Psychische Erkrankungen nehmen zu. Davor sind auch Eltern nicht geschützt. Die betroffenen Erwachsenen erhalten Hilfe, doch wer unterstützt eigentlich ihre Kinder? Die Organisation Help! For Families sucht Patinnen und Paten für Kinder psychisch kranker Eltern.
Mami liegt tagelang im Bett, es fällt ihr schwer aufzustehen und sie ist oft bedrückt. Manchmal muss sie für längere Zeit «in die Klinik». Dann wohnen Murat* und seine ältere Schwester beim getrennt lebenden Vater. Der arbeitet Schicht und hat wenig Zeit, sich zu kümmern. Murat versteht nicht, warum es seiner Mutter häufig so schlecht geht. Manchmal denkt er, dass er vielleicht schuld sei. Er traut sich aber nicht zu fragen oder mit jemandem darüber zu reden.
So wie Murat geht es vielen Kindern von psychisch erkrankten Müttern oder Vätern. In der Schweiz sind schätzungsweise 50’000, im Raum Basel etwa 3000 Kinder betroffen. Die Dunkelziffer ist hoch. Genaue Zahlen existieren nicht, da diese Kinder lange nicht im Fokus standen.
«Das liegt einfach daran, dass die Kinder meist unauffällig sind und erst dann Unterstützung erhalten, wenn sie selber psychische Probleme bekommen», erklärt Franza Flechl vom Basler Verein Help! For Families. «Dabei wäre es so wichtig, die Kinder schon früh zu stärken und ihre gesunde Entwicklung ergänzend zum Engagement der Eltern zu fördern.» Diese Kinder erkrankten zwar nicht zwangsläufig selbst, aber die Wahrscheinlichkeit, eine psychische Störung zu entwickeln, sei bei ihnen erhöht, das zeige die Forschung.
In Basel forscht Daniel Sollberger, Leiter des Zentrums spezielle Psychotherapie der UPK, auf dem Gebiet der erwachsenen Nachkommen psychisch kranker Eltern. Er weist darauf hin, dass Halt gebende Beziehungen zu Vertrauenspersonen betroffenen Kindern helfen können. Es falle ihnen dadurch leichter, die Belastungen in der Kindheit zu bewältigen. Hier setzt das Projekt «Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern» an. Ausserhalb der Ursprungsfamilien sollen Paten zu Bezugspersonen werden, die die Kinder zusätzlich stärken und fördern.
Pionierprojekt in der Schweiz
«Es geht nicht darum, die Kinder zu therapieren oder die Eltern zu ersetzen», erklärt Projektleiterin Franza Flechl, «sondern sie am Lebensalltag der Paten teilhaben zu lassen und ihnen unbeschwerte Zeit zu schenken.» Die Paten konzentrierten sich mit ihrem Engagement nur auf das Kind. Betroffene Elternteile müssten in ein eigenes Helfernetz eingebunden sein, dies sei Voraussetzung für die Teilnahme am Projekt.
Diese Form der Patenschaften gibt es schweizweit noch nicht. In Deutschland werden seit zehn Jahren ähnliche Projekte erfolgreich durchgeführt. «Psychisch kranke Eltern kümmern sich zum Teil genauso liebevoll und engagiert um ihre Kinder wie gesunde Eltern», sagt Projektleiterin Flechl, «sie sind aber durch psychische Erkrankungen wie etwa Depressionen oder Ängste phasenweise stark belastet und kommen deshalb teilweise an ihre Grenzen.»
Mit den Kindern werde selten über die Erkrankung gesprochen, meist wegen eigener Überforderung. Aus Scham und Loyalitätsgründen sei es häufig ein Tabu, gegenüber der Gesellschaft offen mit den Problemen umzugehen. Die Kinder merkten, dass etwas in der Familie nicht so sei wie bei anderen, könnten sich aber das Verhalten der Mütter oder Väter wie «häufiges Weinen», «Angstattacken» oder «Stimmen hören» nicht erklären. Oft übernähmen sie sehr früh Verantwortung für die Eltern und Geschwister. Zudem fragten sie sich, ob sie schuld seien.
«Ein grosses Problem besteht auch darin, dass die Familien meist wenig soziale Kontakte haben», erklärt Franza Flechl. «Es fehlen Entlastungsmöglichkeiten durch Angehörige oder Freunde. Unter den Betroffenen befinden sich auch viele Alleinerziehende.»
Bei Murats Familie verhält es sich ähnlich. Die Eltern mussten vor zwölf Jahren aus dem Irak fliehen und haben in der Schweiz keine Verwandten. Die Familie hat sich zwar integriert und fühlt sich wohl, aber durch die Trennung der Eltern und den Umzug der Mutter mit den Kindern bestehen wenig Kontakte zu Nachbarn oder Familien von Schulkameraden.
Murat besucht eine Tagesschule ausserhalb des Wohnortes, seine Mitschüler kommen teilweise auch von weiter her. So ist es schwierig, sich am Abend oder den Wochenenden zum Spielen zu treffen.
Seit zwei Monaten besucht Murat nun regelmässig die Patenfamilie Wagner* aus Basel, die zwei eigene Kinder hat. Vater Wagner ist Arzt und hat hauptsächlich an den Wochenenden Zeit für die eigene Familie. Er unterstützt aber das Engagement seiner Frau für das Projekt. «Wir möchten etwas zurückgeben und uns sozial einbringen», sagt Mutter Maria Wagner. Sie las in der Quartierzeitung über das Projekt und meldete sich bei Help!.
Voneinander profitieren
Nach Informationsabend, Einzelgespräch und einem Hausbesuch brachte Franza Flechl Familie Wagner mit Murat und seiner Mutter zusammen. Die Sympathie war gleich auf beiden Seiten gegeben. Seither fährt Murat freitagnachmittags selbstständig mit dem Tram zu seiner Patenfamilie und verbringt dort vier Stunden. Darüber freuen sich auch die Kinder der Wagners, Laura und Stefan, die sieben und zehn Jahre alt sind.
«Die Kinder haben sich von Anfang an super verstanden», berichtet Maria Wagner, «meist spielen sie miteinander, etwa Verstecken, oder wir machen gemeinsam Brettspiele. Wir haben Murat auch schon zur Museumsnacht und zur Fasnacht mitgenommen, das hat ihm sehr gut gefallen.»
Auch Murats Mutter stellt fest, dass ihrem Sohn die Besuche bei der Patenfamilie gut tun: «Er geht gerne zur Familie Wagner, das merke ich, er kann dort sicher viel lernen.» Die Möglichkeit, gegenseitig voneinander zu profitieren, sieht auch Patin Maria Wagner: «Auch meine Kinder lernen dazu, Murat hat zum Beispiel ganz tolle Tischmanieren und ist hier ein gutes Vorbild für meine beiden, die das schon mal nicht so genau nehmen beim Essen. Meine Kinder lernen durch das Projekt aber auch, dass man sich in einer Gesellschaft füreinander einsetzen sollte.»
Ansprechpartnerin für beide Mütter ist Franza Flechl, die bei Fragen oder Problemen berät und regelmässigen Austausch organisiert. «Unser Projekt wird wissenschaftlich von der Hochschule für Soziale Arbeit begleitet und evaluiert», erklärt die Projektleiterin. «Die Ergebnisse werden sicher dazu beitragen, das Verständnis und die Unterstützung für Kinder psychisch kranker Eltern zu verbessern.»
*Namen der Redaktion bekannt
Paten gesucht
Help! For Families sucht Paten für Kinder psychisch kranker Eltern: Paare, Singles, Familien, Grosseltern mit Erfahrung im Umgang mit Kindern. Sie bringen folgende Voraussetzungen mit:
> Ausgeglichene Persönlichkeit mit viel Lebensfreude
> stabile Lebens- und Wohnsituation
> Lust, ehrenamtlich wöchentlich einen halben Tag und ein Wochenende im Monat unbeschwerte Zeit mit dem Patenkind zu
verbringen
> Interesse an regelmässigem Austausch mit Franza Flechl
> Bereitschaft für eine längerfristige Patenschaft.
Ansprechpartnerin für betroffene Eltern und für Pateninteressierte:
Franza Flechl, Telefon 061 386 92 18, www.help-for-families.ch
Nächste unverbindliche Informationsabende für interessierte Paten:
19. März und 29. April, jeweils um 18 Uhr, Clarastrasse 6, Basel.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.03.13