
Ich sitze am Rand des neuen Streetworkout-Parks in der Dreirosenanlage im Kleinbasel. Es ist ein sonniger Nachmittag und rund 20 Jungs üben an den Stangen. Frauen gibt es heute keine. An anderen Tagen ein paar wenige. «Noch wenige», betont einer. Auf der Bank sagt mir einer: «Eigentlich sind wir ja Turner. Nur können Turner das, was wir machen, viel besser. Sie machen es ja seit ihrem sechsten Lebensjahr. Uns hingegen zeichnet aus, dass wir aufzeigen wie auch mit 20, 30 oder 40 Jahren damit begonnen werden kann. Und dass es Spass macht. Jeder ist willkommen.»
Spontaneität ist der grosse Fun-Faktor
Das Ziel des Streetworkouts, so dachte ich nach den ersten kurzen Gesprächen und Beobachtungen, seien die Moves. Front-Lever, Human-Flag und als absoluter Prüfstein eine Full-Planche. Nick, einer der Turner, gibt mir aber den Tipp in eine andere Denkrichtung: «Das ist halt social und community. Und mit den richtigen Leuten macht das meiste Spass.» Ja, trainieren macht Spass, ja, die Moves zu beherrschen macht Spass. Aber gemeinsam stark werden. Das ist der Schlüssel!
Und Nick fährt fort: «Es ist Fun-Workout. Wir wollen uns nicht mit einem Trainingsplan limitieren. Spontaneität ist der grosse Fun-Faktor und somit Unterschied zum Fitnesscenter.» Wenn ich mich frage, was die Jungs Abend für Abend, bei Sonne und Regen, auf die Anlage treibt, glaube ich in diese Richtung denken zu müssen. Spontaneität und Kreativität im Umgang mit den vorhandenen Ressourcen. Eine wichtige Inspirationsquelle dafür ist Youtube.
Lernen vom Internet. Neue Trainingsformen aus Youtube. (Bild: Olivier Christe)
Die Suchbegriffe lauten Hannibal for King, Frank Medrano, Serge Tevosyan oder Bar Brothers. Je nach Vorlieben liegt der Fokus auf Kraft oder Tricks. Allen gemeinsam ist aber das Training mit dem eigenen Körpergewicht. Diese Videowelt ist eine globale Suche nach Bewegungsmöglichkeiten an Stangen und auf dem Boden. Die beeindruckendsten Videos stammen oft aus Kindergärten. New York und die Grossstädte der ehemaligen Sowjetunion sind die Zentren. Meine Frage nach den Göttern des Streetworkouts wurde wie folgt beantwortet:
Whatsapp-Unterhaltung der Gruppe Street Workout Dreirose. (Bild: Olivier Christe)
Frank Medrano macht es vor
Während Hannibal, Tevosyan und Co. aus ein paar Stangen ein Bewegungsuniversum erschaffen haben, treibt Medrano den Verzicht in eine zusätzliche Richtung. Er bringt das vegane Leben in die Welt des Streetworkouts. Und findet durchaus Nachahmer. So ist auch Matthias Kegelmann, einer der Turner in der Dreirosenanlage, Veganer. Auf rawvegancalisthenics.com gibt es jede Menge Tipps dazu und einen Einblick in die stark wachsende Szene der veganen Kraftsportler.
Matthias im neuen Streetworkout-Park in Kleinbasel. (Bild: Olivier Christe)
Medrano dient als Beweis, dass Muskeln und tierische Proteine nicht zwingend zusammenhängen müssen. Und der 17-jährige Ali, der Berufssoldat beim Schweizer Militär werden will, sagt: «Ich brauche nicht jeden Tag Fleisch, ich brauche kein Auto. Es ist gut für unsere Erde und auch mir schadet der Verzicht nicht.»
Ali, 17, trainiert für seinen Traum als Berufssoldat beim Schweizer Militär. (Bild: Olivier Christe)
Ali ist ein Fan von Medranos Videos.
Sinnbildlich für die Anpassung an die gegebenen Umstände ist das Pantomimenspiel der Streetworkouter. Eines der beliebtesten Motive ist das Gehen an unsichtbaren Wänden und auf unsichtbaren Böden. Man hängt sich an die Stange und tut so, als würde man in verschiedene Richtungen gehen. Die Schritte werden in der Luft ausgeführt und so ‚geht‘ man in alle Himmelsrichtungen, wobei der einzige Fixpunkt die Stange ist. Je leichter es aussieht, desto besser. Medrano macht es vor.
Durch Kreativität nutzbar machen
Die neue Anlage ist öffentlicher Raum. Dieser hat die Eigenschaft, dass er vielen Leuten dienen muss und deshalb wenig spezifisch sein kann. Dadurch und durch den freien Zugang unterscheidet er sich von Privatgrund. Diese Offenheit in der Verwendung zwingt die Nutzer, selbst Verwendungsmöglichkeiten zu entdecken. Lukas, den ich ebenfalls im Streetworkout-Park traf, beschreibt das als «mit neuen Augen durch die Stadt gehen». Seine Augen sind die des Parkour- und Freerunners. «Treppen, Wände und Mauern müssen neu interpretiert werden.» Ich werde aufmerksam. Er empfiehlt mir, mich an Colin Carter zu wenden, da er selbst erst seit kurzem Parkour betreibt und Colin mehr dazu sagen kann.
Traceure – Läufer der Stadt
Luca, 18 springt mit einem Salto über die Theaterpyramiden. (Bild: Olivier Christe)
Ein paar Tage später sitze ich mit Colin, Lukas und Luca auf dem Theaterplatz vor den Pyramiden. Dort wo vor etwa zehn Jahren die Basler Parkourszene ihren Anfang nahm. Colin, Mitglied der internationalen Gruppe Provolution, erklärt den Unterschied zwischen Parkour und Freerunning.
Während Parkour eine Anpassung militärischer Übungen auf den urbanen Raum ist und auf die effiziente Überwindung eines Hindernisses abzielt, spielt bei Freerunning der kreative Gedanke die Hauptrolle. Der Weg ist das Ziel und auf diesem darf und soll alles geschehen.
Colin selbst befindet sich irgendwo dazwischen und bezeichnet sich selbst als Traceur. Der französische Begriff stammt aus der Geburtsstunde des Parkours in der Pariser Banlieue und bezeichnet noch heute die Vertreter dieser Sportart. Jeder Traceur legt sich eine mentale Stadtkarte an, in der die realen oder potenziellen Spots eingezeichnet sind und welche ständig erweitert werden.
Und wie bei den Streetworkout-Jungs gehören zu den frei zugänglichen Räumen nicht nur die Stadt, sondern auch Youtube und die sozialen Medien. Diese beiden Räume stehen in ständigem Kontakt. Eine Strassenecke aus der mentalen Stadtkarte Basels leuchtet beim Schauen eines Videos aus Paris plötzlich vor dem inneren Auge auf: «Treffer, das gibts hier auch.» Oder umgekehrt. Meist wird dann in der Gruppe ausprobiert und an die hiesigen Umstände angepasst. Beide Räume werden dadurch neu interpretiert. Gelingt es in der realen Welt, kehrt es per Video ins Internet zurück.
Vlad Erovikov aus Russland in einem Film der internationalen Gruppe Provolution in Basel. Organisiert und gefilmt hat das Treffen Colin.
Der urbane Raum und die Gleichgesinnten
«Man geht anders durch die Stadt. Die Beziehung zu ihr verändert sich durch das Freerunning stark.» Wenn Colin nach einer Trainingseinheit mit völlig verdreckten Händen an der Tramhaltestelle steht, fühlt er sich zugehörig. Es ist der Dreck der Stadt. So meint er mit «Stadt» auch vor allem den urbanen Raum und weniger die Menschen darin.
Wenn es aber um die Leute geht, mit denen er trainiert und neue Flips und Vaults, wie Saltos und Mauersprünge genannt werden, ausprobiert, sind sie Teil davon. Während der öffentliche Raum in der Stadt begrenzt ist, scheint die Ressource Mensch unerschöpflich. Sie ist neben dem realen Raum, der Welt der sozialen Medien und Youtube die dritte Ressource, die frei verfügbar ist und aus der sorgfältig gewählt werden muss. In Nicks Worten: «Mit den richtigen Leuten macht das meiste Spass.»
Lukas nutzt ein Baugerüst vor dem Museum für Wohnkultur für einen Sprung. (Bild: Olivier Christe)
Seine Freizeit auf diese Weise in der Öffentlichkeit zu verbringen, führt aber automatisch auch zum Kontakt mit den übrigen Menschen dieses urbanen Raums. Meist ist das positiver Natur. Die Leute schauen, fragen, staunen, filmen, fotografieren und versuchen selbst etwas aus. Im öffentlichen Raum gibt es kaum Probleme aber fast genauso wenige ernsthafte Gespräche. Ein Grund ist sicherlich die Popularität von Parkour und Freerunning in Basel. Colin erklärt: «Die Stadt ist ein internationales Mekka. Viele kennen die Sportart hier vom Sehen und Hören.»
Wie ich vorhin von einem Bewegungsuniversum an Stangen gesprochen habe, stehe ich hier vor einem Gegenstück auf Spannsets. Jeder Park, jeder Platz, jeder Fixpunkt kann als Ankerstelle für eine Slackline dienen. «Mein Traum ist eine Longline über den Rhein. Die dafür nötige Konzentration, kombiniert aus Höhe, Länge und dem fliessenden Wasser unter den Füssen, muss fantastisch sein.»
Marco fügt aber gleich an, dass das aufgrund der Schiffahrt in Basel leider nicht möglich ist. Ständig aber sucht er nach Orten, an denen ähnliche Projekte realisierbar sind. «Vor einer Woche konnten wir hier auf der Kraftwerksinsel eine 80-Meter-Line zwischen zwei Bäumen spannen. Nötig dafür sind eine lange Slacklinge, Baumschutz und ein paar Schlingen zur Übertragung. Ein grossartiges Erlebnis. Geschafft hat die gesamte Strecke nur einer.»
Trendsportarten planen heisst Dialogbereitschaft
Urbane Freizeitaktivitäten wie Streetworkout, Parkour oder Slackline fasst Marc Freivogel, Jugendbeauftragter im Basler Erziehungsdepartement unter Trendsportarten zusammen. Trend heisst, dass sich in kurzer Zeit viele, meist junge Menschen, dafür begeistern und dass die Rahmenbedingungen deshalb schwer planbar sind. Er spricht von unterschiedlichen Zeithorizonten.
Während sich grössere Infrastrukturprojekte meist über Jahrzehnte ziehen, entwickeln sich Trendsportarten in sehr viel kürzeren Zeitspannen und meist ohne spezifische Infrastruktur. Planung heisst in dieser Hinsicht deshalb vor allem ständiger Dialog, da diese Sportarten statt spezifischem vor allem den öffentlichen Raum nutzen.
Weshalb jemand seine freien Stunden traditionellen Sportarten wie Fussball oder Volleyball widmet und ein anderer etwas Neues sucht, kann unterschiedliche Gründe haben. Colin spricht von ähnlichen Biografien hinter den Traceuren. Überdurchschnittlich viele hätten sich nie zugehörig gefühlt, hatten Probleme in der Schule oder waren Mobbingopfer.
Obwohl beim Slacklinen und Streetworkout dieser gemeinsame biografische Nenner weniger klar ersichtlich ist, fallen bei allen Akteuren die suchenden Augen auf. Sie durchleuchten ihre Umgebung nach ständig neuen Trainingsmöglichkeiten und Herausforderungen, die sie dann als Gruppe in Angriff nehmen.