Wie viele Stunden haben wir uns schon im Bett gewälzt: Sogenannte ASMR-Videos versprechen jetzt ein rasches Einschlafen. Nach eingehender Recherche lässt sich sagen: Die Clips sind höchst merkwürdig – helfen aber trotzdem.
Erinnern Sie sich noch an das neonfarbene Brausepulver, das – auf die Zunge gestreut – für ein sensationelles Prickeln zwischen den Ohren sorgt? Ein ähnliches Gefühl können sogenannte ASMR-Videos auslösen, die YouTube zur Zeit fluten. Nur verfügen sie über ein kleines, aber immens wichtiges Extra: Sie schläfern den Zuschauer ein – und dies auf die banalste Art und Weise.
Und das geht so: Die Videos präsentieren meist eine hübsche junge Frau als Protagonistin, die uns direkt anspricht oder eher anflüstert: Mit sanfter Stimme haucht sie kaum hörbare Sätze in ihr Mikrofon. Was sie sagt, ist dabei nicht von besonderer Bedeutung, sondern vielmehr, wie sie es sagt.
Es geht um die Beschaffenheit ihrer Stimme, um die kleinen Schmatzlaute zwischen den Worten. Wenn sie uns von ihrem Tag erzählt, in einem (ehrlich gesagt: sehr seltsamen) Rollenspiel die Schulkrankenschwester mimt (siehe Video) oder uns (also der Kamera) sanft um den Kopf streichelt, zählt nur eines: der Klang.
Dieses sinnliche Erlebnis wurde erstmals 2010 in einer Facebook-Gruppe als «Autonomous Sensory Meridian Response», kurz ASMR, bezeichnet. Das klingt kryptisch, meint aber einfach eine körperliche Reaktion, hervorgerufen durch akustische und zum Teil auch visuelle Stimuli. Diese sorgen für ein Kitzeln oder Prickeln, das von den Ohren ausgehend Richtung Kopfhaut, Nacken und Rückgrat wandert und so ein wohliges körperliches Gefühl auslöst.
Dafür verantwortlich ist die leise Stimme und auch ein Arsenal an Requisiten, derer sich die Flüsternden bedienen. Das Spektrum dieser Trigger, wie sie unter ASMR-Anhängern genannt werden, reicht dabei vom Haare-Bürsten bis hin zum Seifen-Schnitzen. Der Grat zur Absurdität ist dabei ein schmaler, und wenn – zur Abwechslung – ein spärlich behaarter Typ vor der Kamera mit seinen Händen herumfuchtelt (siehe Video), können wir uns das Lachen fast nicht verkneifen.
Scrollt man runter zu den Kommentaren, liest man aber weniger von der Belustigung als vielmehr von der Entspannung, die diese Videos bringen. Und so stellt man sich die grosse Frage: Was zum Teufel machen diese Videos mit uns?
Ganz so genau weiss das niemand. 2007 wurde das Phänomen erstmals beschrieben: In verschiedenen Foren sprachen Menschen darüber, wie sich bei ihnen in ganz seltenen Momenten eine angenehme, lang anhaltende Gänsehaut breitmachte – beispielsweise, wenn die Mutter ihnen als Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas. Erste Videos entstanden, und dank YouTube und Plattformen wie Reddit wurden immer mehr internetaffine Individuen von dem sedierenden Kribbeln erfasst.
Millionen von Menschen geniessen diese Filmchen.
Nach «Trypophobia», der instinktiven Angst vor durchlöcherten Gegenständen, die im Internet das Ausmass einer Pandemie anzunehmen schien, nun also ASMR. Beide Kuriositäten ergriffen die Netzgemeinschaft im Sturm. Und diese wollte natürlich wissen, was da mit ihr geschah.
Doch auch die Fachwelt weiss bis jetzt keine Antwort. Neurologen und Psychologen haben zwar ihre Thesen aufgestellt – so wird beispielsweise vermutet, dass eine spezielle, synthetische Intimität zwischen Zuhörer und Flüsterer entstehe –, tiefer gehende Studien mit genauen Resultaten gibt es jedoch noch keine. Spannend an ASMR ist ausserdem, dass nicht alle Menschen gleich reagieren: Während die einen friedlich dabei eindösen, sind die hervorgehobenen Laute für andere eine Qual – im Fachjargon Misophonie genannt, ein unbändiger Hass auf bestimmte Geräusche.
Wirft man einen Blick auf die Klick-Zahlen der Videos, wird aber klar: Millionen von Menschen geniessen diese Filmchen. Und so können wir nur erahnen, was sie für viele Menschen so unbegreiflich anziehend macht. Intimität in Zeiten fortschreitender zwischenmenschlicher Entfremdung ist – auch wenn nur vorgespielt – sicherlich ein Faktor. Klickt man sich durch einige Videos, findet man auch ASMRler, die ganz explizit auf der Sex-Schiene fahren (siehe Video).
Eigentlich aber spielt das alles keine Rolle. Denn so merkwürdig und sexuell aufgeladen die Videos auch scheinen: Sie helfen. Und wenn uns das Klopfen auf einen Bucheinband in andere Sphären befördert, dann befördert uns eben das Klopfen auf einen Bucheinband in andere Sphären. Dort bekommen wir die Peinlichkeiten in den Videos ja sowieso nicht mehr mit.
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