Die WG hat sich etabliert

In ihren Anfängen war die WG ein politisches Statement. Heute ist sie ein Wohnmodell für bestimmte Lebensphasen. Aber eines, das unbedingt Platz haben muss, sagt zum Beispiel Stadtentwickler Thomas Kessler.

Verschiedene Lebensmodelle verlangen nach verschiedenen Wohnformen. (Bild: Livio Marc Stöckli)

In ihren Anfängen war die WG ein politisches Statement. Heute ist sie ein Wohnmodell für bestimmte Lebensphasen. Aber eines, das unbedingt Platz haben muss, sagt zum Beispiel Stadtentwickler Thomas Kessler.

Die 1967 aus der Studentenbewegung heraus gegründete Berliner «Kommune 1», die immer wieder mit provokativen Aktionen für Schlagzeilen sorgte, danach aber vor allem wegen der Vorzeigehippies Rainer Langhans und Uschi Obermaier berühmt wurde, war für viele der damals jungen Schweizerinnen und Schweizer ein Vorbild. Ebenso die dänischen «Christianniten», die 1971 ein 34 Hektaren grosses Areal in Kopenhagens Innenstadt besetzten und zur selbstverwalteten Freistadt erklärten.

Die Kleinfamilie, gemäss Kommune 1 die «kleinste Zelle des Staates, aus deren unterdrückerischem Charakter sich alle Institutionen ­ableiten», galt es zu zerschlagen. Mit einem alternativen Wohn­modell, einer Wohngemeinschaft, kurz WG oder auch Kommune genannt. Teilen statt besitzen, lautete das Motto für alle Lebens­­lagen – das Streben nach Materiellem war ebenso verpönt wie Besitzansprüche im Bereich der ­Beziehungen.

Es galt, die Kleinfamilie, die kleinste Zelle des unterdrückerischen Staates, zu zerschlagen.

Es waren wie im Ausland auch in den Schweizer Städten mehrheitlich Studenten, die sich Ende der Sechzigerjahre zu WGs zusammenschlossen. Gemäss dem Historiker Thomas Stahel, der mit einem Nachschlagwerk zu der wohnpolitischen Situation in Zürich nach 1968 dissertierte («Wo-Wo-Wonige!»), gab es 1972 eine Untersuchung über die sogenannten Kommunen in der Schweiz.

Darin kam der Autor der Studie jedoch zum Schluss, dass es beim kollektiven Wohnen «von Anfang an sehr verschiedene Motivationen und regional grosse Unterschiede» gegeben habe. Gemeinsam war allen – ob Polit- oder Hippiekommune – die Kritik an der Kleinfamilie. Und: Die meisten WG-Bewohner stammten aus der Mittelschicht, respektive aus dem städtischen Gross- und Kleinbürgertum.

Besonders dieser ­Jugend, die den Krieg nicht mehr erlebt hatte und das grosse Sicherheitsbedürfnis der älteren Generation deshalb auch nicht kannte, seien das Wohnkollektiv und alternative Lebensformen attraktiv erschienen, zitiert Stahel aus der Studie. Umso weniger jedoch das Leben ihrer Eltern, die der Vermehrung ihres Wohlstands alles unterord­neten, will heissen, die für eine immer noch ­modernere Küche und ein noch grösseres Auto täglich neun Stunden malochten und dabei ­immer freudloser wirkten.

Nein, dieses Leben war für die damalige Jugend nicht erstrebenswert, und das brachte sie auch deutlich zum Ausdruck. Je nach Zuneigung stand der «Kampf gegen das kapitalistische System» bei den einen oder das Praktizieren der «freien Liebe» und Experimentieren mit Drogen bei den anderen im Vordergrund. Logisch, dass diese Kommunen mit grossem Argwohn beobachtet wurden. Erst recht auf dem Lande, wo sich ­Anfang der 1970er-Jahre gerne Hippies aus der Stadt niederliessen, weil sie dort die Möglichkeit sahen, ein entschleunigtes Leben zu leben.

Drogenpartys und Gruppensex!

Eine heute 58-jährige Frau aus dem Glarnerland erinnert sich, wie das ganze Tal über die langhaarigen Zürcher geredet hat, die sich in einem Dorf in einem kleinen Bauernhaus eingemietet hatten. Da fänden Drogenpartys statt, habe man gemunkelt, und Gruppensex! Nicht wenige der Einheimischen seien der Meinung gewesen, dass man dieses Pack zum Teufel jagen sollte. Es war nicht nötig. Nach etwa zwei Jahren seien sie von selbst wieder gegangen. Zurück nach Zürich, wahrscheinlich habe ihnen das Landleben doch nicht so zugesagt, meint die Frau.

Und so, wie diese Hippies dem Land den Rücken kehrten, verabschiedeten sich im Laufe der Zeit viele aus dem WG-Leben. Mit dem Älterwerden rutschten die einstigen Rebellen immer mehr in das, was sie so vehement abgelehnt hatten: in den bürgerlichen Alltag. Im Beruf weiterzukommen, Karriere zu machen und gutes Geld zu verdienen hiess plötzlich Selbstverwirklichung. Die Sache mit der freien Liebe, hatte sich herausgestellt, war in der Praxis auch nicht so einfach – die verdammte Eifersucht war einfach nicht kleinzukriegen.

So hatte man sich halt doch irgendwann in der Zweierkiste eingerichtet und eventuell auch eine Familie gegründet. Und mit den Kinderlein und dem guten Verdienst wuchs der Wunsch nach einer eigenen Wohnung, nach einem ordentlichen selbstbestimmten Leben – ohne Ämtliplan und die Auseinandersetzungen, weil ein WG-Mitglied sich nie daran hält. Auch Kiffen und Saufgelage lagen nicht mehr drin: Für die Arbeit brauchte es einen klaren Kopf, und dem Nachwuchs sollte man Vorbild sein.

Die Sache mit der WG war gut gewesen, aber vorbei, eine Phase im Leben. Selbstverständlich gibt es keine Regel ohne Ausnahme, es gibt unter den älteren Herrschaften ein paar, die der Vision des kollektiven Wohnens (und Arbeitens) treu geblieben sind. Aber sie sind eine kleine Minderheit.

Kein Schreckgespenst mehr

Dennoch hat die WG als Wohnform überlebt, ­sogar mehr als das: Heute ist die WG kein Schreckgespenst des Bürgertums mehr, sondern ein fest etabliertes Wohnmodell, oft eine reine Zweck­gemeinschaft. Für Studenten und andere junge Leute in Ausbildung ist es praktisch die einzige, weil günstigste Möglichkeit, von zu Hause auszuziehen. So finden sich in den Städten und ihren Agglomerationen unzählige Studenten-WGs. Aber auch gut verdienende Singles tun sich zuweilen zusammen, um sich so beispielsweise eine ­Jugendstilvilla oder eine grosszügige Neubauwohnung leisten zu können. Ebenso gibt es manche Senioren, die sich, um nicht allein wohnen zu müssen, zu einer WG zusammenschliessen.

«Tatsache ist», sagt Thomas Kessler, der Stadtentwickler des Kantons Basel-Stadt, «dass wir in einer multioptionalen Gesellschaft leben – wir haben die verschiedensten Lebensmodelle, und dementsprechend braucht es verschiedene Wohnformen.» Der Diskurs über das Wohnen müsse deshalb unbedingt offener werden, nicht die Leerstandsziffern seien das Problem – «Basel ist gebaut für 250 000 Menschen, aktuell leben 193 000 hier» –, sondern der parallel zum gewachsenen Wohlstand stetig gestiegene Raumbedarf. Der Wohnraumkonsum in Basel sei inzwischen bei 43 Quadratmetern pro Person, so Kessler. «Heute leisten sich manche Paare je eine eigene Wohnung, die Hälfte aller Wohnungen in Basel ist von einer Person belegt.»

Hier müsse man ansetzen, «indem wir den Schritt von der Maximal- hin zur Optimierungskultur machen». Das bedeute nicht, die Ansprüche zu senken, sondern die Optionen zu nutzen. Und hier kommt das kollektive Wohnen wieder ins Spiel: Selbstverständlich, sagt Kessler, sei das nicht ein für alle praktikables Wohnmodell, aber ein wichtiges. «Wenn nur zehn oder zwanzig Prozent der Bevölkerung, und sei es nur während einer bestimmten Lebensphase, das Modell WG oder Hausgemeinschaft wählen, bringt das schon viel an Ressourceneinsparungen.»

Damit das auch für den Mittelstand attraktiv sei, müsse man entsprechend bauen. Kessler schwört dabei auf sogenannte Clusterwohnungen, Wohnungen, die flexibel den momentanen Bedürfnissen der Bewohner angepasst werden können, «diese Architektur ist zukunftsweisend, aber in Basel noch nicht ganz angekommen».

Zürich machts vor

Basel hat diesbezüglich tatsächlich Nachholbedarf. Es gibt zwar ein paar Siedlungen, die nach dem Prinzip der Hausgemeinschaft organisiert sind wie etwa die der Davidsboden-Genossenschaft, und offen ist noch, welche Wohnformen beim Projekt «Stadterle» der Genossenschaft Zimmerfrei entstehen, aber führend ist einmal mehr Zürich. Mit Karthago und Kraftwerk, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen, hat es dort schon seit Jahren extra für Gross-WGs gebaute Wohnungen inklusive weiterer Modelle für kollektives Wohnen. Derzeit baut die Genossenschaft Kalkbreite eine Siedlung, in der Wohnen – auch dank Clusterwohnungen – in den verschiedensten Formen sowie Gewerbe und Kultur Platz haben sollen.

Die erste Clusterwohnung in der Zürcher City wurde 2011 bezogen, entworfen wurde sie vom Zürcher Architekturbüro Vera Gloor AG. Die heutige ­Bevölkerungsstruktur mit Einzelhaushalten und Patchwork-Familien, sowie die Nutzungsüberlagerung von Wohnen und Arbeiten verlange nach Grundriss-Strukturen, die vielseitig und lang­fristig mit verschiedenen Wohnkonzepten ­bespielt werden können, erklärt Nadja Zürcher, Architektin und Mitglied der Geschäftleitung der Vera Gloor AG, den Sinn und Zweck der Clusterwohnungen. So würden die Synergien von ­Bedürfnissen genutzt und werde bezahlbarer Wohnraum geschaffen. Denn: Der Bau verteure sich beim Modell von Clusterwohnungen nicht. «Jeder Individualraum wird zwar mit einer eigenen Nasszelle ausgestattet, dafür gibt es lediglich eine Gemeinschaftsküche.»

«Man kann nicht die Welt retten, wenn man nicht in der Lage ist, Geschirr abzuwaschen.»

Von der «WG für Individualisten», wie der «Tages-Anzeiger» über die Clusterwohnung schrieb, zur klassischen WG. Denn auch die gibt es noch, nicht mehr so ideologisch gefärbt wie in den ­Anfangszeiten der Kommune, aber immer noch als Gemeinschaft, die sich Küche und Bad teilt. Zum Beispiel beim Wettsteinplatz: die «Grenzi 3», die älteste WG Basels. Vor 39 Jahren zogen die ersten Leute in die Altliegenschaft ein, die bis heute dem Kanton gehört. Seither war dort das Daheim von vielen Frauen und Männern, zwischendurch auch von ein paar Kindern. Und auch wenn keiner der ersten Bewohner mehr dort lebt und die alte Küche inzwischen durch eine neue ersetzt wurde, ist vieles beim Alten geblieben.

Noch immer wird mit Holz geheizt, und noch immer wird die Gemeinschaft gross geschrieben. Das «Miteinander und Füreinander», wie die 31-jährige Carolin Kolb sagt, die seit sieben Jahren dort wohnt. Noch immer muss sich jemand, der sich für ein frei gewordenes Zimmer bewirbt, einem «Verhör» durch die versammelten WG-Mitglieder stellen. «Wir sind acht Menschen, acht verschiedene Charaktere, und damit das Zusammenleben funktioniert, braucht es Toleranz und Verantwortlichkeit», sagt sie.

Übrigens wohnte auch Stadtentwickler Thomas Kessler etwa zehn Jahre in der «Grenzi 3». Es sei von A bis Z eine tolle Zeit gewesen, sagt er. Die Erkenntnis, die er aus dem «Erleben und Erforschen einer Wohngemeinschaft» gewonnen habe, sei die, dass Grosszügigkeit nur in Verbindung mit Genauigkeit im Kleinen funktioniere. Oder, etwas konkreter: «Man kann nicht die Welt retten, wenn man nicht in der Lage ist, Geschirr abzuwaschen.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 16.08.13

Nächster Artikel