Die Stadt wird zum Bauernhof

Eine junge Gärtnergeneration holt die Lebensmittelproduktion zurück in die Stadt.

Kein Boden zu trocken für die Visionen der Stadtgärtner. (Bild: Hans-Jörg Walter / Nils Fisch )

Eine junge Gärtnergeneration holt die Lebensmittelproduktion zurück in die Stadt.

Spargeln am Strassenrand, Lauch auf dem Flachdach – junge Stadtgärtner verwandeln jedes freie Stück Stadt in ein Gemüsebeet. Sie fordern eine Rückkehr der Lebensmittelproduktion in die städtischen Zentren und treffen damit den Nerv der Stadtbewohner. Der Ruf nach urbanem Gemüse verbreitet sich rund um die Welt: von Toronto bis Tokio, von Malmö bis Brighton. Neuerdings beschäftigt das Thema nicht mehr nur Naturromantiker – die urbane Landwirtschaft steht auch auf der Agenda der Stadtentwickler und Ernährungswissenschaftler.

Historisch betrachtet, ist das Bearbeiten von städtischem Boden mit Spitzhacke und Spaten nicht wirklich revolutionär. Zu Beginn der industriellen Revolution entstanden in ganz Europa Schrebergärten. Während des Zweiten Weltkriegs entwickelte der spätere Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen (1899–1985) den sogenannten Plan Wahlen: Stadtparks wurden umgegraben und in Kartoffeläcker und Gemüsefelder verwandelt. Während des Kriegs stieg der Selbstversorgungsgrad mit Lebensmitteln in der Schweiz von rund 50 Prozent auf über 70 Prozent.

Fischfilet vom Flachdach 

Heute kehrt die Landwirtschaft unter veränderten Vorzeichen in die Stadt zurück. Mit Schaufel und Hacke gewappnet, ziehen vornehmlich junge Stadtbewohner in den Kampf für eine begrünte und «essbare Stadt». Ursprungsort der Bewegung ist New York. In den 1970er-Jahren entstanden hier die ersten Gemeinschaftsgärten: die «urban farms». Vor einigen Jahren schwappte das neue Stadtgärtnertum nach Europa herüber.

Seit zehn Jahren boomt das Urban Farming – auch in Basel entstehen laufend neue Projekte.

Mit dem Trend haben sich auch die Anglizismen über den Atlantik hinweg verbreitet. So sind 
heute Urban Agriculture oder Urban Farming die gängigen Bezeichnungen für das moderne Stadtgärtnern.

Vor rund zehn Jahren erreichte der Trend die Schweiz. Seit der Jahrtausendwende entstehen auch hierzulande laufend neue Projekte: Restaurants, die auf dem Flachdach ihr eigenes Gemüse züchten, Stadtimker oder gemeinschaftlich betriebene Äcker in ehemaligen Gewerbe- und Industriegebieten.

Auch im Raum Basel summen Bienen und wachsen Zucchetti, wo vor kurzer Zeit noch Beton und Industrie das Bild prägten. Die Universität pflegt eigene Gemüsegärten, ebenso verschiedene Altersheime. Und auf den Tellern einer Handvoll Basler Restaurants landet seit einigen Monaten Fisch und Salat von der Dachfarm der Urban Farmers auf 
dem Dreispitzareal.

«Mit unserer Arbeit machen wir die Natur begreifbar»

Eine treibende Basler Kraft im Bereich der urbanen Landwirtschaft ist der Verein «Urban Agriculture Basel». Als Vernetzungsplattform vereint er unter seinem Dach rund 30 Projekte. Er hilft zudem bei der Lancierung von neuen Projekten und führt seit zwei Jahren den Gemeinschaftsgarten Landhof. Bastiaan Frich ist Vorstandsmitglied und Fürsprecher der lokalen Bewegung. Sein Geld verdient der 25-Jährige mit Workshops und Stadtführungen zum Thema städtische Landwirtschaft.«Unsere Projekte entsprechen einem grossen Bedürfnis», sagt Frich. «Viele Städter leiden unter der Entkoppelung von der Natur. Mit unserer Arbeit machen wir die Natur wieder begreifbar.» 

Es gehe dem Verein aber um mehr als um Natur und Harmonie. «Es erstaunt mich, dass wir immer wieder in die Öko- und Hippie-Ecke gestellt werden. Da gehören wir eigentlich nicht hin.» «Urban Agriculture Basel» entstand aus der «Sozialen Ökonomie Basel» – einer Bewegung, die sich seit 20 Jahren mit Nachhaltigkeit auseinandersetzt. «Das Thema ist für uns auch Mittel zum Zweck, um eine vielfältige Palette von Themen anzusprechen», erklärt Frich: «Integration, Bildung, Nachbarschaftsentwicklung.»

Nahrungsmittel-Souveränität ist das Ziel

Der Gemeinschaftsgarten auf dem Landhof ist das eigentliche Vorzeigeprojekt der Basler Bewegung. Die Stadtbewohner sollen durch die Arbeit im Garten wieder einen Bezug zum Lebensmittelanbau bekommen. Für den Verein «Urban Agriculture Basel» ist das aber nur ein erster Schritt. «Was wir  anstreben, ist eine Stadt, die sich teilweise selbst versorgen kann und in der die Bevölkerung darüber entscheidet, woher ihre Lebensmittel kommen», sagt Frich. 

Bis es hierzulande so weit ist, dürfte es noch eine Weile dauern. Weiter ist man in Städten wie Toronto, Malmö oder Bristol, wo sogenannte Food Councils, bestehend aus Wissenschaftlern und Verwaltungsangestellten, bereits an konkreten Lebensmittelstrategien (Food Policies) arbeiten.

Der Leiter der Basler Stadtgärtnerei zeigt Interesse an der neuen Stadtgärtnerbewegung. Ganz neu seien die Forderungen und Ideen allerdings nicht. «Zum Teil werden heute Anliegen vorgetragen, 
die ich bereits vor zwanzig Jahren hörte», sagt Emanuel Trueb. Das Bedürfnis, sich mit Früchten und Gemüse aus dem eigenen Garten zu versorgen, habe schon immer bestanden.

Die Frage von Zeit und Platz

Der Verein Urban Agriculture habe es geschafft, eine breitere Bevölkerung für das Thema Konsum und Lebensmittelproduktion zu sensibilisieren, sagt Trueb. «Das halte ich für den grössten Erfolg dieser Bewegung.» Bei der Frage der Produktivität mahnt er dagegen zur Vorsicht: «Zu glauben, man könne in Basel Lebensmittelautonomie erreichen, halte ich für eine Illusion.» Allenfalls bei Beeren, Kräutern und Obst gebe es Potenzial: «Hier lässt sich eine gewisse Produktivität erreichen.»

Essen zu produzieren braucht Zeit und Platz. Wie viel, wird vielen erst dann bewusst, wenn sie selber einen Garten anlegen, Unkraut jäten und den Boden auf der Suche nach Kartoffeln umgraben. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion bepflanzten Basler Guerilla-Gärtner im vergangenen Jahr in der ganzen Stadt Rabatten und Vorgärten mit Gemüse – in der Hoffnung, dass sich die unerwartet beschenkten Anwohner um die neuen Beete kümmern würden. Die Aktion hatte keinen langfristigen Erfolg: Inzwischen sind die meisten Beete wieder mit Gras und Unkraut überwachsen. Im St. Johann beseitigte eine Anwohnerin vergangene Woche die letzten Stauden samt Wurzeln aus dem Boden. Zu Beginn hätten sich noch einige Bewohner des benachbarten Mietshauses um den Garten gekümmert. Dann aber habe die Zeit gefehlt, um das knapp zehn Quadratmeter grosse Stück zu bewirtschaften.

Am Ende reicht es für einen Laib Brot

Auch die Betreiber des Gemeinschaftsgartens Landhof wissen um das Dilemma von Aufwand und Ertrag: Die bebaubare Fläche ist mit rund 1100 Quadratmetern einigermassen gross – der Ertrag an Gemüse würde aber nur knapp den Jahresbedarf einer dreiköpfigen Familie abdecken, erklärt Bastiaan Frich.

Die städtischen Flächen sind zu klein, um genug Nahrungsmittel herstellen zu können. 

Beim Getreideanbau sieht es nicht besser aus. «Vor zwei Jahren haben wir auf 15 Quadratmetern zum ersten Mal Getreide angepflanzt», sagt Frich. «Nachdem wir das Korn geerntet und zu Mehl verarbeitet hatten, reichte es gerade einmal für einen Laib Brot.»

Als Beispiel für effiziente Produktion eignet sich der Gemeinschaftsgarten Landhof ohnehin nur bedingt. Im Mittelpunkt des Gärtnerns steht hier nicht die Produktivität, sondern das Experimentieren und Erleben. Um zu untersuchen, wie eine möglichst produktive urbane Landwirtschaft aussehen könnte, lohnt sich ein genauerer Blick aufs Dreispitzareal – auf das Pilotprojekt der «Urban Farmers». Beim Ableger der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, steht klar die effiziente Produktion im Mittelpunkt. In absehbarer Zeit sollen auf der 250 Quadratmeter grossen Dachfarm jährlich fünf Tonnen Salat und Gemüse sowie 800 Kilogramm Fisch produziert werden.

Basler Farmer ganz vorne mit dabei

Rund 800 000 Franken haben die Jungunternehmer in die weltweit erste kommerzielle Flachdach-Aquaponic-Anlage investiert. Unterstützung in der Höhe von 250 000 Franken kam von der Christoph Merian Stiftung und dem Kanton Basel-Stadt. Die Farm startete ihren Betrieb im Januar und hat für ihre Produkte bereits mehrere Abnehmer gefunden – etwa das benachbarte Restaurant Schmatz oder das Restaurant Schifferhaus in Kleinhüningen. Roger Willimann, der Betreiber des Schifferhauses, ist des Lobes voll für die Tilapia-Fische vom Dreispitz. «Ich finde diese Produktion ökologisch sinnvoll. Ausserdem kommen die Fische so frisch bei mir an wie sonst kaum.» Auch die Gäste hätten Gefallen an dem Angebot gefunden.

Gehalten werden die Fische in Plastiktanks, die Tomaten wachsen ganz ohne Erde direkt im Wasser. Das mag bei manchen Städtern für Stirnrunzeln sorgen, gehen doch viele noch immer davon aus, dass das Gemüse vom Acker und die Fische aus dem Meer kommen. «Bei anderen Zuchtfischen sieht die Haltung nicht anders aus», sagt Schifferhaus-Wirt Willimann. «Vielfach leben die Fische auf noch engerem Raum als in den Tanks der Basler Dachfarm.»  

Der Begriff der Zukunft heisst «Vertical Farming»

Ausgiebig über Gewächshaussysteme nachgedacht hat Dickson Despommier, Professor für Umweltgesundheit an der New Yorker Columbia University. Gemeinsam mit seinen Studenten etablierte er vor einigen Jahren den Begriff der Vertical Farms: Hochhäuser aus Glas, in denen energiesparend und effizient Lebensmittel produziert werden können. Geht es nach Despommier, soll künftig ein Grossteil der Lebensmittel in städtischen Gewächshaustürmen angebaut werden.

Despommiers Konzept sorgte weltweit für Schlagzeilen, erste Umsetzungsversuche sind gestartet. Anfang April nahm in einem Vorort von Chicago die bisher grösste Vertical Farm mit einer Gesamtfläche von rund 13 000 Quadratmetern ihren Betrieb auf.

Künftig soll ein Grossteil des Gemüses in Gewächshaustürmen heranwachsen. 

Weitere Hochhausfarmen existieren in Kanada und Japan. Die Ziele Despommiers ähneln jenen des Vereins Urban Agriculture Basel. «Nachhaltigkeit» heisst der grosse gemeinsame Nenner: Mit dem Vertical Farming will Despommier den «Klimawandel abbremsen, den Einsatz chemischer Düngemittel unnötig machen und den landwirtschaftlichen Wasserverbrauch minimieren».

Geforscht wird auch in der Schweiz

Nicht nur jenseits des Atlantiks ist die urbane Landwirtschaft auf der wissenschaftlicher Ebene angekommen. Auch in der Schweiz wird auf Hochtouren geforscht. So beschäftigt sich etwa das Institut für Biologische Landwirtschaft in Frick schon seit einigen Jahren mit dem Thema. Und neuerdings befasst sich unter dem Titel «Urbane Qualität» auch ein Nationales Forschungsprogramm (NFP 65) mit der urbanen Landwirtschaft. Projektziele sind unteranderem die «Steigerung der urbanen Lebensmittelproduktion» sowie die  «Integration der urbanen Landwirtschaftsprojekte in den Verdichtungsprozess». Erste Ergebnisse sind bis Mitte dieses Jahres zu erwarten.

Seit drei Jahren steht das Thema auch auf der Agenda des Basler Stadtentwicklers Thomas Kessler. Die urbane Landwirtschaft sei aus stadtentwicklerischer Sicht von grossem Interesse, sagt Kessler. «Uns überzeugen die sozialen und integrativen Aspekte. Auch die Innovationskraft hinter den Projekten gefällt mir.» Doch Kessler warnt vor zu grossen Hoffnungen. Das Kantonsgebiet sei zu klein, um ganz Basel mit Früchten und Gemüse versorgen zu können. Setze man sich ernsthaft mit städtischer Selbstversorgung auseinander, dann müsse man in grösseren Räumen denken. «Der Bodenbedarf für eine Selbstversorgung Basels zum Beispiel entspräche etwa der Fläche der Nordwestschweiz.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 03.05.13

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