Die Trottel-Kampagne

Seit Tagen schleift der «Blick» einen jungen Mann durch die Zeitung, der beim Entzünden eines Knallkörpers drei Finger verloren hat. Je länger die Berichterstattung zum «Petarden-Trottel» andauert, desto lauter wird die Kritik daran. Inzwischen ist beim Presserat Beschwerde eingereicht worden, und in Zürich haben Unbekannte eine Hetzkampagne gegen Ringier-Mitarbeiter gestartet.

Schlagzeile aus dem «Blick». (Bild: tw)

Seit Tagen schleift der «Blick» einen jungen Mann durch die Zeitung, der beim Entzünden eines Knallkörpers drei Finger verloren hat. Je länger die Berichterstattung zum «Petarden-Trottel» andauert, desto lauter wird die Kritik daran. Die Kampagne des «Blick» sei bedenklich, sagt etwa Esther Diener-Morscher, Vizepräsidentin des Presserats. Inzwischen ist auch eine Beschwerde an den Presserat eingegangen.

Dies ist die Geschichte des «Petarden-Trottels». Eines jungen Mannes aus einer Zürcher Vorortgemeinde mit einer Vorliebe für den FC Zürich. Beim Auswärtsspiels seines Vereins in Rom zündete der Mann einen Knallkörper; dieser explodierte in seiner Hand, riss ihm drei Finger weg und verletzte auch umstehende Fans. Die italienische Polizei ermittelt gegen ihn, er hat ein dreijähriges Stadionverbot in Italien erhalten und wird wohl auch noch in der Schweiz juristisch belangt werden.

Hier hört die Geschichte auf.

Für den «Blick» fängt sie erst an. Am Montag titelt das Boulevard-Blatt: «Entlarvt! Das ist der Petarden-Trottel». Der junge Mann hat anscheinend eine Vorliebe für einen gewissen Joghurtdrink und streckt auf einem Bild drei Finger in die Kamera. «Blick» schreibt darunter: «Kein aktuelles Bild: Da hatte XXX noch alle Finger.» Am Dienstag besucht «Blick» den Arbeitgeber («Er arbeitet beim Film»), am Mittwoch die Eltern («Sein Vater ist Schul-Psychologe»), am Donnerstag erfahren wir, dass seine Zukunft wohl tatsächlich ruiniert ist («Er kriegt keine IV!»).

Inzwischen haben Unbekannte in Zürich mit hetzerischen Plakaten und bedrohlichen Aktionen angefangen gegen fünf Mitarbeiter des Ringier-Konzerns Stimmung zu machen. Das Verlagshaus hat Strafanzeige eingereicht.

Der Boulevard-Pranger

Warum wir das alles wissen müssen? Felix Bingesser, Sport-Chef beim «Blick» erklärte sich am Montag im Talk von «Tele Züri». Er sagte: «Man muss diese Leute an den Pranger stellen.» Gegenüber der TagesWoche bekräftigt Bingesser diese Haltung. «Die Anonymität der Fan-Szene ist ein grosses Problem. Wenn wir die Fans aus der Anonymität herausziehen, schaffen wir eine Öffentlichkeit, die abschreckend wirken kann.» Es sei der Auftrag der Medien, den Finger auf wunde Stellen zu legen – und das gelte nicht nur für den Sport.

Dieses Medien-Selbstverständnis von Bingesser wird allerdings nicht von allen geteilt. Vor allem im Internet, via Twitter und in diversen Blogs, wird teils harsche Kritik an der «Blick»-Kampagne geübt. Ein «Fall für den Presserat?» fragt sich Blogger Philippe Wampfler und erhält dafür in den Kommentaren viel Zustimmung. Daniel Ryser verurteilt in seinem Blog «Nation of Swine» die «Hetze» gegen den FCZ-Fan und veröffentlicht am Donnerstag ein Interview mit Peer Teuwsen, Chef des Schweizer-Büros der «Zeit», für den die Kampagne des «Blick» nicht weniger als ein Skandal ist: «Es wäre die Aufgabe des Journalismus, zu beruhigen. Nicht zu dramatisieren. Das Gegenteil passiert. Gewisse Journalisten verlieren jegliches Mass.»

Funktionen vermischt

Nicht nur unter Journalisten, auch in der Fan-Szene und der Fan-Arbeit wird die Berichterstattung als stossend empfunden. Thomas Gander, langjähriger Fan-Arbeiter des FC Basel hält es für fragwürdig, den Zürcher Fan auf diese Weise sozial zu ächten: «Hier hört für mich jede Verhältnismässigkeit auf.» Es sei nicht Aufgabe eines Mediums, die Funktion der Justiz zu übernehmen. Gleich argumentiert auch die Vize-Präsidentin des Presserats, Esther Diener-Morscher. Sie sagt der TagesWoche: «Die Pranger-Funktion des Blick halte ich für bedenklich. Für die Bestrafung dieses Mannes ist das Gericht zuständig, die Zusatzstrafe durch die Medien ist unnötig.» Diener-Morscher drückt ihre persönliche Haltung aus, kann sich aber gut vorstellen, dass ihre Kollegen im Presserat ähnlich denken. Die Probe aufs Exempel folgt schon bald: Am Donnerstagabend hat Philippe Wampfler eine Beschwerde an den Presserat eingereicht.

Weniger Mühe mit der Berichterstattung des «Blick» hat Peter Studer, ehemaliger Präsident des Presserats. Solange der junge Mann und dessen Angehörige nicht identifiziert werden können, sei die Berichterstattung medienrechtlich wohl unbedenklich. Auch die Bezeichnung «Petarden-Trottel» hält Studer als Ausdruck der Meinungsäusserungsfreiheit für rechtens: «Nach der Lektüre muss ich sagen: Der ungenannte junge Mann ist in der Tat ein Trottel.»

Quellen

Die Kampagne des Blicks am Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag.

Peer Teuwsen im Interview von «Nation of Swine».

Daniel Ryser über die «Hetze».

Philippe Wampfler fragt sich, ob die Kampagne ein Fall für den Presserat wäre.

Die Berichterstattung der NZZ zum Vorfall in Rom.

TalkTäglich auf «Tele Züri» mit Felix Bingesser, Blick-Sportchef, und dem Zürcher Stadtrat Gerold Lauber.

Die Diskussion auf Twitter.

Die Beschwerde an den Presserat von Philippe Wampfler.

bericht über die anonymen Hetzaktionen gegen Ringier-Mitarbeiter

Artikelgeschichte

Update Freitag, 11.11.2011: Text nach der Einreichung einer Beschwerde an den Presserat von Philippe Wampfler überarbeitet.

Update, Samstag, 12.11.2011: Newsnetz meldet, dass in Zürich mit öffentlichen Hetzaktionen Stimmung gegen Ringier-Mitarbeiter gemacht wird. Absatz mit Link in den Text eingefügt.

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